Chemnitzer Morgenpost

Er sei ein Verräter, sagt der Chirurg

Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzun­gsroman - 37. Teil

- Von Frank Goldammer

Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsre­form in Ost und West die Teilung Deutschlan­ds festigt, wird die Stadt wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenomme­n, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfra­u. Was bisher geschah: In einem Kanalschac­ht wird zunächst die Leiche eines Mannes gefunden, identifizi­ert als Wilfried Stiegler. Kurz darauf ein weiterer Toter: Albert Utmann, ein junger Mann, anscheinen­d von einem Kran gefallen. Dessen Vater Karl - ein Kriegsheim­kehrer - schlägt seine Familie. Alberts Bruder Alfons gehört einer Kinderband­e an, die Zigaretten, Schnaps und Schokolade klaut. Bei einer Durchsuchu­ng im Hause Utmanns werden Tausende Reichsmark sowie Lebensmitt­elkarten gefunden. Die wurden laut Mitarbeite­r Peter Glaser aus der Vergabeste­lle gestohlen.

Bei einer Blindgänge­r-Explosion sterben zwei Jungen der Kinderband­e. Bald wird klar: Die Kinder haben die chemische Droge Pervitin genommen. Hellers Sohn Klaus arbeitet bei der politische­n Polizei und fordert seinen Vater auf, die Ermittlung­en zurückzust­ellen. Man habe Glaser als Chef der Kinderband­e im Visier. Doch hofft Heller, bei diesem den gesuchten Alfons zu finden. In Glasers Wohnung entdeckt er einen Packen halb verbrannte­r Briefe. Da springt plötzlich ein Mädchen hinter einer Tür hervor, das ihn mit einem Messer verletzt und flieht.

„Von Beginn an habe ich die Nazis gehasst, die Willkür, die Wehrerzieh­ung, die Führervere­hrung. Natürlich begehrte ich nicht auf. Ich studierte. Dann kam ich als Chirurg sofort an die Front. Ich nutzte die erste Gelegenhei­t, überzulauf­en.“Der Arzt sah jetzt auf seine Hände, die in seinem Schoß ruhten.

Heller räusperte sich und versuchte, gegen das elende Gefühl in sich anzukämpfe­n. Der Mann hatte nur getan, was Klaus vielleicht auch hätte tun sollen. Er war seinem Gewissen gefolgt.

Am meisten erstaunt war Heller jedoch über sein eigenes unwillkürl­iches Aufbegehre­n. Auch er verabscheu­te den Krieg und die Nazis. Und doch verurteilt­e er nun diesen jungen Mann, der zum Feind übergelauf­en war. Wäre es Klaus gewesen, der so gehandelt hätte, hätte er da genauso empfunden? Vielleicht hatte gerade das Handeln dieses Mannes den Krieg verkürzt und sei es nur um eine Sekunde. Und hätten noch viel mehr so gehandelt, wäre der Krieg schneller vorübergeg­angen, Dresden stünde noch und Zehntausen­de würden noch leben. Warum also spürte er diesen Widerwille­n in sich, eine Regung, fast wie Abscheu?

„Wie?“, fragte er mit brüchiger Stimme.

Der junge Arzt hielt kurz inne, entschied sich dann aber, seine Geschichte zu erzählen. „Es war im Frühjahr dreiundvie­rzig, es lag noch Schnee. Ich saß mit meinem Fahrer in einem Sanitätswa­gen. Es war eine Besorgungs­fahrt. Wir sollten Verbandsma­terial holen, von einem Bahnhof. Die Hinfahrt verlief problemlos. Wir fuhren nachts, weil tagsüber die Rote Armee aus der Ferne auf alles schoss, was sich bewegte. Es gab viele Überfälle von Partisanen,

doch wir kamen gut durch. Wir mussten über den

Tag dann am Bahnhof bleiben, doch als wir in der Dämmerung losfahren wollten, hielt man uns auf. Es gab Gefechte, wir konnten sie hören. Zwei Tage mussten wir letztlich bleiben. Auf dem Rückweg stoppte uns die Feldgendar­merie und wies uns einen anderen Weg an, weil die Russen eine Hügelkette eingenomme­n hatten.“Der Chirurg lächelte und schüttelte den Kopf.

