Endlich besser hören können
WIE BITTE? Millionen Deutsche leiden unter Schwerhörigkeit. Wie Hightech die Lebensqualität verbessert und sogar das Gehirn schützt – und woran Forscher arbeiten, um das Hörvermögen wieder herzustellen
Gerade mal um die 22 Zentimeter groß, etwa 220 Gramm schwer und rund 20 Wochen alt sind wir, wenn wir als Embryo im Mutterleib zum ersten Mal gedämpfte Geräusche wahrnehmen können. Ab diesem Zeitpunkt hören wir – und zwar immer, Tag und Nacht, 360 Grad. Unser Hörsinn eröffnet uns die Welt. In Zusammenarbeit mit unserem Gehirn erbringen unsere Ohren Höchstleistungen. „Unser Gehör ist eines unserer wichtigsten Sinnesorgane“, betont Prof. Timo Stöver, Direktor der Klinik für Hals, Nasen, OhrenHeilkunde an der Universitätsklinik Frankfurt. Mithilfe unseres Gehörs können wir uns orientieren, feststellen, aus welcher Richtung und Entfernung ein Geräusch kommt, und Raumgrößen einschätzen. Unser Gehör dient als Warnsystem. Anders als die Augen nimmt es wahr, wenn hinter uns ein Auto heranbraust. Und zuletzt bedeutet Hören auch Fühlen. Töne und Geräusche transportieren emotionale Informationen. Wie entscheidend ist etwa die Musik bei einem Horrorfilm! Und wenn wir kommunizieren, schwingt im Klang der Stimme mit, ob unser Gegenüber gerade fröhlich, traurig oder wütend ist. Stöver erklärt: „Wer schlecht hört, dem entgehen viele feine Zwischentöne.“
Doch für immer mehr Menschen wird die Welt um sie herum leiser. Gespräche werden zu unverständlichen Wortfetzen und vieles, was wir im Alltag kaum bewusst wahrnehmen, wie Vogelgezwitscher, verschwindet ganz. „Aktuellen Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation zufolge ist weltweit einer von fünf Menschen schwerhörig. Man spricht auch von der stillen Pandemie“, erklärt Prof. Hubert Löwenheim. „Allein in Deutschland leben Schätzungen zufolge 16 Millionen Schwerhörige. Leider meiden viele Betroffene aufgrund der sozialen Stigmatisierung den Weg zum Arzt“, so der Ärztliche Direktor der Klinik für Hals, Nasen, Ohrenheilkunde und des Hörforschungszentrums des Universitätsklinikums Tübingen.
SCHWERHÖRIGKEIT WIRD AUCH ALS STILLE PANDEMIE BEZEICHNET
LÄRM ist die größte GEFAHR für die Sinneszellen im Innenohr
Wie kommt es zum Hörverlust? Die Ursache für Schwerhörigkeit kann sich an verschiedenen Stellen unseres komplizierten und empfindlichen Hörorgans befinden. Je nachdem unterscheiden Mediziner zwischen der sogenannten Schallleitungsschwerhörigkeit oder einer Schallempfindungsschwerhörigkeit. Danach richtet sich auch die Therapie.
„Wird der über das Trommelfell ankommende Schall vom Mittelohr nicht richtig an das Innenohr weitergeleitet, liegt die Ursache irgendwo zwischen äußerem Gehörgang und Mittelohr“, erklärt Timo
Stöver. Ursache kann etwa ein verletztes Trommelfell durch eine Mittelohrentzündung sein, Flüssigkeit bei einem Paukenerguss, eine Verunreinigung des
Gehörgangs durch Ohrenschmalz, aber auch durch eine Erkrankung zerstörte Gehörknöchelchen. Etwa vier Millionen
Deutsche sind von einer Schallleitungsschwerhörigkeit betroffen. „Diese Störungen können wir in der Regel mit bewährten mikrochirurgischen Methoden gut operativ erfolgreich versorgen“, so Löwenheim.
Die überwiegende Mehrheit, etwa zwölf Millionen Deutsche, ist aber von einer Schallempfindungsschwerhörigkeit betroffen. „Für diese Patienten gibt es bislang keine kausale Therapie, sondern eine prothetische Versorgung mit einem Hörgerät oder Cochlea-Implantat. Es wird aber intensiv an Therapien geforscht, mit denen der Hörsinn wieder hergestellt werden könnte“, weiß Hubert Löwenheim, der seit Jahren im Bereich der Regenerativen Medizin des Hörens forscht (mehr dazu im Interview auf S. 83).
