Für immer Kind
Astrid Lindgrens Lebenswelt
Sie war weit mehr als die Mutter von Pippi Langstrumpf: Anwältin aller Kinder, Vordenkerin, Mutmacherin. Vor allem aber war Astrid Lindgren eines: eine moderne, unabhängige, politische Frau, die unsere Welt ein Stück zum Guten veränderte.
Es steht nicht in Moses’ Gesetzen, dass alte Frauen nicht auf Bäume klettern dürfen“, lachte Astrid Lindgren. Und das tat sie bis ins hohe Alter. Trotz aller Schicksalsschläge, trotz ihres Haderns mit den Zuständen auf der Welt: Im Grunde ihres Herzens blieb sie Kind. Ihr Sohn Lars erinnerte sich einmal: „Sie war ja nicht wie andere Mütter. Sie saß nicht neben dem Sandkasten auf einer Bank. Sie wollte selber spielen.“Astrid Lindgren. Was wären die Kinderzimmer dieser Welt ohne Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga oder Ronja Räubertochter? Um einiges ärmer, das steht fest. Niemand vor ihr erzählte Geschichten aus der Sicht eines Kindes, das war damals revolutionär. Sie konnte sich tief in die Kinderseele hineinversetzen und schockierte die Menschheit mit ihrer unerschütterlichen Auffassung, dass Kinder das Recht haben, nein zu sagen und man ihre Bedürfnisse genauso ernst zu nehmen habe wie die der Erwachsenen. Unvergessen ihre Rede „Niemals Gewalt“im Jahre 1978 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels: Sie appellierte an die Erwachsenen, Kinder niemals zu schlagen. Diese Rede wollten ihr die Veranstalter eigentlich verbieten (zu viel Rechte für die Kinder wären nicht gut), doch setze sie sich wieder einmal durch. Andernfalls wäre sie nicht gekommen. „Schenkt euren Kindern Liebe, Liebe, Liebe, der Rest kommt von allein“, war ihr Motto. Stellte aber dennoch fest, dass Kinder Grenzen brauchen. Astrid Lindgren hatte durchaus auch Kritiker. Kinderpsychologen, Lehrer und Politiker prangerten ihre Erziehungsmethoden an, es entstand eine erboste Debatte in der schwedischen Presse,
als „Pippi Langstrumpf“in Schweden erschien. Ihre Reaktion darauf: „Ach ja, sie legt die Füße aufs Kopfkissen. Ich finde das nicht schlimm.“
AUF LINDGRENS SPUREN
Wer war die Frau, die immer bescheiden blieb, öffentliche Auftritte nicht mochte, sondern am liebsten alleine in ihrer Stockholmer Wohnung schrieb oder abends eine Platte auflegte und alleine für sich tanzte? Eine ausführliche Antwort darauf gibt das Hörbuch „Astrid Lindgren – Eine kunterbunte Welt“. Autorin Sandra Doedter begab sich auf Lindgrens Spuren, reiste an ihre Lebensorte in Schweden, sprach mit Verwandten und Weggefährten und bildete sich so ein umfassendes Bild. Sie zeigt viele Facetten der Schriftstellerin auf. „Astrid Lindgren war eine Frau mit messerscharfem Verstand und enormer Herzensbildung. Darin ist sie ein Vorbild für mich. Sie hatte ihre Geheimnisse, und irgendwie sagt mir mein Gefühl, dass das letzte noch nicht enthüllt ist“, sagt Sandra Doedter. Dieses Hörbuch ist ein kostbares Dokument, was zudem von den Sprechern liebevoll umgesetzt wurde. Hauptsächlich führt Kerstin Fischer lebendig durch das Hörbuch, erzählt biografisch durch das Leben von Schwedens Liebling, angereichert mit vielen Zitaten. Zusätzlich sehr erwähnenswert: das Interview mit dem Schriftsteller und „Das Sams“-Vater Paul Maar, der Einblicke in das Leben eines Autoren gibt.
Alles begann am Küchentisch bei Astrids Freundin Edith: Sie las der fünfjährigen Astrid ein Märchen vor und versetze ihre Kinderseele in Schwingungen, wie sie selbst sagte. Von dem Tag an betrat Astrid die Welt der Bücher. Astrid Anna Emilia Ericsson verbrachte eine glückliche Kindheit mit ihren Geschwistern, umgeben von Liebe und einer herrlichen Freiheit. „Kein Kind der Welt hat mehr gespielt als wir, man kann sagen, wir haben uns fast totgespielt.“Sie dachten sich unendlich viele Spiele aus, die später in den Filmen und Büchern Lindgrens zu finden sind.