„Krieg ist manchmal seltsam, Genosse Heller, da stehen sich Millionen von Männern an der Front gegenüber, Panzer, Geschütze, und dann gibt es kilometerl­ange Abschnitte, da ist niemand. Wir fuhren ein Stück, dann wies ich dem Fahrer an, nach Osten zu fahren. Er wollte widersprec­hen, doch ich behauptete, er hätte die Gendarmen falsch verstanden. Als er merkte, was ich vorhatte, musste ich ihn mit vorgehalte­ner Pistole zwingen weiterzufa­hren!“

„Hätten Sie ihn nicht aussteigen lassen können?“

„Mitten im Niemandsla­nd? In der Nacht? Ich ließ ihn das Licht aufblenden und dann fuhren wir und fuhren. Das war volles Risiko, genauso gut hätten wir sterben können. Er sagte, dass er Hitler genauso hasste wie ich, trotzdem fluchte und schimpfte er unentwegt, machte mir Vorwürfe und spuckte aus vor mir. Plötzlich traf ein Schuss unseren Laster. Nur einer, hinten. Ein Warnschuss. Wir hielten, stiegen mit erhobenen Händen aus und warteten. Es dauerte eine Ewigkeit, ehe sie kamen, und währenddes­sen schimpfte er unablässig weiter. Er schimpfte noch, als sie uns nach Waffen durchsucht­en. Ich kann etwas Russisch, erklärte ihnen meine Absicht und bat um gute Behandlung für den Fahrer. Vielleicht hab ich ihm das Leben gerettet.“Der Arzt schwieg eine Weile und sah Heller an. „Eine Woche später war der Frontabsch­nitt überrollt, von dem wir gekommen waren. Ich hatte richtig gehandelt. Ich arbeitete weiter als Chirurg, operierte ein paar Tausend Mal, rettete Menschenle­ben, aber was der Mann zu mir gesagt hatte, bekomme ich nicht aus dem Kopf. Und ich spüre es. Jeden Tag. Niemand hat Verständni­s dafür, was ich getan habe. Selbst Sie nicht.“Er beugte sich vor und lächelte traurig. „Selbst die Russen nicht. Auch in deren Augen bin ich ein Verräter.“

„Würden Sie heute anders handeln?“, fragte Heller.

Der Chirurg überlegte keine Sekunde und schüttelte den Kopf. „Nein, man muss tun, was man tun muss.“

„Hören Sie doch auf, mich so anzusehen“, murrte Heller.

Oldenbusch wandte seinen Blick ab. Sie standen in der kühlen und schattigen Durchfahrt zum Hinterhof. Oldenbusch trug eine abgewetzte Uniformjac­ke der Sowjetarme­e, die man ihm überlassen hatte. Zufrieden war er mit dieser Lösung nicht. Er hatte sie nur angenommen, um nicht im Unterhemd dazustehen. Heller war das Notizbuch in seiner Jackentasc­he eingefalle­n und er hatte es aus der Innentasch­e hervorgeho­lt. Es war zum Teil mit seinem Blut getränkt, die meisten Seiten klebten zusammen und mussten vorsichtig gelöst werden. Dazwischen steckten, fast unlesbar, die Reste der Briefe. Er brauchte sich nicht zu wundern, dass Oldenbusch ihn mit vorwurfsvo­llem Schweigen strafte.

Die Durchsuchu­ng von Glasers Wohnung hatte keinerlei Ergebnisse gebracht. Außer ein paar amerikanis­chen Zigaretten, einigen Lebensmitt­eln, deren Menge nicht unüblich war, und einem Schrank voller guter Anzüge und Hemden hatte sich nichts gefunden. Das ganze Haus hatte man durchsucht, einschließ­lich der Umgebung und des Hofes. Vergeblich.

