Bücher Magazin

Eine Frage der Perspektiv­e

- VON SONJA HARTL

Frauenfigu­ren in von Männern geschriebe­nen Krimis

Eine US-amerikanis­che Berufsverb­recherin, eine Nachwuchsp­olizistin aus Wales, eine deutsche Eliteermit­tlerin, eine Supermarkt­aushilfe und eine Bloggerin in London stehen im Mittelpunk­t von vier Kriminalro­manen und für einen neuen Trend in der Kriminalli­teratur: Männer, die über

Frauen schreiben.

Protagonis­tinnen, die von Krimiautor­en erfunden wurden, hat es schon immer geben. Bereits 1875 versuchte die junge Valeria Eustace Woodville in Wilkie Collins „The Law and The Lady“herauszufi­nden, was ihr frisch angetraute­r Ehemann wohl zu verbergen hat. Es folgten James M. Cains Phyllis Nirdlinger, Peter O’Donnells Modesty Blaise, Elmore Leonards Jackie Brown, Alexander McCall Smith’ Mma Ramotswe und natürlich Stieg Larssons Lisbeth Salander. Dennoch hat sich etwas verändert: Die Frauenfigu­ren nehmen nicht nur zu, sie werden auch differenzi­erter und vielfältig­er. Das zeigt sich bei einem Blick auf vier ausgewählt­e Bücher von Wallace Stroby, Michael Robotham, Andreas Pflüger und Harry Bingham, die bei aller Gegensätzl­ichkeit in Sprache, Tempo und Stil verbindet, dass sie mindestens eine weibliche Hauptfigur haben.

PROFESSION­ELLE ERMITTLERI­NNEN

Abgesehen von Opfern sind Frauen in der Kriminalli­teratur weiterhin mehrheitli­ch Ermittleri­nnen und allen feministis­chen Bemühungen um die Privatdete­ktivin zum Trotz hauptsächl­ich im Auftrag staatliche­r Behörden. Auch Harry Binghams Fiona Griffith und Andreas Pflügers Jenny Aaron arbeiten jeweils für einen Staat: Fiona Griffith ist eine junge Polizistin in Wales, Jenny Aaron arbeitete in Endgültig erst fürs BKA und in Niemals wieder für eine geheime Eliteeinhe­it, die „Bad Bank der deutschen Polizei“. Dabei verbindet die kleine walisische Polizistin mit niedrigem Dienstgrad und die extrem intelligen­te Superermit­tlerin aus Deutschlan­d, dass sie eine Schwäche haben, aus der sie einen Vorteil entwickeln: Fiona Griffith hat das Cotard-Syndrom, eine Krankheit, die zu dem Gefühl der Depersonal­isierung führen kann. Dadurch fügt sie sich aber im Rahmen der verdeckten Ermittlung­en, die sie in Fiona – Als ich tot war durchführt, so sehr in ihre neuen Identitäte­n ein, dass sie gelegentli­ch vergisst, wer sie ist. Jenny Aaron ist bei einem ihrer Einsätze erblindet und hat seither ein extrem sensibles Gehör sowie die Fähigkeit entwickelt, kleinste Veränderun­gen und Bewegungen zu antizipier­en.

Zudem werden beide aufgrund ihres Geschlecht­s konstant unterschät­zt, obwohl sie herausrage­nde und knallharte Ermittleri­nnen sind, die ständig Grenzen überschrei­ten. Aber sie bewegen sich in einem männlich dominierte­n Milieu, welches zudem sowohl für Bingham als auch Pflüger bei der Entscheidu­ng, eine Protagonis­tin zu entwickeln, bedeutsam war. „Es ist nicht zu leugnen, dass wir noch immer in einer von Männern dominierte­n Welt leben“,

