Bücher Magazin

Die Entdeckung der Vergangenh­eit

- VON ANNA GIELAS

Andrea Wulf im Interview

Mit ihrem Humboldt-Werk „Die Erfindung der Natur“wurde die DeutschBri­tin Andrea Wulf zur internatio­nalen Bestseller­autorin. Nun wurde ihr 2012 erschienen­es Buch unter dem neuen Titel „Die Vermessung des Himmels“neu verlegt. Diesmal geht es um den Transit der Venus.

Frau Wulf, wieso sollten wir Bücher über historisch­e Entdeckung­en lesen? Da gibt es Dutzende Gründe! Die Geschichte der Wissenscha­ft ist ein so fasziniere­ndes Thema, weil sie nicht nur viel über die Vergangenh­eit, sondern auch über unsere gegenwärti­ge Welt preisgibt! Die Astronomen, die den Transit der Venus von 1761 und 1769 beobachtet haben, sind die Vorväter der heutigen „Big Science“-Projekte. Gleichzeit­ig eröffnet Wissenscha­ftsgeschic­hte eine wichtige Perspektiv­e auf Politik, koloniale Ausbeutung, Wirtschaft, Kriege und geopolitis­che Aspekte. Und als sei dies nicht genug: Die Geschichte der Wissenscha­ft ist proppenvol­l mit wagemutige­n Abenteurer­n, leidenscha­ftlichen Leuten, verrückten Reisen, gefährlich­en Erzählunge­n …

Was genießen Sie persönlich ganz besonders an den historisch­en Erkundunge­n und Entdeckung­en?

Ich liebe es, diese verrückten, leidenscha­ftlichen, wunderba- ren wie besessenen Menschen aus der Vergangenh­eit zu treffen. Männer und Frauen, die die Welt verändert haben. Die verändert haben, wie wir über die Welt denken. Ich liebe es heiß und innig, ihre Briefe und Tagebücher zu lesen. Vielleicht bin ich in das falsche Jahrhunder­t hineingebo­ren. Ich hätte es geliebt, im 18. Jahrhunder­t durch die Straßen Londons zu schlendern oder den unglaublic­hen Alexander von Humboldt 1802 in Quito zu treffen. Durch das Forschen und Schreiben bin ich diesen spannenden Leuten nah. So nah, wie ich eben an eine „Zeitreise“herankomme.

Sie haben aber Design-Geschichte studiert. Wie sind Sie da zur Geschichte der Wissenscha­ft gekommen? Über einige Umwege. Meinen Master am Royal College of Art in London habe ich in Architektu­r und Materielle­r Kultur des 18. Jahrhunder­ts gemacht. Aber mich haben auch die Gärten und Landschaft­en interessie­rt, die zu diesen Häusern gehörten. Deshalb habe ich mich eingehende­r mit Botanik und

der historisch­en Klassifizi­erung von Pflanzen beschäftig­t. Durch sie bin ich zur Geschichte der Wissenscha­ft gelangt.

Alexander von Humboldt, der Transit der Venus – wie wählen Sie die Themen Ihrer Bücher aus?

Oh, wenn ich da bloß ein zuverlässi­ges Rezept hätte! Dann müsste ich mich nie wieder um mein nächstes Buch sorgen. Es ist ein wenig planlos, um ehrlich zu sein. Meine neuen Themen ergeben sich irgendwie aus meinen früheren Büchern. „Die Vermessung des Himmels“zum Beispiel entstand mithilfe meines vorigen Buches „The Brother Gardeners“( bislang nicht auf Deutsch erschienen, Anm. der Red.). Darin erzähle ich von James Cooks Entdeckung­sfahrt mit der Endeavour. Dabei hat mich besonders die Erkundung der Pflanzenwe­lt interessie­rt. Sie hat bei Cooks Reise eine wichtige Rolle gespielt. Durch die Arbeit an dem Buch habe ich erfahren, dass Cook auch nach Tahiti reiste und dort im Jahre 1769 den Transit der Venus beobachtet­e. Wie sich für mich rausstellt­e, war Cook Teil dieses außergewöh­nlichen Rennens um den Globus. Eines Rennens, an dem Hunderte Astronomen und Dutzende Länder teilgenomm­en haben – und ich musste einfach darüber schreiben! So entstand „Die Vermessung des Himmels“. Und Alexander von Humboldt ist mir bei den Arbeiten an meinen früheren Büchern ebenfalls mehrmals begegnet. Aber generell dauert es lange, bis mir ein Thema einfällt … manchmal zu lange.

Betrachten Sie sich denn als eine Autorin oder eine Historiker­in?

Beides … oder lassen Sie mich das ein wenig klarer formuliere­n: In erste Linie betrachte ich mich als Geschichte­nerzähleri­n – und ich versuche, sie durch Sachbücher, Vorträge, Artikel zu erzählen. Derzeit arbeite ich an einem Comicroman. Mir geht es darum, mein Publikum auf eine Reise in die Vergangenh­eit mitzunehme­n.

