Bevor sie tot sind
Ellen Sandbergs „Die Vergessenen“
Unter dem Pseudonym Ellen Sandberg hat Inge Löhnig einen neuen, berührend anderen Roman geschrieben: historische Fakten aus dem Dritten Reich spannend verknüpft mit einer aktuellen fiktiven Kriminalgeschichte.
Journalistin Vera Mändler hat seit dem Schlaganfall ihrer Tante Kathrin nicht nur ihr eigenes, in leichter Schieflage befindliches Leben zu regeln, sondern auch deren Besitz gegen ihren habgierigen Cousin zu verteidigen. In Geldnot nutzt Cousin Chris Kathrins geheime Vergangenheit, um jemanden zu erpressen. Auf der Suche nach Beweisen für dessen Taten, die sich seit Jahrzehnten in Kathrins Besitz befinden, stellt er ihre Wohnung auf den Kopf. Vera ist unglücklich in ihrer Beziehung und leidet unter der Sinnlosigkeit ihrer Arbeit für eine Best-Ager-Gazette. Als sie versucht, Ordnung in die Habseligkeiten ihrer Tante zu bringen, stößt sie auf Hinweise, dass in deren Jugend nicht alles so war, wie sie es dargestellt hatte. Journalistin Vera wittert den Scoop, der sie aus der Falle, lebenslang über HormonYoga schreiben zu müssen, herausholt. Und sie will wissen, wer ihre Tante wirklich war und was sie zum Kriegsende getan hat. Es ist ein grausames Geheimnis, das Tante Kathrin verbirgt und dessen mögliche Offenbarung schon einmal jemanden das Leben gekostet hat. Auch jetzt rufen Chris’ und Veras Aktivitäten einen Akteur auf den Plan, dessen Job es ist, solche Probleme diskret zu lösen. Doch Manolis Lefteris trägt selbst ein Trauma in sich. Seine griechischen Vorfahren väterlicherseits wurden Opfer eines Massakers durch die Deutschen im Jahr 1944. Sein Vater pflanzte dem kleinen Manolis das Grauen ein, das er selbst als Kind hatte ansehen müssen, und die Bilder leben in Manolis Kopf weiter. Als sich herausstellt, dass die Beweise, die Manolis vernichten soll, womöglich einen Kriegsverbrecher entlarven, muss er sich zwischen der Loyalität gegenüber seinen Auftraggebern und seiner eigenen Integrität entscheiden.
Ellen Sandberg alias Inge Löhnig verknüpft hier geschickt die letzten Kriegsjahre in einer Heil- und Pflegeanstalt namens Winkelberg mit der heutigen Jagd nach den Beweisen für die dort geschehenen Gräueltaten, die die Zeiten überdauert haben. Aus der Perspektive der jungen Pflegeschwester Kathrin wird erzählt, wie Kinder infiziert oder getötet, Pfleglinge absichtlich unterernährt wurden. Die Figuren sind erfunden, Ähnlichkeiten mit der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar dagegen nicht zufällig, schreibt die Autorin, ebenso nicht Parallelen zu einem Massaker 1944 in Distomo, Griechenland. Die Themen sind trotz der langen Historie aktuell. Mit der Eurokrise flammte auch die Wut über fehlende Entschädigungen durch Deutschland in Griechenland wieder auf. Einige der letzten lebenden Mitglieder der Waffen-SS kommen derzeit vermehrt vor Gericht. Viele Jahrzehnte nach der sogenannten Entnazifizierung und vermeintlichen Strafverfolgung der an den organisierten Tötungen in den Konzentrationslagern Beteiligten hat sich noch einmal etwas an der Rechtssituation geändert. Man spürt dem Roman an, dass es die Autorin berührt, wie wenige Rechenschaft für ihre Taten ablegen mussten. Inge Löhnig lässt ihre Figuren nach der Schuld und der Verantwortung der Hinterbliebenen und Geheimnisträger fragen. Nach der Lektüre des hervorragend recherchierten Buches drängt sich auf: Wenn solche Unmenschlichkeit Jahrzehnte ungesühnt bleibt, sehen wir dann eigentlich genau hin?