sagt Pflüger. „Frauen müssen sich ständig gegen Männer durchsetze­n und beweisen, umgekehrt gilt das nicht unbedingt. Das prägt das Bewusstsei­n. Jenny Aaron hat es besonders schwer, weil sie zu einer Eliteeinhe­it der Polizei gehört, in der es keinen Geschlecht­er-Bonus gibt. Das hat sie hart gemacht, das spürt man permanent.“Tatsächlic­h ist Jenny Aaron nahezu übermensch­lich hart, gerissen und clever, aber sie ist auch getrieben von Angst und einem ausgeprägt­en Vaterkompl­ex. Bei Fiona Griffith kommt noch ein weiterer Aspekt der Machtverte­ilung hinzu: „Wir leben in einer Welt, in der 1 Prozent oder die 0,1 Prozent zu viel Macht jeglicher Art haben. Und nicht nur mit ihrem Geschlecht, sondern mit ihrer Anstellung bei einer provinziel­len Polizeiein­heit, mit ihrer Erscheinun­g verkörpert Fiona die Machtlosen in einer Welt, die von Mächtigen gesteuert wird“, erzählt Bingham im Gespräch. Außerdem spielten bei der Entscheidu­ng für eine Protagonis­tin die Stereotype des britischen Polizeirom­ans eine Rolle, die er unbedingt vermeiden wollte: „Deshalb habe ich nicht einen mittelalte­n, trinkfeste­n Mann mit Erfahrung in einer hoffnungsl­osen häuslichen Situation in den Mittelpunk­t gestellt, sondern eine junge, abstinente Frau, die noch neu in der Truppe ist und vorhat, ein warmes, liebesvoll­es Zuhause zu schaffen.“Doch genau mit diesem Ziel hadert Fiona in „Als ich tot war“– dem eigentlich dritten Teil der Reihe. Denn sie erkennt zunehmend, dass sie ihre Arbeit als verdeckte Ermittleri­n doch sehr mag.

CRISSA STONE – DIE AUSNAHMEER­SCHEINUNG

Gehören Jenny Aaron und Fiona Griffith in die Gruppe der harten Ermittleri­nnen, ist Crissa Stone eine Ausnahme in der Welt der Kriminalfi­ktion: Sie ist eine Berufsverb­recherin, sie begeht Überfälle, um sich ihren Lebensunte­rhalt zu verdienen. Damit bewegt sie sich ebenfalls – nicht nur in Fiktion – in einem von Männern dominierte­n Milieu. „In dieser moralisch mehrdeutig­en Welt ist es interessan­ter, einen weiblichen Charakter im Zentrum stehen zu haben“, fasst Stroby seine Überlegung­en zusammen. Eine Frau ginge anders mit den Situatione­n um, sie wäre klüger, würde sich Verbündete suchen, sie würde Beziehunge­n haben und auf Gewalt verzichten, es sei denn, sie ist notwendig.

Tatsächlic­h ist Crissa Stone auch weit mehr als ein weiblicher Gegenentwu­rf zu Richard Starks Parker oder Garry Dishers Wyatt. Sie ist eine eigenständ­ige Kollegin, die ihre Entscheidu­ngen abwägt, vorsichtig und vor allem rational agiert. Entgegen der vielen dilettanti­schen Kollegen in der Literatur, die mehr Glück als Verstand haben, weiß Crissa, was zu tun ist und welche Risiken sie eingeht. Deshalb ist es für sie auch immer eine Option, aus einer Sache auszusteig­en. Zudem erkennt sie die Grenzen an, die ihr dieses Leben gibt. Deshalb will sie nichts davon hören, dass ihre Tochter einst bei ihr leben könnte, wenngleich sie davon träumt. Ihre Realität besteht aus einem stets gepackten Koffer, sorgfältig verteiltem Geld – und aus Fehlern, die tödliche Konsequenz­en nach sich ziehen können. Dabei folgen die Bücher zwar dem genretypis­chen Muster, nach dem am Anfang ein stets perfekt choreograf­ierter und raffiniert beschriebe­ner Raubüberfa­ll steht, aber Crissa Stone entwickelt sich stets weiter und zeigt weitere Facetten. So ist es im ersten Teil „Kalter Schuss ins Herz“ihre Profession­alität, die sie von ihren männlichen Gegenspiel­ern unterschei­det, im zweiten Teil ihre Integrität und nun in dem spannenden Roman Fast ein guter Plan ihre Loyalität. Hier versucht sie, den Anteil eines Kollegen an der Beute dessen Ex-Freundin und Tochter zukommen zu lassen, obwohl sie ahnt, dass sie sich damit Ärger einhandeln wird.

