Bunte Magazin

SEIT DER ENTFÜHRUNG KANN MICH NICHTS MEHR ERSCHÜTTER­N

Gemeinsam mit seinen Cousinen Susanne und Sabine Kronzucker wurde Martin Wächtler von sardischen Erpressern gekidnappt. In BUNTE erinnert er sich an das Drama

- Tanja May

Sogar Papst Johannes Paul II. appelliert­e im Sommer 1980 an die Entführer von Susanne, 15, und Sabine Kronzucker, 12, und deren Cousin Martin Wächtler. Die Töchter des bekannten TV-Journalist­en Dieter Kronzucker und dessen Neffe wurden am 25. Juli während eines Familienur­laubs in der Toskana von drei maskierten Männern gekidnappt. 68 Tage lang wusste niemand, wo sie gefangen gehalten wurden. Ein Medienspek­takel sonderglei­chen begann. Erst nach der Zahlung des Lösegelds von 4,3 Mio. Mark, das mithilfe von Freunden und Verwandten und Dr. Hubert Burda aufgebrach­t wurde, kamen die Kinder frei. In BUNTE schilderte die Familie damals weltweit exklusiv diese Tage der Angst und Ungewisshe­it.

Bald 38 Jahre später, Mitte März 2018, besucht BUNTE den heute 52-jährigen Martin Wächtler in seiner Wohnung in einer idyllische­n Ortschaft am Zürichsee/Schweiz, wo er mit seiner Frau lebt. Er studierte Maschinenb­au in Aachen, machte sich vor zehn Jahren als Unternehme­nsberater selbststän­dig. Distanzier­t und mit ruhiger Stimme redet er über seine Vergangenh­eit. „Ich habe glückliche­rweise einen gesunden Abstand zu dem gefunden, was damals passiert ist, und rede nicht mehr oft darüber“, sagt er. „Aber die Erinnerung ist mit Sicherheit immer präsent. Zumal wir zwei Tage vor meinem 15. Geburtstag entführt wurden. Auch Sabine hatte während der Gefangensc­haft Geburtstag, wurde 13. Das war für mich ein einschneid­endes Erlebnis, das mich sicher charakterl­ich weitergebr­acht hat. Mich bringt heute so schnell nichts mehr aus der Ruhe. Wenn man als Kind um sein Leben fürchten muss, härtet einen das wohl für den Rest des Lebens ab.“

Er habe sich mal gefragt, ob er diese Erfahrung missen möchte oder nicht. „Ich glaube, ich möchte sie nicht missen, da sie mich erst zu dem Menschen hat werden lassen, der ich heute bin. Aber ich möchte das auch keinem wünschen.“Pause. „Die ganze Einstellun­g ändert sich. Ich sehe alles nur positiv. Ich habe ein enges Ver-

„Das Opfer, das ein Jahr vor uns entführt wurde, war monatelang weg und kam mit nur einem Ohr zurück“

hältnis mit meinen Eltern, meiner Schwester und meinen beiden Kindern. Ich bin ein glückliche­r Mensch. Man sagt mir immer, ich würde die ganze Zeit lächeln.“

Es stimmt. Martin Wächtler lächelt viel während des BUNTE-Besuchs. Er glaubt, dass er die Entführung besser verarbeite­t habe als seine Cousinen Susanne und Sabine Kronzucker. „Für Mädchen ist eine solche Situation sicher noch mal viel schwierige­r als für einen Jungen. Mädchen sind noch mal anderen Gefahren ausgesetzt.“Haben Sie je eine Psychother­apie gemacht? Er schüttelt den Kopf. „Nein. Nie. Weder träume ich schlecht noch habe ich Angst, dass mir so etwas noch mal passieren könnte. Die statistisc­he Wahrschein­lichkeit spricht dagegen.“

BUNTE wollte auch mit den Kronzucker­s reden, Sabine lebt in Köln, Susanne mit Mann und Kindern in Berlin, doch beide lehnten ab. „Wir haben nach wie vor eine innige Beziehung“, sagt Martin Wächtler. „Unsere Familien waren schon immer sehr eng, wir machten viele Urlaube gemeinsam. Unsere Mütter sind Schwestern.“

Als der sportliche Mann 2016 seine zweite Frau geheiratet habe, sei die komplette Familie nach Konstanz gekommen, dort fand eine Doppel-Party statt, denn auch seine Schwester Petra hatte im selben Jahr geheiratet. „Wir haben auch eine Familien-WhatsApp-Gruppe auf dem Handy, so stehen wir ständig in Verbindung.“

Die Kinder wurden von einer sardischen Bande geraubt. Erst später merkten die Kidnapper, dass sie die Falschen in Gefangensc­haft hatten – sie wollten eigentlich die Kinder des Fürsten Corsini, des reichsten Mannes der Toskana, schnappen. Wie hält man diese Ungewisshe­it, nicht zu wissen, ob man überlebt, aus? „Es ist sicherlich eine Situation, die man sich nicht vorstellen kann. Aber wenn man dann mitten drinsteckt, lernt man irgendwie, damit klarzukomm­en. Man kann nicht zehn Wochen lang permanent Angst haben. Das funktionie­rt nicht. Irgendwann gewöhnt sich die Psyche daran, sonst würde man wahnsinnig werden. Auch hatten wir stets den festen Glauben daran, dass wir wieder freikommen würden.“

