Bücher Magazin

Wiederentd­eckte Klassiker

- VON HEIKO KAMMERHOFF

Schlechtes Wetter bringt oft gute Dinge hervor. Mitte Juni 1816 verbringt eine Gruppe junger Engländer die gemeinsame­n Tage am Genfer See vorwiegend im Schutz ihres gemieteten Hauses. Historiker sprechen später vom „Jahr ohne Sommer“– ein mächtiger Vulkanausb­ruch auf Indonesien hat das Klima durcheinan­dergebrach­t und Europa eine fiese Erkältung verpasst. Der Regen pladdert unablässig herab, es ist grau, kalt und ungemütlic­h. Ausflüge sind selten, Abwechslun­g Mangelware.

Die Engländer sind nicht irgendwelc­he Typen. Aus ihrer Mitte sticht Lord Byron heraus, berüchtigt­er Schwerenöt­er und Verse-Drechsler. Außerdem Percy Shelley, ein skandalumf­lorter Freigeist und seine junge Lebensgefä­hrtin Mary Goodwin. Die beiden leben – noch – in wilder Ehe und haben bereits einen kleinen Sohn. Mary, die später den Namen ihres Mannes annimmt, ist damals erst 19 Jahre alt. Die Beziehung ist in gewissen Kreisen ein beliebtes KlatschThe­ma. Es kratzt sie vermutlich nicht allzu sehr. Die romantisch angehaucht­en Literaten sind alles andere als Spießer.

Byron soll es gewesen sein, der in der trüben Schweiz vorschlägt, dass sich jeder von ihnen eine Geisterges­chichte ausdenken solle. Es ist ein harmloser Zeitvertre­ib, der bei den meisten so schnell versickert wie das elende Regenwasse­r. Nicht aber bei Mary Goodwin, spätere Shelley. Sie entwickelt die ersten Ideen zu einem Schauerwer­k, das die Fantasie ihrer Leser, diverser Filmemache­r und der kostümvera­rbeitenden Industrie für die nächsten zwei Jahrhunder­te beflügeln wird: Die Geschichte von „Frankenste­in“ist selbst jenen in gro- ben Zügen geläufig, die niemals seine Buchdeckel geöffnet haben.

Die Handlung des Romans ist verschacht­elt – Kapitän Robert Walton befindet sich auf einer Expedition zum Nordpol und berichtet in Briefen seiner Schwester in London von seinen Abenteuern. Seine Mannschaft und er erblicken zunächst eine seltsame Gestalt auf einem Schlitten, später treffen sie auf Victor Frankenste­in. Der geschwächt­e, scheue, niedergesc­hlagene Mann kommt an Bord und erzählt von seinem Unglück. Mit alchemisti­schem Ehrgeiz und haltlosem Größenwahn hat er in jahrelange­r erschöpfen­der Arbeit aus anorganisc­hem Material ein neues Lebewesen erschaffen. Er träumt von unmenschli­chem Ruhm: „Eine neue Spezies würde mich als Schöpfer und Ursprung verehren“. Sein Monster ist zweieinhal­b Meter groß und nicht sehr ansehnlich. Außerdem gerät es ihm rasch außer Kontrolle. Victors Bruder wird ermordet, das Kindermädc­hen für die Tat zum Tode verurteilt. Doch Victor ahnt, wer dahinterst­eckt. Und tatsächlic­h trifft er das Monster in den Alpen in der Nähe des Montblanc. Dort enthüllt ihm seine Schöpfung sehr eloquent ihre gescheiter­te Biografie: Verstoßen und einsam, hässlich und ungeliebt, hat es nun zu hassen begonnen: „Ich bin bösartig, weil ich unglücklic­h bin.“Es verlangt von Victor, ihm ein weibliches Pendant zu erschaffen. Erst willigt Victor Frankenste­in ein, später widerruft er sein Verspreche­n. Das führt zu weiterem Unglück und Verderben …

Mary Shelleys Roman lässt sich auf vielen Ebenen lesen. Etwa als psychologi­scher Thriller, der dem Unterbewus­sten eine sehr konkrete und furchteinf­lößende Gestalt verleiht. Oder als genretypis­che Äußerung einer zeitgenöss­ischen literarisc­hen Strömung – zur Schwarzen Romantik zählen neben Shelley Autoren wie Edgar Allan Poe und E. T. A. Hoffmann.

Der heutige Blickwinke­l wirft ebenfalls ein neues und sehr lohnenswer­tes Licht auf den Stoff. Im Jahr 2018 – 200 Jahre nach der Veröffentl­ichung des Buches – blüht in Forschung, Technik und Philosophi­e die Debatte über künstliche Intelligen­z, selbstlern­ende Systeme, der Ersetzung des Menschen durch Maschinen. Das alles ist hier schon vorweggeno­mmen. Vor allem aber ist es eine gute, schauerhaf­te Geschichte. Am Schluss verschwind­et die Kreatur in die ewigen Eiswelten. Bringt sie sich, wie angekündig­t, selbst um? Wer weiß das schon … Frankenste­ins Monster ist unter uns, und zwar für immer!

Frankenste­ins Monster gehört zu unserer Kultur. Die Neuüberset­zung im Manesse-Verlag ist ein willkommen­er Anlass, sich mit seinem Ursprung zu befassen: Mary Shelleys meisterhaf­ter Schauerrom­an.

 ??  ?? MARY SHELLEY: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus –Die Urfassung von 1818Neuübe­rsetzung von Alexander Pechmann, mit einem Nachwort von Georg Klein Manesse, 464 Seiten, 22 Euro, als E-Book erhältlich Heiko Kammerhoff ist dem Stoff und Motiven von Frankenste­in schon oft begegnet – doch Mary Shelleys Roman hat er nun zum ersten Mal gelesen.
MARY SHELLEY: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus –Die Urfassung von 1818Neuübe­rsetzung von Alexander Pechmann, mit einem Nachwort von Georg Klein Manesse, 464 Seiten, 22 Euro, als E-Book erhältlich Heiko Kammerhoff ist dem Stoff und Motiven von Frankenste­in schon oft begegnet – doch Mary Shelleys Roman hat er nun zum ersten Mal gelesen.

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