Oskar Matzerath in Shanghai
Sandra Richters Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur
Die Germanistikprofessorin Sandra Richter erzählt eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur als faszinierendes Flickwerk aus Fallbeispielen.
Was nur wenige über Frankensteins Monster wissen, ist, dass es Goethes „Werther“liebt. Das Buch, gefunden in einem alten Koffer, wird ihm „eine nie versiegende Quelle für Nachdenken und Verwunderung“. Unüberschaubar oft wurde „Die Leiden des jungen Werther“übersetzt, zitiert, interpretiert und parodiert. Der „Werther“, das ist unumstritten, ist Weltliteratur.
Aber was ist Weltliteratur? Zunächst einmal muss ein Werk, um Weltliteratur zu sein, weltweit gelesen werden. Ob das so ist, lässt sich anhand von Verkaufszahlen, Übersetzungsverzeichnissen, Rezensionen und Referenzen einfach nachprüfen. Das Beispiel des „Werther“fasziniert. Die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft (Mary Shelleys Mutter) empfahl das Buch jungen Männern zwecks Herzensbildung. 1791 erschien in Frankreich ein Briefroman, in dem ein weiblicher Werther, ein 17-jähriges Mädchen, das unglücklich in einen Familienvater verliebt ist, an eine Freundin schreibt. In einer russischen „Werther“-Variante feiern Beamte bei dekadenten Getränken die Unterdrückung der örtlichen Bauern. Die japanisch-südkoreanische Süßigkeitenfirma Lotte wirbt für ihren Kaugummi mit dem Slogan „[Die/Der] Geliebte deines Mundes“.
Die schwierigere Frage betrifft den zweiten Teil des Wortes: Was ist Literatur? Ist die „Harry Potter“-Serie Weltliteratur? Sandra Richter schreibt bewusst „eine – und nur eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur“. Anhand von ausgewählten Erzählungen beobachtet sie, wie deutschsprachige Literatur international wahrgenommen wird. „Dieses Buch“, schreibt Richter, „will sich dem bekannten und unbekannten Anderen nähern. Es riskiert das Scheitern am Unmöglichen – bewusst, weil es, so meine Überzeugung, das Risiko wert ist.“Richter verzichtet auf große, leere Thesen. Stattdessen zeigt sie Phänomene des Literaturaustauschs in ihrer ganzen Komplexität – in einer Sprache, an der auch Nichtgermanisten sich erfreuen können.
Welche Bücher international (oder überhaupt) wahrgenommen werden, hängt auch von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ab. Weil es in der Natur der Mächtigen liegt, diejenigen, die ihnen ähnlich sind, immer ein wenig wichtiger zu finden als die anderen, richten wir uns noch heute oft nach Kanones, in denen Literatur von Frauen nur am Rande vorkommt. Dementsprechend sind auch nur etwa 160 der Namen in Richters ungefähr 770 Einträge starken Personenverzeichnis weiblich. In besonderer Tiefe widmet sie sich unter anderen Rose Ausländer und Vicki Baum, Klara Blum und Nelly Sachs, Herta Müller und Terézia Mora.
Sandra Richter fasst ihre Ergebnisse in 25 Thesen zusammen. „Starke Figuren wandern besonders oft in die Literatur anderer Länder ein“: Faust, Fortunatus und Eulenspiegel, später Werther, Nathan und Karl Moor, schließlich Winnetou, Harry Haller, Oskar Matzerath. Auch „gewichtige historische und politische Themen“erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Buch Weltliteratur wird, so „Die Blendung“von Elias Canetti und Herta Müllers „Atemschaukel“.
Die Wege, auf der deutschsprachige Literatur andere Kulturen erreicht, sind oft gewunden und mehrstufig. Der erste chinesische „Werther“war die Übersetzung (aus dem Japanischen) einer Übersetzung (aus dem Englischen) einer Übersetzung (aus dem Deutschen). Nicht die Werktreue einer Erstübersetzung ist ausschlaggebend für ihre Popularität, sondern ihre Schönheit. Das Interesse an fremdsprachigen Texten wird oft durch andere Medien geweckt: Holzschnitte, Mangas, Bandnamen, Filme. Und schließlich spielen internationale Preise eine Rolle, insbesondere der Nobelpreis.
Natürlich wird Literaturvermittlung massiv von geopolitischen Machtverhältnissen beeinflusst. Der „Westliche Kanon“ist eigentlich ein „Nördlicher Kanon“. „Der Süden mag die Texte des Nordens mitlesen, aber dafür stehen ihm zumeist nur die Sprachen und Deutungsmuster des Nordens zur Verfügung – und das heißt oft: der ehemaligen Kolonialisatoren.“Jede dieser Thesen könnte die Grundlage eines halben Dutzends weiterer Bücher sein.
2019 übernimmt Sandra Richter die Leitung des Marbacher Literaturarchivs. Dass Sie den Kanon deutschsprachiger Literatur in dieser Position mitgestalten wird, ist ein Glücksfall.