Trocken sagt er: „Natürlich sind 68 Tage eine lange Zeit. Wobei es für diese sardische Entführung­s-AG kurz war. Ein Opfer, das ein Jahr vor uns entführt wurde, war monatelang weg und kam mit nur einem Ohr zurück.“

Martin und seine Cousinen wurden in Zelten versteckt, tagsüber war er an einen Baum gekettet, damit er nicht weglaufen konnte. „Es war für uns unheimlich wichtig, dass wir drei zusammen waren. Dadurch haben wir uns gegenseiti­g aufgericht­et, stabilisie­rt. Jeden Nachmittag durfte ich für zwei Stunden zu den Mädchen ins Zelt. Das hat mir viel geholfen.“

Zumindest wurden sie gut behandelt. „Ich nahm sieben Kilo zu. Sie gaben uns sehr viel zu essen. Da wir uns nicht bewegen durften, verschwand­en die Muskeln. Als uns die Entführer nach Bezahlung des Lösegelds in einem unbewohnte­n Haus aussetzten, mussten wir fünf Kilometer laufen. Erst dann trafen wir auf einen Förster, der die Polizei verständig­te. Wir hatten damals tagelang Muskelkate­r, konnten uns kaum bewegen.“

Nach seiner Freilassun­g reiste Martin mehrmals nach Italien, auch wieder in die Toskana. „Ich half der Polizei bei der Rekonstrui­erung der Tat und nahm an der Gegenübers­tellung teil, als zumindest einer der Entführer gefasst wurde.“Auch beim Gerichtspr­ozess 1985 in Florenz war Martin dabei.

Denken Sie manchmal an Ihre Peiniger? „Nein. Ich weiß gar nicht, ob der eine, der im Gefängnis sitzt, noch lebt. Er hatte ja bis zum Urteil behauptet, er sei unschuldig. Auch das Lösegeld ist nie wieder aufgetauch­t. Das ist wahrschein­lich in einem Bauprojekt in Venezuela versickert.“

 ??  ?? Martin Wächtler lebt und arbeitet heute in der Schweiz. Über die Entführung (siehe BUNTETitel rechts unten) redet er kaum noch im Alltag POSITIVER BLICK AUFS LEBEN
Martin Wächtler lebt und arbeitet heute in der Schweiz. Über die Entführung (siehe BUNTETitel rechts unten) redet er kaum noch im Alltag POSITIVER BLICK AUFS LEBEN
 ??  ?? Sabine (r.) und Susanne Kronzucker und Martin Wächtler erzählten 1980 in BUNTE ihre Geschichte WELTEXKLUS­IV
Sabine (r.) und Susanne Kronzucker und Martin Wächtler erzählten 1980 in BUNTE ihre Geschichte WELTEXKLUS­IV
 ??  ?? ERSTES FAMILIENFO­TO NACH DER ENTFÜHRUNG Neben Martin Wächtler (Kreis) sitzt seine Schwester Petra, rechts daneben Sabine und Susanne, dahinter die Eltern und ein Freund der Familie
ERSTES FAMILIENFO­TO NACH DER ENTFÜHRUNG Neben Martin Wächtler (Kreis) sitzt seine Schwester Petra, rechts daneben Sabine und Susanne, dahinter die Eltern und ein Freund der Familie
 ??  ?? OKTOBER 1980 Der TV-Journalist Dieter Kronzucker und seine Frau bedanken sich in BUNTE für die große Anteilnahm­e
OKTOBER 1980 Der TV-Journalist Dieter Kronzucker und seine Frau bedanken sich in BUNTE für die große Anteilnahm­e
 ??  ?? Martin Wächtler (r.) zündet mit Sabine (l.) und Susanne Kronzucker (2. v. l.) am Tegernsee Kerzen in der Kirche an. Links Dieter und Renate Kronzucker DAHEIM
Martin Wächtler (r.) zündet mit Sabine (l.) und Susanne Kronzucker (2. v. l.) am Tegernsee Kerzen in der Kirche an. Links Dieter und Renate Kronzucker DAHEIM
 ??  ?? Kronzucker-Entführer Giovanni Farina wurde 1982 verhaftet. 1996 flüchtete er bei einem Freigang … IN GEWAHRSAM
Kronzucker-Entführer Giovanni Farina wurde 1982 verhaftet. 1996 flüchtete er bei einem Freigang … IN GEWAHRSAM
 ??  ?? GESPRÄCH Martin Wächtler und Tanja May (BUNTE) Mitte März auf seiner Terrasse in der Schweiz
GESPRÄCH Martin Wächtler und Tanja May (BUNTE) Mitte März auf seiner Terrasse in der Schweiz

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