Wer reicht zuerst die Hand?
Wer uns etwas antut, muss oft lange dafür büßen. Ihm verzeihen? Darauf kann er ewig warten! Schließlich wurde uns Unrecht getan. Schließlich ist uns ein Nachteil entstanden. Schließlich hat er sich bei uns bis heute nicht entschuldigt. Der Mann, der sich in die Beziehung zu meiner Lebensgefährtin
gedrängt hat und jetzt mit ihr zusammen ist. Die Freundin, die mein bestgehütetes Geheimnis verraten hat. Der Cousin, der mich um ein Erbe gebracht hat. Wir sind dann unerbittlich, unversöhnlich und nachtragend bis hin zum Hass. Und dabei ist es uns gleichgültig, wie sehr wir uns selbst dabei unwohl fühlen.
Rad-Olympiasiegerin Kristina Vogel kennt diese Gefühls-Achterbahn aus Wut, Ohnmacht und bitterem Schmerz. Bei einer Trainingsfahrt stieß sie mit Höchstgeschwindigkeit mit einem anderen Radfahrer zusammen. Seither ist sie querschnittgelähmt. An dem Unfall trifft sie keine Schuld. „Ich habe mich immer wieder gefragt, warum der andere Radfahrer auf der Bahn im Weg stand – er hätte da nie stehen dürfen!“Dieser Mann sei „die Personifizierung meines Unfalls“. Doch verantwortlich machen will ihn Kristina Vogel dafür nicht. Im Gegenteil: „Ich würde mich gerne mit ihm treffen und seine Seite der Geschichte hören. Am Ende bringt es niemanden weiter, wenn ich auf jemanden böse bin. Das würde mich von meiner persönlichen Weiterentwicklung abhalten.“Tapfer findet sich die ehemalige Leistungssportlerin mit ihrem harten Schicksal ab. Und sie hat gelernt, dass die Seele nur frei sein kann, wenn sie keinen vergifteten Ballast mit sich führt.
Es liegt ja auch gar kein Sinn darin, denjenigen, der Schuld trägt, diese Schuld ewig tragen zu lassen. Wie hilft uns das denn weiter? Uns hilft doch viel mehr, wenn wir dem anderen die Schuld vergeben. Denn dann müssen wir uns nicht mehr mit Verbitterung, Hass und Groll selbst quälen. Und wir gewinnen noch etwas. Unser Herz kann wieder auf Empfang schalten. Freude empfangen, Leichtigkeit – und Liebe.
Wer sich beugt, bricht nicht.