Warum die Holocaust-Überlebende heute voller Hoffnung ist
ICH MUSSTE MICH AUF DIE MENSCHEN VERLASSEN, DIE MIT MIR BETT UND ESSEN TEILTEN Hat als junge Frau unsagbar Schreckliches erlebt. Eltern und Bruder kamen in Auschwitz um. Sie überlebte – und lebt heute ihre wahre Mission
Einmal die Woche geht sie noch selbst einkaufen. Ein Freund holt Margot Friedländer, 99, dann mit dem Auto ab und es geht aus dem vornehmen Tertianum gleich hinterm KaDeWe in den Supermarkt. Zwar gibt es in der Seniorenresidenz ein täglich wechselndes Menü, aber „ich koche immer noch ganz gern selbst. Mal ein kleines Schnitzel, ein Kalbsgulasch oder einen Burger.“Die Lust auf Burger ist ihr Tribut an die 60 Jahre, die sie in New York gelebt hat. 1946 ist sie mit ihrem Mann Adolf (†1997) in die USA ausgewandert. Kurz zuvor wurden sie im KZ Theresienstadt von einem Rabbiner getraut, die letzte Hochzeit an diesem Ort des Grauens. Im November wird die gebürtige Berlinerin, die nach dem Tod ihres Mannes wieder in ihrer Heimatstadt lebt, unglaubliche 100 Jahre alt. Als wir sie besuchen, kommt sie uns mit festen Schritten entgegen. Um den Hals trägt Margot Friedländer die Bernsteinkette, die ihr ihre Mutter zusammen mit ein paar Worten an dem Tag hinterlassen hatte, als sie nach Auschwitz deportiert wurde. Die Eltern starben dort und auch der vier Jahre jüngere Bruder. Am 1. September erschien ihr neues Buch „Ich tue es für Euch“. Ein Gespräch zwischen ihr, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, 70, und Herausgeber Sascha Hellen, 43.
Sie haben 15 Monate im Untergrund überlebt, gejagt von den Nazis. Wie schafft man das, ohne zu wissen, was morgen sein wird? Ich hatte kein Geld, das war ein Problem, aber ich konnte nicht mehr arbeiten, weil ich sonst verhaftet worden wäre. Ich musste mich verstecken und auf die Menschen verlassen, die mit mir Bett und Essen geteilt haben. Ich wusste nie, wo ich am nächsten Tag sein würde, denn die meisten kannten sich nicht untereinander.
Mussten Sie täglich das Versteck wechseln? Das kam auch vor. Manchmal konnte ich nur eine Nacht bleiben, manchmal zwei, drei Nächte. Dann wiederum blieb ich mehrere Wochen, bis die Gefahr zu groß wurde. Es gab 16 verschiedene Orte, an denen ich aufgenommen wurde. Es wussten auch nicht alle, dass ich eine Jüdin war, die von der Gestapo gejagt wurde. Ich habe sogar mal einen Soldaten kennengelernt, der mich zwei Nächte bei seinen Eltern untergebracht und denen erzählt hat, dass ich seine Braut sei.
Sie waren 22 Jahre alt und völlig allein. Hat nie jemand Ihre schlimme Notlage ausgenutzt? Natürlich. Ich habe viele verschiedene Dinge erlebt, denn kaum jemand tut etwas umsonst. Aber darüber spricht man nicht, wenn man als Frau so etwas durchmachen muss. Was ich gegeben habe, ist nicht damit zu vergleichen, was ich als Gegenleistung bekommen habe, was diese Menschen für mich getan haben. Es ging um das nackte Überleben. Für mich und für sie.
Wer hat Ihnen damals geraten, sich äußerlich zu verändern? Eine Kommunistin aus dem Widerstand, die ebenfalls im Visier der Nazis war. Sie hat meine schwarzen Haare rot gefärbt und organisiert, dass meine Nase operiert wird. Eines Tages stand ein Mann in der Wohnung und sie sagte mir, dass ich ihm trauen könne. Ich hatte eine sehr schöne Nase, gerade und etwas länger als meine neue Nase. Sie sah nicht jüdisch aus. Trotzdem hat der Arzt mir geraten, mich bei ihm heimlich operieren zu lassen. Das war ein hohes Risiko. Wenn etwas schiefgelaufen wäre und ich Blutungen bekommen hätte, hätte ich nicht ins Krankenhaus gehen können. Nach der OP wurde ich versteckt und die Krankenschwester kam jeden Tag, um nach mir zu sehen. Ich war hilflos all dem ausgeliefert, es war katastrophal.