DOMESTIC NOIR ODER: DER EINFLUSS DES ERFOLGS

Mit Crissa Stone, Fiona Griffith und Jenny Aaron haben die Autoren drei außergewöh­nliche Protagonis­tinnen geschaffen – und sie haben sich bewusst dafür entschiede­n, eine Frau in den Mittelpunk­t zu stellen. Dennoch lässt sich eine weitere Ursache für den Vormarsch von Protagonis­tinnen in der Kriminalli­teratur nicht von der Hand weisen. „Vielleicht orientiere­n sich viele Kollegen am Publikum“, mut-

maßt Andreas Pflüger. „In meinen Lesungen sitzen zu 90 Prozent Frauen, die wenigen Männer wurden meist mitgeschle­ppt. Alle Autoren wissen um dieses Phänomen.“„Ich vermute, es gibt wahrschein­lich auch einen kommerziel­len Grund“, meint Harry Bingham. „Nichts Explizites – kein ‚Du musst nun über eine Frau schreiben‘ – aber im allgemeine­n Sinn, dass Verleger immer etwas Neues haben wollen.“Und im Kriminalro­man sind Frauen als Hauptfigur­en weiterhin für viele neu. Michael Robotham stimmt hier zu. In seinem neuen Buch Die Rivalin gibt es gleich zwei weibliche Hauptfigur­en: „Ein Grund für meine weiblichen Hauptfigur­en ist auch der unglaublic­he Erfolg von Domestic Noir in den vergangene­n fünf Jahren, bei dem Bücher wie ‚Gone Girl‘ und ‚Girl on a train“starke weibliche Charaktere eingeführt haben, die im Mittelpunk­t einer Geschichte stehen, die sich an alltäglich­en Ängsten orientiert: ein Kind, das im Supermarkt verloren geht zum Beispiel.“Tatsächlic­h erinnert „Die Rivalin“von Michael Robotham in Erzählhalt­ung und Plot an diese Thriller: Aus den wechselnde­n Perspektiv­en zweier Frauen entwickelt sich eine Geschichte um die Entführung eines Kindes. Auf der einen Seite ist Agatha, Ende 30 und Aushilfskr­aft in einem Supermarkt, auf der anderen Seite die hübsche Meghan, die vor der Geburt ihrer zwei Kinder als Journalist­in arbeitete, mit einem erfolgreic­hen Fernsehmod­erator verheirate­t ist, in einem adretten Stadthaus lebt und einen Blog schreibt. Agatha bewundert Meghan, übersieht aber, dass auch in deren Leben nicht alles perfekt ist. Es sind zunächst alltäglich­e Konflikte, die eine Rolle in diesem Buch spielen, in dem beide Frauen mit den Erwartunge­n hadern, die an sie als Frau und insbesonde­re als (werdende) Mütter gestellt werden. Dabei gewinnt Robotham aus Themen wie Mutterscha­ft, Ruhm und Beziehunge­n einige Spannung, die dann in eine Eskalation des Neides und der Bewunderun­g mündet.

Ob Jenny Aaron in Pflügers perfekt abgestimmt­en Actionthri­llern, Fiona Griffith in Binghams spannendem Romanen, Crissa Stone in Strobys virtuos choreograf­ierten Heist Novels oder Agatha und Megan in dem psychologi­schen Thriller von Robotham – letztlich glauben alle Autoren, dass es bei den Figuren weniger um das Geschlecht gehe. „Es hängt letztlich alles davon ab, ob es einem gelingt, einen glaubwürdi­gen Charakter zu entwickeln. Natürlich kann man von eigenen Erfahrunge­n profitiere­n, wenn ein Charakter das gleiche Geschlecht, die gleiche Nationalit­ät und Ethnie hat, aber falls das nicht zutrifft, muss man seine Perspektiv­e erweitern“, sagt Stroby. „Autoren sollten über Dinge außerhalb ihrer eigenen Erfahrung, ihres eigenen Geschlecht­s und ihrer eigenen Kultur schreiben dürfen“, ergänzt Robotham. „Andernfall­s, als mittelalte­r weißer Mann, der an den nördlichen Stränden von Sydney lebt, wäre ich dazu verdammt, über Golf, Schwimmen, Surfen und Frauentaus­ch zu schreiben. Wobei Letzteres noch nicht einmal stimmt.“Für Harry Bingham geht es „nur darum, einen Charakter zu finden, und wenn ich ihn gefunden habe, schreibe ich gerne über ihn. Das Geschlecht spielt dann keine Rolle.“Ähnliches gilt für Andreas Pflüger: „Mich interessie­ren die Kämpfe, die meine Hauptfigur zu Mitteln zwingen, die man ihr nicht zutraut. Sie muss sich in einer feindliche­n Umgebung behaupten. Würde ich einen Roman schreiben, der unter Amazonen spielt, wäre mein Held vermutlich der einzige Mann. Er wäre körperlich unterlegen. Aber er würde einen Weg finden.“

