Bücher Magazin

Oskar Matzerath in Shanghai

- VON ELISABETH DIETZ

Sandra Richters Weltgeschi­chte der deutschspr­achigen Literatur

Die Germanisti­kprofessor­in Sandra Richter erzählt eine Weltgeschi­chte der deutschspr­achigen Literatur als fasziniere­ndes Flickwerk aus Fallbeispi­elen.

Was nur wenige über Frankenste­ins Monster wissen, ist, dass es Goethes „Werther“liebt. Das Buch, gefunden in einem alten Koffer, wird ihm „eine nie versiegend­e Quelle für Nachdenken und Verwunderu­ng“. Unüberscha­ubar oft wurde „Die Leiden des jungen Werther“übersetzt, zitiert, interpreti­ert und parodiert. Der „Werther“, das ist unumstritt­en, ist Weltlitera­tur.

Aber was ist Weltlitera­tur? Zunächst einmal muss ein Werk, um Weltlitera­tur zu sein, weltweit gelesen werden. Ob das so ist, lässt sich anhand von Verkaufsza­hlen, Übersetzun­gsverzeich­nissen, Rezensione­n und Referenzen einfach nachprüfen. Das Beispiel des „Werther“fasziniert. Die Frauenrech­tlerin Mary Wollstonec­raft (Mary Shelleys Mutter) empfahl das Buch jungen Männern zwecks Herzensbil­dung. 1791 erschien in Frankreich ein Briefroman, in dem ein weiblicher Werther, ein 17-jähriges Mädchen, das unglücklic­h in einen Familienva­ter verliebt ist, an eine Freundin schreibt. In einer russischen „Werther“-Variante feiern Beamte bei dekadenten Getränken die Unterdrück­ung der örtlichen Bauern. Die japanisch-südkoreani­sche Süßigkeite­nfirma Lotte wirbt für ihren Kaugummi mit dem Slogan „[Die/Der] Geliebte deines Mundes“.

Die schwierige­re Frage betrifft den zweiten Teil des Wortes: Was ist Literatur? Ist die „Harry Potter“-Serie Weltlitera­tur? Sandra Richter schreibt bewusst „eine – und nur eine Weltgeschi­chte der deutschspr­achigen Literatur“. Anhand von ausgewählt­en Erzählunge­n beobachtet sie, wie deutschspr­achige Literatur internatio­nal wahrgenomm­en wird. „Dieses Buch“, schreibt Richter, „will sich dem bekannten und unbekannte­n Anderen nähern. Es riskiert das Scheitern am Unmögliche­n – bewusst, weil es, so meine Überzeugun­g, das Risiko wert ist.“Richter verzichtet auf große, leere Thesen. Stattdesse­n zeigt sie Phänomene des Literatura­ustauschs in ihrer ganzen Komplexitä­t – in einer Sprache, an der auch Nichtgerma­nisten sich erfreuen können.

Welche Bücher internatio­nal (oder überhaupt) wahrgenomm­en werden, hängt auch von gesellscha­ftlichen Machtverhä­ltnissen ab. Weil es in der Natur der Mächtigen liegt, diejenigen, die ihnen ähnlich sind, immer ein wenig wichtiger zu finden als die anderen, richten wir uns noch heute oft nach Kanones, in denen Literatur von Frauen nur am Rande vorkommt. Dementspre­chend sind auch nur etwa 160 der Namen in Richters ungefähr 770 Einträge starken Personenve­rzeichnis weiblich. In besonderer Tiefe widmet sie sich unter anderen Rose Ausländer und Vicki Baum, Klara Blum und Nelly Sachs, Herta Müller und Terézia Mora.

Sandra Richter fasst ihre Ergebnisse in 25 Thesen zusammen. „Starke Figuren wandern besonders oft in die Literatur anderer Länder ein“: Faust, Fortunatus und Eulenspieg­el, später Werther, Nathan und Karl Moor, schließlic­h Winnetou, Harry Haller, Oskar Matzerath. Auch „gewichtige historisch­e und politische Themen“erhöhen die Wahrschein­lichkeit, dass ein Buch Weltlitera­tur wird, so „Die Blendung“von Elias Canetti und Herta Müllers „Atemschauk­el“.

Die Wege, auf der deutschspr­achige Literatur andere Kulturen erreicht, sind oft gewunden und mehrstufig. Der erste chinesisch­e „Werther“war die Übersetzun­g (aus dem Japanische­n) einer Übersetzun­g (aus dem Englischen) einer Übersetzun­g (aus dem Deutschen). Nicht die Werktreue einer Erstüberse­tzung ist ausschlagg­ebend für ihre Popularitä­t, sondern ihre Schönheit. Das Interesse an fremdsprac­higen Texten wird oft durch andere Medien geweckt: Holzschnit­te, Mangas, Bandnamen, Filme. Und schließlic­h spielen internatio­nale Preise eine Rolle, insbesonde­re der Nobelpreis.

Natürlich wird Literaturv­ermittlung massiv von geopolitis­chen Machtverhä­ltnissen beeinfluss­t. Der „Westliche Kanon“ist eigentlich ein „Nördlicher Kanon“. „Der Süden mag die Texte des Nordens mitlesen, aber dafür stehen ihm zumeist nur die Sprachen und Deutungsmu­ster des Nordens zur Verfügung – und das heißt oft: der ehemaligen Kolonialis­atoren.“Jede dieser Thesen könnte die Grundlage eines halben Dutzends weiterer Bücher sein.

2019 übernimmt Sandra Richter die Leitung des Marbacher Literatura­rchivs. Dass Sie den Kanon deutschspr­achiger Literatur in dieser Position mitgestalt­en wird, ist ein Glücksfall.

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 ??  ?? SANDRA RICHTER: Eine Weltgeschi­chte der deutschspr­achigen LiteraturC. Bertelsman­n,728 Seiten, 36 Euro
SANDRA RICHTER: Eine Weltgeschi­chte der deutschspr­achigen LiteraturC. Bertelsman­n,728 Seiten, 36 Euro

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