Wie ein Schicksalsschlag das Leben ihrer Mutter veränderte
ANNALENA BAERBOCK Die Kanzlerkandidatin der Grünen spricht zum ersten Mal über das große Drama in ihrer Familie
Wenn Annalena Baerbock, 40, über ihre Familie spricht, belässt sie es normalerweise bei ein paar liebevollen Sätzen über ihre beiden Töchter und den modernen Ehemann, der seinen Beruf als Lobbyist der Deutschen Post für die Kinderbetreuung aufgibt. Beim Parteitag überraschte die Kanzlerkandidatin der Grünen nun mit einer bewegenden Geschichte, die die Familie Baerbock bis heute geprägt hat: „Als meine Mut‑ ter eingeschult wurde, traf sie ein furcht‑ barer Schicksalsschlag, weil ihre ältere Schwester bei einem Unfall tödlich ver‑ letzt wurde.“
In ihrem Buch „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“erzählt die wichtigste Grünen-Politikerin das ganze Drama: „An einem besonders regnerischen Tag ging die Schwester meiner Mutter, zwölf Jahre alt, aus dem Haus, weil sie sich ein Geodreieck für den Matheunterricht kaufen muss‑ te. Sie hielt sich den Regen‑ schirm so dicht über den Kopf, dass sie beim Überqueren der Straße die Straßenbahn nicht bemerkte und von ihr erfasst und tödlich verletzt wurde.“
Annalena Baerbocks Mutter, damals gerade sechs Jahre
alt, war schwer traumatisiert, schildert die Politikerin: „Meine Mutter hatte ihre Schulzeit herbeigesehnt. Nun aber, da es endlich so weit war, stand sie unter Schock. Ihr Vater wurde nach dem schrecklichen Verlust sehr schweigsam. Ihre Mutter ver‑ suchte, sie mit allem, was sie hatte, aufzu‑ fangen. Doch schon bald begann ihre Leh‑ rerin, Druck zu machen, sie solle auf die Sonderschule wechseln, weil sie angeblich, wie es damals hieß, ,lernschwach‘ sei. Dass sie in ihrer eigenen Welt verweilte, um den Tod ihrer Schwester und die Stille zu Hau‑ se zu verarbeiten, und eigentlich Hil‑ fe gebraucht hätte, kam niemandem in den Sinn.“
Annalena Baerbocks Oma, die aus Schlesien geflüchtet war und als Putzfrau bei der Sparkasse arbeitete, kämpfte wie eine Löwin um ihre traurige Tochter, engagierte einen Kinderpsychologen. Das half: Das Mädchen machte seinen Realschulabschluss in einer Schule für Kinderpflegerinnen und wurde Erzieherin, auf dem zweiten Bildungsweg sogar Sozialpädagogin für Familien in Not. Für Annalena Baerbock waren die starken Frauen aus ihrer Familie immer ein Vorbild: „Was wäre es für ein Ver‑ lust für all diese Familien ge‑ wesen, hätte meine Mutter nicht die Chance gehabt, aus dem selbst Erlebten noch die Kraft zu schöpfen, anderen et‑ was mitzugeben?“
DIE OMA, EINE MUTIGE PUTZFRAU, IST DIE HEIMLICHE HELDIN DER FAMILIE