JUDITH EPSTEIN
JUDITH EPSTEIN Die Münchnerin nutzt die Sprache der Kultur für ein offenes, harmonisches Miteinander von jüdischen und nicht jüdischen Menschen
ERFREUT HABEN MICH DIE VIELEN GESTEN DER SOLIDARITÄT
Gewaltspirale Nahost. Die Kämpfe zwischen Israel und militanten Palästinensern dauern an, gleichzeitig schockieren in Deutschland Bilder von antisemitischen und anti-israelischen Demonstrationen. Dabei sollte das Jahr 2021 ein ganz besonderes werden im Hinblick auf Miteinander und Versöhnung, Jüdinnen und Juden leben nachweislich seit 1700 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. „Es ist ein unermessliches Glück für unser Land, dass es nach der Shoah wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt, es sogar neu aufblüht“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Februar. Er wünsche sich, dass „Jüdinnen und Juden in Deutschland ein Teil von uns sind“sowie „ein entschiedenes Entgegentreten denen gegenüber, die das noch oder wieder infrage stellen. Die Bundesrepublik ist nur vollkommen bei sich, wenn Juden sich hier vollkommen zu Hause fühlen.“
Judith Epstein, Vorsitzende der Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition und Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde München, engagiert sich seit vielen Jahren im Sinne ihrer jüdischen Gemeinde und Kultur, empfindet sich aber auch als „Europäerin aus Deutschland mit einem internationalen Freundeskreis quer durch alle Religionen“, sagt die herzliche Frau im Gespräch mit BUNTE. „Der Verein erzählt über die Verwurzelung jüdischen Lebens in diesem Lande. Unsere gemeinsame Geschichte ging durch Phasen des Friedens, der Emanzipation und des Engagements in den Zeiten, in denen Deutschland für jüdische Menschen Heimat sein durfte. Wir sind stolz auf das, was wir hier in guten Zeiten bewirken konnten, und wünschen uns, dass auch der nicht jüdische Teil der Bevölkerung stolz auf unser so langes Zusammenleben ist.“
Haben Sie als Jüdin manchmal Angst, in Deutschland zu leben? Nein. Ich bin ein Münchner Kindl, bin hier aufgewachsen und fühle mich in meinem Freundeskreis sowie beruflichen Umfeld sehr geschätzt und respektiert. Ich lebe ein sehr offenes Leben, bin neugierig und gehe auf meine Mitmenschen ohne Vorurteile zu. Das hat mich immer gute Erfahrungen machen lassen. Ich bin jedoch sehr besorgt über die Aggressionen und die ungebremste Wut von Antisemiten, die unsere Werte missachten, unsere Grundrechte mit Füßen treten, unsere Demokratie aushebeln wollen und jüdische Menschen ungehemmt als Feinde angreifen. Die Vorstellung, dass so etwas in Zukunft zunehmend akzeptiert oder gar von der Mitte der Gesellschaft als normal bewertet wird, erfüllt mich mit wirklicher Sorge. Je solidarischer sich die Gesellschaft zeigt, umso weniger müssen jüdische Menschen hierzulande um ihre Zukunft bangen.
Wurden Sie jemals öffentlich angefeindet? Ich bisher glücklicherweise nicht. Es ist allerdings kein Geheimnis, dass tätliche Übergriffe und verbale Attacken immer öfter vorkommen. Digitale Hassprediger erfahren eine wahre Renais
ICH HABE EINEN INTERNATIONALEN FREUNDESKREIS QUER DURCH ALLE RELIGIONEN
sance und dürfen ungestört und ungefiltert ihre antijüdischen, antidemokratischen und ausländerfeindlichen Ressentiments verbreiten. Pauschale Judenfeindlichkeit ist kein Randphänomen mehr. Ich war entsetzt, als im letzten Sommer unser Rabbiner auf dem Nachhauseweg von Unbekannten bedrängt und verbal attackiert wurde. Wir hatten uns nur wenige Minuten zuvor verabschiedet, nachdem wir lange auf der Steinbank vor der Oper gesessen und uns über die großen und kleinen Fragen des Lebens angeregt ausgetauscht hatten. Dass so etwas Ungeheuerliches in unserer friedlichen, sonst so toleranten Stadt geschehen kann, erschütterte mich zutiefst.