Dann mit 13 wurde alles anders. Die Pubertät äußerte sich mit einem Kurzhaarschnitt „wie Greta Garbo“. Vielleicht lag hier der Anfang ihres Selbstbewusstseins, ihres Verständnisses, die eigene Meinung zu vertreten. Mit 16 beginnt Astrid eine Ausbildung bei einer Zeitung. Mit 18 nimmt das Leben Fahrt auf und das Schicksal gibt einen Weg vor, der viel Kraft erfordert: Astrid verliebt sich in ihren verheirateten Chef und wird schwanger (1926 ein Skandal!). Sie fährt nach Kopenhagen, weil sie nur hier ihr Kind zur Welt bringen kann, ohne den Namen des Vaters anzugeben. Der Vater ihres Kindes wollte sie heiraten, doch sie lehnte ab. „Ich war nicht verliebt genug. Ich hatte einfach keine Lust.“Bereits hier zeigte sich ihre Gradlinigkeit und Konsequenz. Ende 1926 kam ihr heißgeliebter Sohn Lasse zur Welt und es brach der jungen Mutter fast das Herz, dass sie ihn drei Jahre zu Pflegeeltern nach Dänemark geben musste, denn sie musste Geld verdienen. Lindgren verzweifelte fast vor Sehnsucht. Mit vier Jahren holte sie Lasse endlich zu sich nach Stockholm. Sie arbeitete damals als Sekretärin und ihr (neuer) Chef Sture Lindgren trat in ihr Leben. Die beiden heirateten und zogen mit Lasse in die Wohnung in der Dalagatan, in der Astrid fortan 60 Jahre leben sollte. Veränderungen waren nicht ihre Sache. Tochter Karin komplettierte die Familie drei Jahre später. Zu dieser Zeit wurde Lindgrens Interesse für Weltpolitik geweckt. Aufgrund ihrer Deutschkenntnisse wurde sie als Dolmetscherin des schwedischen Geheimdienstes angeheuert und übersetzte die Briefe der Deutschen während des 2. Weltkriegs. Sie war schockiert von dem, was sie las.
Doch ihre Leidenschaft gehörte ihren Kindern (die bestätigten, dass sie sie geliebt hat, „dass es nur so krachte“) und den Büchern. Sie wurde aufstrebende Schriftstellerin und konnte endlich tun, was sie so glücklich machte. „Ich schreibe die Bücher für mich, damit ich mich in meine Kindheit zurückversetzen kann.“Für Erwachsene zu schreiben, kam ihr nie in den Sinn. „Worum sollte ich? Die Erwachsenen haben doch viele Autoren für sich. Warum sollen die Kinder nicht mich für sich haben?“Das Schreiben half ihr auch über die schlimmen Verluste im Leben hinweg: Ehemann Sture war Alkoholiker und machte sie mit 45 Jahren zur Witwe. Sie sollte nie wieder heiraten: „Männer waren mir nie so wichtig wie Kinder. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, dann bin ich nie in jemand anders verliebt gewesen als in meine Kinder.“Doch es sollte noch schlimmer kommen: Ausgerechnet sie verliert ihr Kind, der wohl schlimmste Verlust im Leben einer Frau. Lasse stirbt 1989 an einem Gehirntumor. Lindgren zieht sich in ihr Sommerhaus auf Furesund in den Stockholmer Schären zurück und war ein halbes Jahr für niemanden zu sprechen. Auch hier half ihr das Schreiben und sie schenkte Groß und Klein weitere Geschichten. Mit 70 Jahren war ihr Werk vollendet. Sie wurde krank und erblindete schließlich fast vollkommen. Unvergessen blieb Schwedens Ehrenbürgerin: Zu ihrem 90. Geburtstag erhält sie 14 Postsäcke mit Glückwunschkarten.
Im Januar 2002 stirbt Astrid Lindgren mit 94 Jahren. Sie fehlt. Darüber würde sie sicher nur amüsiert lächeln, denn Lob und Bewunderung waren ihr fremd. Ihr war es geradezu unheimlich, wie viel Einfluss sie in Schweden hatte. „Ich setze mich doch nur gezielt für die Dinge ein, die mir wichtig sind“, resümierte sie sachlich.
„Freiheit bedeutet, dass man NICHT UNBEDINGT ALLES SO MACHEN MUSS WIE ANDERE MENSCHEN.“