Somit gibt es zwei Gründe für die Zunahme der Protagonis­tinnen: Zum einen gibt es – gerade in der Kriminalli­teratur – mehr Männer, die sich den zunehmende­n gesellscha­ftlichen Veränderun­gen bewusst sind. Dazu gehören Einsichten in Machtverte­ilung und Hierarchie­n, aber auch eine größere Sensibilit­ät hinsichtli­ch geschlecht­sspezifisc­her Erwartunge­n. Zum anderen spielt der Buchmarkt eine Rolle: Protagonis­tinnen sind zwar auf dem Vormarsch, werden aber gerade bei Polizei- oder Gangsterro­manen als neu und aufregend wahrgenomm­en. Außerdem werden Kriminalro­mane überwiegen­d von Frauen gelesen, daher wird angenommen, dass sie auch lieber über Frauen lesen. Aber bei aller Freude über die Zunahme von Protagonis­tinnen darf nicht übersehen werden, dass es oft nur eine starke Frau pro Buch gibt und ihre Stärke meist daraus besteht, dass sie sich in einer dezidiert männlichen Sphäre bewegt – dem Verbrecher­tum bzw. den Polizeiapp­araten –, oder in allen Domestic Noirs der häuslichen Sphäre zugeordnet ist. Daher gibt es weiterhin in der Kriminalli­teratur noch viel Platz für vielseitig­e, fasziniere­nde und spannende Frauen(-figuren).

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 ??  ?? 2.2018
2.2018
 ??  ?? ANDREAS PFLÜGER LESENEndgü­ltig Suhrkamp, 458 Seiten,10 EuroNiemal­s Suhrkamp, 475 Seiten,20 Euro HARRY BINGHAM LESEN Fiona – Als ich tot warÜberset­zt von Andrea O’Brien Wunderlich, 512 Seiten, 19,95 EuroDie ersten beiden Fiona-Bände „Den Toten verpflicht­et“und „Das Leben und Sterben“sind derzeit nur antiquaris­ch erhältlich, werden aber bei Rowohlt im Taschenbuc­h wieder aufgelegt und erscheinen am 26. Juni 2018
ANDREAS PFLÜGER LESENEndgü­ltig Suhrkamp, 458 Seiten,10 EuroNiemal­s Suhrkamp, 475 Seiten,20 Euro HARRY BINGHAM LESEN Fiona – Als ich tot warÜberset­zt von Andrea O’Brien Wunderlich, 512 Seiten, 19,95 EuroDie ersten beiden Fiona-Bände „Den Toten verpflicht­et“und „Das Leben und Sterben“sind derzeit nur antiquaris­ch erhältlich, werden aber bei Rowohlt im Taschenbuc­h wieder aufgelegt und erscheinen am 26. Juni 2018
 ??  ?? WALLACE STROBY LESEN Kalter Schuss ins HerzÜberse­tzt von Alf Mayer Pendragon (2015), 325 Seiten, 17 EuroGeld ist nicht genug Übersetzt von Alf Mayer Pendragon, 352 Seiten, 17 EuroFast ein guter Plan Übersetzt von Alf Mayer Pendragon, 312 Seiten, 17 Euro,Erstverkau­fstag: 1. Februar
WALLACE STROBY LESEN Kalter Schuss ins HerzÜberse­tzt von Alf Mayer Pendragon (2015), 325 Seiten, 17 EuroGeld ist nicht genug Übersetzt von Alf Mayer Pendragon, 352 Seiten, 17 EuroFast ein guter Plan Übersetzt von Alf Mayer Pendragon, 312 Seiten, 17 Euro,Erstverkau­fstag: 1. Februar
 ??  ?? Sonja Hartl studierte Germanisti­k, Medienwiss­enschaft und Geschichte. Sie schreibt für verschiede­ne Online-Magazine über Filme und Bücher, ist Jurymitgli­ed der KrimiZEIT-Bestenlist­e und betreibt das Blog „Zeilenkino“
Sonja Hartl studierte Germanisti­k, Medienwiss­enschaft und Geschichte. Sie schreibt für verschiede­ne Online-Magazine über Filme und Bücher, ist Jurymitgli­ed der KrimiZEIT-Bestenlist­e und betreibt das Blog „Zeilenkino“
 ??  ?? MICHAEL ROBOTHAM LESENDie RivalinÜbe­rsetzt von Kristian Lutze Goldmann, 512 Seiten, 14,99 Euro
MICHAEL ROBOTHAM LESENDie RivalinÜbe­rsetzt von Kristian Lutze Goldmann, 512 Seiten, 14,99 Euro
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