Versuchen Sie zu verstehen, woher Hass gegen Juden kommt? Nein. Bei Hass kenne ich keine Toleranz. Ich kann und will ihn nicht verstehen. Ich will davor beschützt werden. Antisemitismus und Menschenhass muss man die Rote Karte zeigen. Wer die Säulen der Demokratie zum Einsturz bringen will, muss den Verfolgungsdruck der polizeilichen Behörden spüren.
Spielten Sie je mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen? Die letzten Tage waren sicher nicht leicht. Aber warum sollte ich das Land verlassen, in dem ich geboren bin und gerne lebe?! Hier wohnt meine Familie, hier pflege ich Freundschaften, hier trage ich bewusst und gerne meinen Teil dazu bei, anregende und inspirierende Begegnungen mit der jüdischen Kultur zu ermöglichen. Ich habe viel Zuspruch von nicht jüdischen Menschen erhalten. Das tut gut, denn man fühlt sich nicht alleingelassen. Es gibt doch sehr viele Bürger*innen, die auf Demos ihre Solidarität mit Israel zeigen. Ausgewogene Journalisten, die differenziert über die komplexe Lage berichten, und eine Politik, die sich für die einzige Demokratie im Nahen Osten einsetzt. Was mich besonders erfreut hat, waren Gesten der Solidarität aus der bayerischen Staatskanzlei. Nicht nur dort, sondern in vielen deutschen Städten wurde die israelische Flagge gehisst und ein klares Zeichen gesetzt. Solange das so ist, fühle ich mich in Deutschland gut.
Was antworten Sie Menschen in Deutschland, die Kritik am Verhalten Israels oder gegenüber Juden äußern? Zur Demokratie gehören Divergenzen. Ich respektiere Menschen, die fundierte Meinungen äußern. Kritik, sofern sie nicht menschenverachtend ist, ist legitim, denn es gibt keine Alternative zum offenen Disput in einer Demokratie. Aber jemand, der Steine auf Juden und Polizisten wirft, will nicht debattieren, sondern Menschen verletzen. Ich verwahre mich gegen Menschen, die IsraelFlaggen verbrennen, Hassparolen im Internet verbreiten und Israel als demokratischen Staat zerstören wollen. Die Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition in Bayern reicht allen die Hand. Wir suchen den Dialog gerade mit unseren nicht jüdischen Mitbürgern. Alle Fragen sind willkommen, doch Kritik an Israel darf nicht in Hass auf Juden enden.
Viele Deutsche wissen kaum etwas über die jüdische Kultur. Jüdische Kultur ist facettenreich und geht weit über den Holocaust und die Israel-Debatte hinaus. Sie eröffnet positive Assoziationen und zeigt die Lebendigkeit und Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland heute. Wer immer bei unseren Veranstaltungen mit der Vielfalt und dem Reichtum der jüdischen Kultur in Berührung kam, war berührt vom lebensbejahenden, melancholischen Humor und inspiriert von der intellektuellen Scharfsinnigkeit. Kultur bedeutet Leben! Kultur bedeutet aber auch, überleben zu wollen. Auf unseren Kulturtagen laden wir die Bürger*innen zu Dokumentationsausstellungen, Filmen und Vorträgen ein und zeigen so ein vitales, aktives, jüdisches Leben in München. Es ist für mich eine große Freude zu erleben, dass es jedes Jahr mehr Menschen aus München und Umgebung anzieht. Ich bleibe zuversichtlich, dass wir durch Begegnung und Dialog mehr erreichen können als durch Misstrauen und Abschottung. Die Sprache der Kultur verbindet.