Erwischt wurden Sie dann ausgerechnet von jüdischen „Greifern“. Ja, ich war mit meiner Freundin Gretchen nach einem Fliegerangriff vom Luftschutzbunker auf dem Weg nach Hause, als wir von zwei Herren kontrolliert wurden. Ich hatte nur einen kleinen Ausweis und die beiden wollten mich zur Polizei bringen, um die Echtheit der Papiere zu kontrollieren. Das wollte ich nicht, denn ich wollte keine Aussage machen, wo ich die ganzen Monate seit der Verhaftung meiner Mutter gewesen war. Also habe ich gesagt: „Ich bin jüdisch.“Das war im April 1944 und damit war meine Flucht zu Ende. Ich kam zuerst in ein Auffanglager und dann nach Theresienstadt, wo ich als Glimmerin mit Hunderten anderer Frauen Isoliermaterial herstellte. Ich war gut darin und das hat mich gerettet.
War es möglich, dort Freundschaften zu knüpfen? Nein, man durfte ja nicht reden. Manchmal wurde irgendwo etwas ganz leise geflüstert. Man wollte sich auch gar nicht anfreunden, man hatte keine Kraft dazu, denn man wollte sich nicht ver
abschieden müssen. Es gingen ja von Theresienstadt immer wieder Transporte in andere Lager. Jeder blieb bei sich.
Wie konnten Sie sich trotz dieser permanenten Bedrohung, in dieser Atmosphäre, in Ihren späteren Mann verlieben? Das habe ich nicht, ich habe mich nicht in ihn verliebt. Ich kannte Adolf von früher. Er war elf Jahre älter als ich und wir haben uns weiter gesiezt, als wir uns dort trafen. Zwischen uns war sehr viel Respekt, aber keine Liebe. Man war gar nicht fähig zu lieben. Das war undenkbar. Wir sind zerbrochene Menschen. Wir haben eine sehr spezielle Ehe auf der Basis von Freundschaft, den gleichen Erinnerungen, den gleichen Schmerzen geführt. Mein Mann hatte eine Schwester in New York, zu ihr sind wir nach der Befreiung gegangen, um gemeinsam ein neues Leben anzufangen. Ich habe meinen Mann sehr verehrt, denn er war ein sehr kluger, gebildeter Mensch, hat 28 Jahre das jüdische Kulturzentrum in New York geleitet und wurde von allen sehr geschätzt. Später sind wir viel gereist. Wir versuchten, ein normales Leben zu führen, aber das war es nicht, denn das Grauen konnten wir nie mehr ablegen.
Sie sind mit 88 Jahren nach Deutschland zurückgekehrt. Woher nehmen Sie Ihre Stärke – körperlich und geistig? Ich hatte sehr viel Glück und dafür bin ich einfach dankbar. Viele denken, dass mit der Rente das Leben vorbei ist, darüber muss ich schmunzeln, denn ich bin der beste Beweis, dass es nicht so ist. Ich habe immer noch eine kolossale Energie, mache oft zwei Termine am Tag. Ich bin glücklich, dass ich über all das sprechen kann, denn mit meinem Mann oder unseren jüdischen Freunden in den USA haben wir nie über den Holocaust geredet, obwohl uns die Traurigkeit nie verlassen hat.
Haben Sie immer noch Albträume? Ich schlafe extrem wenig, die Gedanken lassen einen nie mehr los. Man überlegt immer wieder, warum das alles passiert ist. Man kann sich das Erlebte nicht aus der Seele und dem Körper schneiden. Man kann das alles nicht vergessen.
Können Sie denn jemals vergeben? Ich denke anders. Mir haben gute Menschen geholfen, die ihr Leben für mich riskiert haben. Ich glaube, dass in jedem Menschen etwas Gutes steckt. Ich war an über 300 Schulen und habe über mein Leben erzählt. Was haben diese Kinder mit der Vergangenheit zu tun? Ich will nicht wissen, was ihre Großeltern getan haben. Das interessiert mich nicht. Das Gift des Judenhasses wurde den Kindern damals systematisch eingespritzt. Wenn ich heute Antisemitismus bemerke, habe ich keine Angst, aber ich kann das nicht verstehen. Wir müssen wachsam bleiben. Deswegen zoome ich mit Schulklassen, rede mit Studenten und lese vor Journalistenschülern. All das ist wichtig.
Haben Sie mit fast 100 Jahren Ihre wahre Mission entdeckt? Ja, absolut. Das ist meine Mission. Ich spreche für die Menschen, die nicht mehr sprechen können, nicht nur für die sechs Millionen Juden, sondern für alle, die dem Nazi-Regime zum Opfer fielen. Ich bin ein gläubiger Mensch und voller Hoffnung wegen der jungen Menschen in Deutschland. Das ist es, was mich am Leben hält. Ich bin zurückgekommen, um mit den Menschen hier zu reden und ihnen die Hand zu reichen. Ihr müsst die Zeitzeugen sein, weil ich es nicht mehr lange sein kann. Die Kraft lässt nach, das spüre ich. Ich habe Herzprobleme, bin nicht mehr ganz gesund. Aber ich bin glücklich, hier zu sein, Deutschland ist meine Heimat. Ich habe hier einen wunderbaren Freundeskreis, der mich liebt und trägt. Ich fühle mich als Deutsche und gehöre hierher. Ich bin nicht verbittert. Ich bin voller Hoffnung.