Jan Brandt: Vergessliche Momente
Es gibt ein Leben vor dem ersten Buch, und eins danach. Sobald das Debüt erscheint, ist alles anders. Plötzlich hat man etwas preisgegeben, etwas ganz Persönliches, selbst wenn man nicht autobiografisch schreibt, selbst wenn das, was man da geschrieben hat, nichts mit einem selbst zu tun hat. Die Welt sieht einen mit anderen Augen. Fremde, die das Buch gelesen haben, sprechen einen an, sie meinen, einen zu kennen und stellen eine Verbindung, eine Gemeinsamkeit her, die nicht existiert. Mir geht es nicht anders, nur mit dem Unterschied, dass mir beide Perspektiven vertraut sind.
Alina Herbing kenne ich schon seit Jahren, ich weiß gar nicht mehr, wie lange, womöglich sind wir uns zum ersten Mal 2012 beim Open Mike begegnet oder 2014 in Hildesheim beim Prosanova-Festival, aber richtig kennengelernt habe ich sie erst, als ich ihr Debüt Niemand ist bei den Kälbern gelesen habe, oder, anders gesagt, seitdem ich es gelesen habe, glaube ich, sie zu kennen, und alles, was vor dieser Erfahrung liegt, ordne ich dem Leseerlebnis jetzt unter, alles wirkt wie eine Vorstufe, wie kleine Erzählungen, die auf die eine große hindeuten, die das, was sie in ihrem ersten Roman beschreibt, vorwegnehmen.
Am 10. Februar 2015 lud mich Simon, ein Fußballfreund, zu seiner Geburtstagsfeier ins „Mysliwska“ein. Kreuzberg hatte sich verändert, aber im „Mysliwska“war immer noch alles beim Alten: Der Putz fiel von den Wänden, die Räume wurden vom Rauch zusammengehalten und aus den Boxen kam traurige Elektromusik, etwas Dunkles, was die wenigen Lichter um mich herum noch heller leuchten ließ. Simon saß im Hinterzimmer, umgeben von Freunden. Er gab mir ein Tyskie aus, und ich setzte mich auf den einzigen freien Platz zwischen Nora Linnemann und Alina Herbing, die beide in Hildesheim Schreiben studiert hatten und jetzt in Berlin lebten. Wie unterhielten uns über Herkunft, und wie sich herausstellte, kamen wir alle aus der norddeutschen Provinz, ich aus Ostfriesland, Nora aus Wolfenbüttel und Alina aus Lübeck. „Aber eigentlich“, sagte sie, „stamme ich aus Schlagsülsdorf“, ein Dorf in Nordwestmecklenburg. Ihre Eltern waren mit ihren drei Geschwistern nach der Wende dorthin gezogen, raus aufs Land. Zu der Zeit schrieb ich an einer Reportage über meine Dorfdisco, das „Limit“in Ihrhove, und sie meinte, dass sie das sehr gut kenne, diesen einen identitätsstiftenden Ort, bei ihr sei es das „Kreml“in Gadebusch gewesen: „Manchmal habe ich bei Freundinnen geschlafen, die näher dranwohnten. Oder ich bin mit älteren Typen hingefahren und mit dem Taxi zurück. Meistens haben die Eltern Geld fürs Taxi mitgegeben, das wir aber in Alkohol investiert haben. Einige sind dann ja auch dabei draufgegangen, wenn sie durch die Allee nach Hause gefahren sind.“Sie schreibe gerade an einem Dorfdiscokapitel, und wir beschlossen, uns unsere Texte zu zeigen, sobald sie fertig waren.
Danach sah ich Alina lange nicht. Ich musste immer wieder an sie denken, an das, was sie übers „Kreml“gesagt hatte, wie wichtig das in der Provinz gewesen sei: auszugehen, diesen Ort zu haben, an dem die Jugend ganz bei sich sein konnte. Mit meiner Dorfdiscogeschichte wurde ich nicht fertig. Alina aber veröffentlichte im Frühjahr 2017 ihren Roman Niemand ist bei den Kälbern, die Geschichte einer jungen Frau, die sich trotzig gegen die Konventionen und Kontrollmechanismen ihres Dorfes stemmt und das Dorf selbst doch nie verlässt, die Gewalt erlebt und Gewalt ausübt, die traumatisiert ist und andere traumatisiert. Im Dauerrausch betrügt sie ihren Freund, tötet Tiere, steckt eine Scheune in Brand und wundert sich, was um sie herum geschieht und was das mit ihr macht, als hätte sie nichts damit zu tun – eine singuläre Figur in der hiesigen Gegenwartsliteratur, ein weiblicher Rebell, kalt, aber nicht berechnend, denn sie weiß nicht, was sie tut, eine Art deutscher Meursault, eine Fremde in der eigenen Heimat, der „dieses verdammt blaue Blau“des riesigen Himmels ganz schön aufs Gemüt schlägt.
Das Tollste an dem Buch ist die Sprache, die kurzen schneidenden Sätze, Worte wie „rumkrauchen“und „Trockensteher“, wie beiläufig Figuren eingeführt werden, wie die Leute miteinander sprechen, wie das bäuerliche Milieu beschrieben wird, wie sich Gedanken und Realität vermischen – bis alles in einem gleißend hellen Wahnsinn mündet. Nur der „Kreml“fehlt, dafür gibt es ein Teichfest mit Schlagermusik und Glatzen und Kotzen – mindestens ebenso identitätsstiftend wie jede Dorfdisco. Beim Lesen kam mir das alles sehr vertraut vor.
Anfang November 2017 traf ich sie wieder, in Greifswald, bei der Tagung Junge Literatur in Europa. Wir saßen im „Poro“, Restaurant und Cocktailbar, und redeten übers Schreiben, darüber, wie alles angefangen hatte, und sie sagte: „Frühe Schreiberfahrungen fanden im Kopf statt, bei langen Autofahrten, wenn ich rausgeguckt hab, dann hab ich mir immer Sachen vorgestellt, dann war mir nicht langweilig, weil ich in anderen Welten unterwegs war.“