„Hauptursache für eine Schallempfindungsschwerhörigkeit ist Lärm in jeglicher Form“, so Stöver. Auf den reagieren die feinen Haarzellen im Innenohr sensibel: Wird die Lärmbelastung zu groß, können sie buchstäblich umknicken (s. Grafik S. 77). Ab wann ein Geräusch zu laut ist, lässt sich dennoch nicht leicht beantworten. „Hier muss man zwischen Langzeiteffekten und akuten Schädigungen unterscheiden“, erklärt Stöver. „Typisches Beispiel für ein akutes Trauma ist ein geplatzter Autoreifen. Aber auch eine laute Maschine mit etwa 90 Dezibel kann über viele Monate oder Jahre die Haarzellen schädigen.“
Wie sich das Gehör schützen lässt? „Man sollte sich der möglichen Gefahr durch Lärm bewusst sein und konsequent auf Schutz achten, egal ob im Job, bei ClubBesuchen, auf Konzerten, beim Schießverein und bei Feuerwerken. Oft vergessen wird auch, wie gefährlich das laute Hören mit Kopfhörern sein kann“, warnt Stöver.
Neben Lärm können auch unsere Gene verantwortlich sein. Genetische Defekte zeigen sich nicht immer ab der Geburt, sondern teilweise erst im Erwachsenenalter. Ebenso ursächlich kann ein Hörsturz, eine toxische Innenohrschädigung durch Medikamente oder ein Infekt sein.
Und zuletzt spielen Alterungsprozesse eine entscheidende Rolle. Etwa ein Drittel der über 65-Jährigen zeigt einen relevanten Hörverlust. „Letztendlich kann jeder von uns irgendwann von Schwerhörigkeit betroffen sein, man muss nur das entsprechende Alter erreichen“, sagt HNO-Experte Löwenheim. „Und da wir erfreulicherweise alle älter werden, muss man leider davon ausgehen, dass wir alle potenziell irgendwann betroffen sind.“
Unbehandelt steigt das Risiko für DEMENZ und DEPRESSIONEN
Warum sollte man eine Hörminderung unbedingt ernst nehmen? Erst im März dieses Jahres veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den „World Report on Hearing“. Was der Bericht unmissverständlich zeigt: Schlecht hören ist keine Lappalie. Bleibt eine Hörminderung unversorgt, kann das in jeder Lebensphase schwerwiegende Konsequenzen haben. Nicht ohne Grund zählt die WHO Hörstörungen in den Industrieländern zu den sechs häufigsten, die Lebensqualität am meisten beeinträchtigenden Erkrankungen.
„Die Frage ist häufig nicht, wie gut man noch hören kann, sondern welchen Einfluss die Hörminderung auf das soziale Leben hat“, erklärt Stöver. „Viele ziehen sich zurück, nehmen keine kulturellen Veranstaltungen mehr wahr und sprechen nur noch mit dem Partner, weil sie gerade in geräuschvoller Umgebung nicht mehr gut verstehen. Oder sie missverstehen und lachen an der falschen Stelle. Das frustriert und man fühlt sich nicht mehr zugehörig.“Es kommt häufig zur sozialen Isolation und die bleibt nicht ohne Folgen: So ergab eine französische Studie, dass insbesondere unbehandelte schwerhörige Männer ein um 43 Prozent erhöhtes Risiko haben, an einer Depression zu erkranken. Ähnliches zeigt eine Studie des US-Gesundheitsministeriums: 11,4 Prozent der Erwachsenen mit schwerem Hörverlust fühlen sich depressiv, während der Anteil bei Menschen mit gesundem Gehör nur halb so hoch ist.
„Auch das Gehirn leidet unter Schwerhörigkeit“, erklärt Stöver. „Eine Reihe von Untersuchungen zeigt eine verminderte Problemlösekompetenz bei unbehandelter Schwerhörigkeit. Gut versorgte Patienten zeigen dagegen bessere kognitive Leistungen.“Eine Untersuchung der Ruhr-Universität Bochum lässt vermuten, dass durch Hörverlust nach und nach Hirnbereiche umorganisiert werden und so das Risiko für kognitiven Verfall und Demenzerkrankungen steigt. „Eine der wichtigsten Botschaften ist sicherlich, dass Schwerhörigkeit einer der größten beeinflussbaren Risikofaktoren für das Auftreten einer Demenz ist“, betont Stöver. „Positiv formuliert bedeutet das: Eine gut versorgte Hörminderung reduziert die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken.“