Erleben vs. Erklären
Vier weibliche Perspektiven auf die Naturwissenschaften
Ebenso wie die Naturwissenschaften selbst ist auch das Bücherschreiben in diesem Segment noch eine Männerdomäne. Wir stellen vier interessante Sachbuch-Autorinnen und ihre zoologischen und astronomischen Werke vor.
Zahlen sind nicht nur Symbole auf einem Blatt Papier. Sie sind Türen zu unserer Welt. Das glaubte die verstorbene indische Rechenkünstlerin Shakuntala Devi. Und einige Zahlen offenbaren eine Welt der Ungleichheit. So auch die „Spiegel“-Bestsellerliste. In den zehn Wochen vor dem Einreichen dieses Beitrags verzeichneten die Top Ten der „Hardcover Sachbuch“-Liste sieben Bücher von Frauen. Dagegen tummelten sich hier 21 Veröffentlichungen von Männern. Das Bestseller-Verzeichnis legt nahe: Männer erklären die Welt.
Frauen dagegen erleben sie. Das suggerieren die aktuellen Erscheinungen, darunter zwei zoologische Werke von Sy Montgomery und Elli H. Radinger zu.
Bei Sy Montgomery geht es nicht etwa um Kätzchen oder Kälbchen – sondern um Kraken. Doch wer glaubt, ein 336-seitiges „Rendezvous mit einem Oktopus“sei viel zu lang, wird seine Meinung bereits nach den ersten Seiten revidieren. „Der Oktopus ist ein Tier, das über Gift verfügt wie eine Schlange, über einen Schnabel wie ein Papagei und über Tinte wie ein altmodischer Füllfederhalter. Er kann sich bis zur Größe eines Autos ausstrecken und dennoch seinen schlabberigen, knochenlosen Körper durch ein Loch mit dem Durchmesser einer Orange zwingen“, schreibt Montgomery, die weder Wissenschaftlerin noch Oktopoden-Expertin ist. Doch Montgomerys Werk bietet mehr als feine Wissenshäppchen. Der Titel des Buches bringt es auf den Punkt: Die Autorin begegnet den Tieren – wie bei einem Rendezvous – mit viel Herz und allen Sinnen. So gelingt ihr ein kleines Kunststück: Sie schafft es, ausgerechnet jenem Tier das Befremdliche zu nehmen, das drei Herzen hat und dessen Gehirn um seinen Hals gewickelt ist.
WILLKOMMEN IM RUDEL
Die deutsche Autorin Elli H. Radinger erlebt wiederum das Vertraute und „Menschliche“an einem Tier, mit dem der Mensch im Laufe der Geschichte ständig aneinandergeraten ist: dem Wolf. Radingers Buch „Die Weisheit der Wölfe“ist nicht so elegant und fließend geschrieben wie Montgomerys Werk. Aber die Freude der Autorin am Wolf steht Montgomerys Faszination am Oktopus in nichts nach.
Auch Radinger ist keine studierte Zoologin. Sie legte ihr Leben als Rechtsanwältin ab und bewarb sich um ein Praktikum in einem Wolfsforschungsgehege. Die Zusage erhielt sie von einem Vierbeiner: Allein der Leitwolf des Hauptrudels entschied über ihre Einstellung. Und ihm war die beherzte Autorin sofort willkommen. Sie zog in eine Blockhütte inmitten eines Wolf- und Bärengebiets. Von hier aus erlebte sie die Welt der Wölfe: In jedem ihrer Kapitel konzentriert sich Radinger auf einen Aspekt des wölfischen Zusammenlebens, darunter die Familie, Kommunikation, Erziehung der Kleinen. Besonders bewegend ist ihr Kapitel zur Trauer: Der Schmerz über den Verlust eines zentralen Gefährten lässt auch Wölfe in einem furchtbaren Zustand zurück. Radingers Buch ist voller spannender Details. Etwa: Wölfe können bei Gefahr bellen. Aber anders als so mancher Hollywoodfilm suggeriert, sind ihre Kämpfe „gespenstisch still“, so die Autorin. An manchen Stellen treibt Radinger die Verglei-
che zwischen Wolf und Mensch ein wenig zu weit. Aber sie macht den Leser auf feine und einfühlsame Art mit dem Vierbeiner vertraut.