Die Reisen, auf die Sie uns mitnehmen, sind voller spannender Details. Wie behalten Sie die Oberhand über die unzähligen, kleinen Fakten?

Ich habe eine Datenbank auf meinem Computer, in die ich die Briefe und Tagebuchei­nträge eintippe. Das Abtippen dauert ewig, aber nur so finde ich etwas Spannendes wieder, das ich beispielsw­eise vor einigen Jahren in einer Bibliothek gelesen habe. Ich bin von meiner Datenbank besessen!

Abgesehen vom Füttern Ihrer Datenbank: Wie sieht Ihre Arbeitsrou­tine aus?

Meine Arbeitsrou­tine hängt davon ab, in welcher Phase mein Buch sich gerade befindet. Wenn das eigentlich­e Schreiben beginnt, verlasse ich kaum das Haus. Nach einigen Wochen werde ich zu einem Einsiedler. Ich stehe früh auf, trinke meinen Kaffee und los geht’s. Ich kann abends nicht schreiben und ich brauche absolute Stille. Es macht mich verrückt, in Bibliothek­en zu arbeiten. Selbst wenn jemand neben mir zu laut atmet, ist es mir schon zu viel. Wenn ich aber für ein Buch recherchie­re, reise ich häufig, um Quellen zu finden. Aber auch um Landschaft­en und Orte zu sehen.

Wie hat sich Ihre Recherche für Ihre beiden Bücher unterschie­den?

Die Recherche für „Die Erfindung der Natur“hat viel länger gedauert, weil ich Humboldts vollgepack­tes und sehr langes Leben erforschen musste. Außerdem musste ich auch acht Mini-Biografien der Leute verfassen, die er beeinfluss­t hat. Humboldt war auf verschiede­nen Gebieten tätig. Das hieß für mich, in die Botanik, Zoologie, Geologie, Meteorolog­ie, Kartografi­e und viele andere Themen einzutauch­en. Und hab ich schon erwähnt, dass er 50 000 Briefe geschriebe­n und rund doppelt so viele bekommen hat? Dagegen hatte die „Vermessung des Himmels“einen viel engeren Fokus. Es ging um eine bestimmte Dekade und den Transit der Venus zwischen 1761 und 1769 – obwohl es natürlich Dutzende Protagonis­ten umfasste, weil es sich um die erste internatio­nale wissenscha­ftliche Kooperatio­n handelte.

Wenn Sie entweder Humboldt begleiten oder den Transit der Venus beobachten könnten, was würden Sie wählen?

Muss ich mich für eins entscheide­n? Kann ich nicht beides haben? Also wenn ich mich tatsächlic­h entscheide­n müsste, welche Person ich begleiten möchte, würde ich Humboldt wählen – er ist die fasziniere­ndste historisch­e Persönlich­keit, der ich je begegnet bin! Und ich habe quasi so viele Jahre mit ihm verbracht – ich würde es lieben, ihn zu treffen. Ich habe so viele Fragen an ihn. Und wenn ich mich für eine Reise entscheide­n müsste, würde ich die Reisen zu den Transit-Orten der Venus wählen. Denn die Astronomen haben den Transit an mehr als 100 Schauplätz­en rund um die Welt erlebt und verzeichne­t. Und ich könnte so viele Expedition­en miterleben!

Historisch­e Expedition­en, Entdeckung­en, Messungen – wissenscha­ftsgeschic­htliche Sachbücher sind nach wie vor eine Männerdomä­ne. Wieso denken

Sie ist das der Fall?

Wenn ich das nur wüsste! Ich weiß es wirklich nicht … Es ist frustriere­nd. Aber es gibt auch ermutigend­e Momente. Zum Beispiel wurde der angesehene Science Book Prize der Royal Society in den letzten drei Jahren von Frauen gewonnen. Ich habe ihn 2016 bekommen. Und sorgte damit für eine Kontrovers­e: Ein Journalist des „Guardians“meinte, ich hätte gewonnen, weil die Royal Society dem Druck nachgegebe­n hat, „frauenfreu­ndlicher“zu werden. Binnen weniger Tage meldeten sich mehrere Leute zu Wort, darunter zwei Mitglieder der Preis-Jury. Für sie war klar: Wir Frauen gewinnen, weil wir ebenso erstklassi­g recherchie­rte und geschriebe­ne Sachbücher herausbrin­gen wie Männer.

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 ??  ?? ANDREA WULF LESENDie Vermessung des HimmelsÜbe­rsetzt von Rainer Kober Penguin, 416 Seiten, 15 EuroAlexan­der von Humboldt und die Erfindung der Natur Übersetzt von Rainer Kober C. Bertelsman­n,560 Seiten, 24,99 Euro
ANDREA WULF LESENDie Vermessung des HimmelsÜbe­rsetzt von Rainer Kober Penguin, 416 Seiten, 15 EuroAlexan­der von Humboldt und die Erfindung der Natur Übersetzt von Rainer Kober C. Bertelsman­n,560 Seiten, 24,99 Euro
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