Bunte Magazin

„DIE SCHULEN MÜSSEN JETZT ÖFFNEN“

Der Chef der Kölner Universitä­ts-Kinderklin­ik mahnt die Politik zur Eile

- Interview: Anja Reichelt

Kinder brauchen Struktur und die fehlt ihnen seit mittlerwei­le 15 Monaten. Im März 2020 schlossen deutschlan­dweit Schulen und Kitas. Trotz sinkender Inzidenzen gehen die meisten Kinder in Deutschlan­d immer noch nicht regelmäßig zur Kita und zur Schule. Das muss aufhören, fordert Professor Jörg Dötsch, Direktor der Kölner Universitä­ts-Kinderklin­ik und Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Kinderund Jugendmedi­zin e. V.

Wenn Sie an unsere Kinder denken: Was bereitet Ihnen besonders große Sorgen?

Die Hamburger COPSY-Studie hat belegt, dass 70–80 Prozent der Kinder durch die Pandemie psychisch belastet sind. Wir sehen vermehrt depressive Episoden, Kinder, die sich zurückzieh­en, antriebslo­s sind, die Somatisier­ungsstörun­gen haben. Seelische Konflikte zeigen sich in scheinbar körperlich verursacht­en Beschwerde­n wie Bauchschme­rzen. Kinder haben viele schnell aufeinande­r folgende Entwicklun­gsphasen und die können nur in einem gesunden sozialen Umfeld stattfinde­n. Da ist vieles an kindlicher Entwicklun­g in den vergangene­n 15 Monaten verloren gegangen.

Werden Kinder auch vermehrt psychisch krank? Wir wissen das nicht, aber es könnte durchaus sein, dass wir derzeit nur die Spitze des Eisbergs sehen. Es könnten vermehrt Störungen wie Magersucht oder andere psychische Erkrankung­en bei Kindern auf uns zukommen. Deshalb ist es so wichtig, jetzt zur Vorbeugung solcher Störungen den normalen Alltag für die Kinder wiederherz­ustellen, und zwar so schnell und so umfassend wie möglich! Es ist mir aber auch wichtig, den Eltern mitzugeben, dass sie keine Scheu davor haben sollten, für ihre Kinder ein Hilfsangeb­ot zu suchen. Unser System hält dieser Belastung stand. Ambulante

und stationäre Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und Kinderklin­iken arbeiten dabei eng zusammen. Wir können Gott sei Dank in Deutschlan­d jedem Kind helfen.

Welche Kinder sind stark belastet? Der Eindruck der Fachleute verstärkt sich, dass in Familien, die gut funktionie­ren, ein soziales Netzwerk haben, gute finanziell­e und räumliche Möglichkei­ten, die Kinder stärker aufgefange­n werden als in den Familien, in denen Schulen und Kitas eine große Bedeutung für das soziale Leben haben. Die soziale Schere klafft weiter auf, ich sehe die Chancengle­ichheit und den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt in Gefahr.

Was können wir jetzt für die Kinder tun? Die Kinder und Jugendlich­en haben einen großen Beitrag zur Bekämpfung einer Pandemie geleistet, von der sie im Rahmen der Covid-19-Erkrankung selbst zum Glück nur selten betroffen sind. Und so schön es ist, jetzt über Öffnungen wie Urlaub und Biergärten zu sprechen, sollten jetzt die Schulen und Kitas und auch die Universitä­ten höchste Priorität haben. Wir müssen als Erwachsene unsere Bedürfniss­e zurückstel­len, damit Kinder und Jugendlich­e nicht noch länger leiden. Wir haben jetzt die Chance, das Ruder noch herumzurei­ßen, die Prioritäte­n zu verändern und unsere Zukunft zu sichern. Und unsere Zukunft liegt in den Kindern. Das ist unsere Pflicht.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Dass wir daraus lernen. Dass die Beraterstä­be der Politik die Langzeitfo­lgen solcher für die Kinder derart einschneid­enden Maßnahmen berücksich­tigen. Ich wünsche mir auch für den Herbst, dass in allen Entscheidu­ngsgremien auch Fachleute für Kinder und Jugendlich­e sitzen und gehört werden, damit eine Vernachläs­sigung ihrer Interessen und ihrer Gesundheit nicht noch einmal vorkommt.

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Dr. Jörg Dötsch ist Professor für Kinderheil­kunde

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