NACH DEN STERNEN GREIFEN
Auch in dem Buch der preisgekrönten Dava Sobel steht das Erleben im Vordergrund: Sie erlebt die Welt vergangener Generationen. Wie Andrea Wulf (siehe Interview Seite 54) widmet sich Sobel wissenschaftshistorischen Persönlichkeiten – und rekonstruiert ihr Werk mit großer Aufmerksamkeit für Details.
Sobels neueste Lektüre „Das Glas-Universum“ist so wichtig wie empfehlenswert. Die Autorin erzählt von Frauen wie Williamina Fleming und Antonia Maury: den Amerikanerinnen, die an der Harvard University Hunderttausende von Sternspektren vermaßen und kartografierten – in den letzten Jahrzenten des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts. „Noch bevor man Frauen das Wahlrecht zugestand, leisteten einige von ihnen einen solch bedeutenden Beitrag zu dieser Wissenschaft, dass ihr Name in die Annalen der Astronomie einging“, schreibt Sobel. Sie stellt so viele Damen und ihre Leistungen vor, dass man an allen interessiert, aber von keiner berührt ist. Was genau richtig ist: So sensibilisiert Sobel ihre Leser für die historische Geschlechterungleichheit in den Wissenschaften – und illustriert zugleich, dass unser Wissen über den Nachthimmel auf Verdiensten beider Geschlechter beruht.
In dem Buch „Das Universum und ich“von Sibylle Anderl geht es ebenfalls um Astronomie. Auf ihrem knappen Tauchgang in die Geschichte der Astrophysik erwähnt Anderl die „Frauen, die sich für die stupide Arbeit der Durchsicht von Hunderttausenden Sternspektren nicht zu schade waren“. Die hier salopp abgefertigten Damen sind die Protagonistinnen aus Sobels Buch. Die vermeintlich stupide Arbeit bot Frauen einen wichtigen Zugang zur astronomischen Forschung und war einer der Türöffner für die anschließenden Generationen von Damen, die es in die Astrophysik verschlug – Anderl eingeschlossen.
Anderl ist rund 30 Jahre jünger als Sobel, Montgomery und Radinger. Sie ist promovierte Astrophysikerin. Und ihre saloppe Formulierung über die Harvard-Rechnerinnen spiegelt die wunderbare Entwicklung: Für sie und ihre Generation ist es selbstverständlich, an der Wissenschaft teilhaben zu können. Dieses Gefühl der Selbstverständlichkeit fehlt ihr als Sachbuchautorin: „Das Universum und ich“ist nicht austariert. Anderl scheint nicht recht zu wissen, ob es ihr um das Erklären oder Erleben geht. Das wird besonders dort deutlich, wo sie unterschiedliche Leserschaften adressiert, aber keiner ganz gerecht wird.
Eigentlich ist ihr Buch einer spannenden Frage gewidmet: Wie kommen Astrophysiker zu ihren Erkenntnissen? Schließlich können die Forscher nicht „mal eben“ins Labor und ihre Annahmen durch Experimente überprüfen. Das scheint der Schwachpunkt des Forschungsfeldes. Doch Anderl suggeriert, dass die Astrophysik, die derzeit hauptsächlich auf der Methode der Beobachtung beruht, ebenso fundierte wie wichtige Erkenntnisse hervorbringen kann. In Anderls Buch gibt es zwei überraschende Protagonisten: ihren Papa und ihre Mama. Die zwei sollen die Laien-Leser verkörpern und mit ihren Fragen eine Basis für die Erklärungen der Autorin schaffen. Doch gerade Laien werden nicht zufriedenstellend an das Thema herangeführt: Wieso sollten sie sich überhaupt mit der Methodik der Astrophysik auseinandersetzen? Was bringt ihnen die Reise durch Theorien und Überlegungen? Hobby- sowie Berufsphysikern und Astronomen könnte Anderls Buch durch Papa und Mama wiederum zu flapsig werden.
Als junge Astrophysikerin und Zeitungsredakteurin hat Anderl das nötige Werkzeug, um uns die Welt zu erklären. Wenn sie diese Fähigkeit in Zukunft besser austariert, haben wir eine spannende Sachbuchautorin gewonnen. Und mit ihr hoffentlich viele mehr.