Wo ist mein Kind?
In Frank Goldammers neuem Roman „Zwei fremde Leben“ht d Th Z d ti i d DDR
DRESDEN - Zwangsadoption. Ein Begriff aus dem Wörterbuch des Schreckens. Seiner Kinder beraubt beziehungsweise den Eltern gewaltsam entzogen zu werden, gehört zum Schlimmsten, was Menschen angetan werden kann. Aus jüngerer Geschichte verbindet man den Begriff mit der SED-Herrschaft in der DDR. Ein dunkles Kapitel, über das man gleichwohl wenig weiß. Umso riskanter scheint es, wenn ein Schriftsteller sich dem Thema nähert. Der Dresdner Bestsellerautor Frank Goldammer ist das Wagnis mit seinem Roman „Zwei fremde Leben“eingegangen.
g
Die junge Ricarda Raspe hat sich in die Klinik begeben, um ihr Kind zur Welt zu bringen. Sie ist voller Vertrauen, der behandelnde Arzt ist ihr Vater. Doch kommt es zu Problemen während der Geburt. Ricarda erfährt, ihr Kind sei tot zur Welt gekommen, der Leichnam sofort weggeschafft worden, sie könnte ihn nicht sehen. Etwa zur gleichen Zeit bringt Kriminal-Leutnant Thomas Rust seine schwangere Freundin Heike in die Klinik, weil es Komplikationen gibt. Rust kommt in Kontakt mit Ricarda Raspes Ehemann, der ihm von der Totgeburt erzählt. Wenig später sieht der Polizist einen Moskwitsch mit Berliner Kennzeichen am Krankenhaus stehen, der ihm verdächtig vorkommt. Ungefragt beginnt er zu ermitteln.
Die Erzählung macht einen Zeitsprung in den Sommer 1989. Claudia Behling, Tochter eines führenden Genossen, wird beim Fluchtversuch ins „nichtsozialistische Ausland“gestoppt und zu den Eltern zurückgebracht. In blanker Wut und wie zum Vorwurf enthüllen die Eltern der Tochter das Familiengeheimnis: Sie sei ein Adoptivkind. Ist Claudia Ricardas geraubte Tochter? Hat man ihren Tod einst vorgetäuscht, um das Kind an fremde Menschen weiterzugeben? Hat Ricardas Vater etwas damit zu tun? Um diese Fragen spinnt der Autor das Netz einer packenden Geschichte, die in Zeitsprüngen und aus den unterschiedlichen Perspektiven der Protagonisten erzählt wird, bis sich im Jahr 2018 alle Fäden in einer ebenso verblüffenden wie erschreckenden Auflösung entwirren.
„Bis heute kein einziger
belegter Fall“
Anruf bei Anne Drescher, Landesbeauftragte Mecklenburg-Vorpommerns für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, ausgewiesene Expertin in diesem Gebiet. Sie reagiert reserviert, als wir sie auf das
Thema Zwangsadoption anspreg
, in der Öffentlichkeit davon die Rede sei, sagt sie. Kaum jemand treffe die notwendigen Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Formen des Kindesentzugs, wie er zum Beispiel legal und gerechtfertigt zum Schutz eines Kindes in disfunktionaler Familie vorgekommen sei, willkürlich zur Bestrafung vorgeblichen politischen Fehlverhaltens der Eltern geschah oder als Kindesraub unmittelbar nach der Geburt behauptet werde. Die Fiktionalisierung in Büchern oder TV-Formaten, wie etwa der Serie „Weißensee“, in der ein Erzählstrang von Kindesraub nach vermeintlicher Totgeburt handelt, erweise ihrem Amt oft einen Bärendienst: „Wenn sie etwas darstellen, das so nicht stattgefunden hat“. Drescher: „Wir haben es dann oft mit verzweifelten Menschen zu tun, die nicht an die Totgeburt ihres Kindes glauben wollen. Sie nehmen Darstellungen solcher Fälle in Serien oder Romanen für bare Münze. Aus fiktiven Stoffen erwarten sie sich Aufklärung über ihre reales Schicksal.“
Kindesentzug nach vereitelter „Republikflucht“, Kindesraub nach der Entbindung - man glaubt es allzu gern. Ist ja die DDR, Diktatur mit totalitären Zügen, die Flüchtige an der Grenze wie Hasen abschoss. Naheliegend, nicht wahr, dass so ein System auch Familien auseinanderreißt und Kinder stiehlt. Aber stimmt es auch?
Zweifel sind - teilweise - berechtigt. Es sei behauptet worden, dass Zwangsadoptionen zu Hunderten oder gar Tausenden stattgefunden hätten, sagt Anne Drescher. Gemeint sind solche Fälle, wo Eltern die Kinder wegen angeblichen politischen Fehlverhaltens entzogen wurden. Doch seien durch eine Forschungsarbeit aus den 90ern lediglich sechs solcher Fälle bestätigt. Drescher: „Darüber hinaus ist kein weiterer Fall belegt.“Einer vor zwei Jahren erfolgten Vorstudie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, die auf 340 Fälle kam, spricht sie jede Beweiskraft ab.
Hier sei ohne Tatsachengrundlage aufgrund einer bloßen „Pausibilitätsannahme“hochgerechnet worden.
Noch deutlicher, so Drescher, sei das Missverhältnis von Wahrheit und Behauptung im Fall gefälschter Totgeburten. Sie sagt: „Es gibt bis heute keinen einzigen belegten Fall, dass Eltern Totgeburten vorgetäuscht worden wären, um ihre neugeborenen Kinder fortzugeben.“Ausschließen, dass es so etwas gegeben haben könnte, will sie nicht. Doch sei das nach derzeitigem Forschungsstand nicht bewiesen. Die große Hauptstudie zum Thema Zwangsadoption stehe aus.
Fiktiv, aber akribisch recherchiert
Frank Goldammer hat mit seinem Roman über dieses sagenumwobene Thema, so ließe sich schlussfolgern, vermintes Gelände betreten. Vieles hätte er falsch machen können. Hat er nicht. Die Erzählung ist erfunden, doch nah an der Wirklichkeit, soweit man von ihr weiß.
Eine Besucherin habe ihn vor einigen Jahren nach einer Lesung auf die Thematik aufmerksam gemacht, sagt Goldammer. Die DDR ist sein Stoff. In seinen Romanen, vor allem den historischen Krimis um Kriminalinspektor Max Heller, ergründet er die gesellschaftliche Realität jenes nicht mehr existenten Landes, in das er 1975 hineingeboren wurde. Jedem Buch, auch diesem, gehen akribische Recherchen voran, jedes Buch, auch dieses, hält der Wirklichkeit Stand. Goldammer ist kein raffinierter Stilist, seine Sprache ist schnörkellos. Dabei kann er aus der Beschreibung alltäglicher Begebenheiten Spannung erzeugen wie wenige andere seines Fachs. „Zwei fremde Leben“ist ein Gesellschaftsroman, so erschütternd wie ein antikes Drama und so aufregend wie ein Thriller. gg