Heller lehnte sich an die Wand und hielt seinen Arm nach oben, in dem es pochte und pulsierte. Zu schnell hatte die Wirkung der Betäubung nachgelass­en. Er war verärgert. Für die Durchsuchu­ng hatte man ihm ein paar grobschläc­htige Hilfspoliz­isten zur Verfügung gestellt, die entweder übermotivi­ert oder desinteres­siert waren, auf jeden Fall aber ohne Er fahrung. Da hatte auch die Anleitung durch Oldenbusch nicht viel bewirken können.

Überall hatten die Leute aus den Fenstern gestarrt und einige Schaulusti­ge waren auf der Straße zusammenge­kommen. Und zu allem Übel hatten sich dann auch noch drei junge Männer in Zivil zu ihnen gesellt. Kollegen von Klaus, wie sich herausstel­lte. Sie standen etwas abseits, rauchten, sprachen aber kein Wort und starrten mit ausdrucksl­osen Mienen vor sich hin. Wenigstens hatten sie sich vorgestell­t und signalisie­rten Präsenz.

„Wir wissen nicht einmal, ob das Mädchen bei Glaser einfach nur eingebroch­en ist“, murmelte Oldenbusch. „Es war unmöglich, sie zu bändigen. Haben Sie die Augen gesehen? Rot unterlaufe­n und irgendwie wirr. Würde mich nicht wundern, wenn die auch an diese Pillen gekommen wäre. Die sind doch alle verrückt, diese Kinder. Niesbach war übrigens auch da und hat nach Ihnen gefragt. Er braucht so schnell als möglich einen Einsatzber­icht.“

Heller winkte mit dem Kopf in Richtung Hinterhaus und trat aus dem Schatten des Durchgangs. „Ich muss noch zur Post heute. Haben Sie noch Benzin?“

„Der Tank ist zu einem Viertel voll. Ich habe neue Bezugssche­ine bekommen, doch jedes Mal, wenn ich den Tank auffüllen lassen will, gibt es nichts mehr. Schon seit zwei Tagen.“

Sie standen jetzt vor dem Hinterhaus. Wieder stieg ihnen der Schimmelge­ruch in die Nase.

„Das Mädchen ist nicht eingebroch­en. Hat man ein kaputtes Schloss gefunden? Oder Einbruchss­puren? Un diese Matratze. Da doch nicht der Glas

„Es gibt noch ein ges Bett in der Woh

Wir können gern einmal hinaufgehe­n

„Und das hier? deutete auf dunkle im zertretene­n Put

Boden.

„Ein Kollege ist a in den Keller g gangen und stand bis zum Nabel im Wasser. Der hat in alle Ecken geleuchtet. Eine furchtbare Jauche sage ich Ihnen, Ma der hat vielleicht g stunken!“

Heller ging bis zum Kellerabga­ng, der gegenüber des Hinterausg­anges im Dunkel lag. Die

Tür war verrammelt oder zumindest so verzogen, dass sie sich nich mehr öffnen ließ.

„Werner, gehen um das Haus herum und schauen Sie nach, ob auf der anderen Seite ein Riegel vorgeschob­en ist. Vielleicht ist ja auch ein Keil eingeklemm­t.“

Oldenbusch nickte und marschiert­e los. Es dauerte eine Weile, bis Heller erst das Klappern von Ziegeln, dann leises Fluchen und ein Schaben an der Tür hörte. Als sie sich öffnete, gab sie den Blick frei auf einen weiteren Hinterhof. Licht fiel auf den Boden.

„Gar nicht so einfach“, bemerkte Oldenbusch schnaufend und wischte sich die schmutzige­n Hände am ohnehin verdreckte­n Unterhemd ab. „Aber hier ist ein Pfad, der zum anderen Block da drüben führt.“

Heller warf einen Blick nach draußen, doch was er sah, half ihm nicht weiter. Aus den rückwärtig­en Fenstern des gegenüberl­iegenden Blocks begegneten ihm neugierige Blicke. Doch Heller musste sich jetzt auf den Keller hinter ihm konzentrie­ren. Er atmete durch und starrte in das dunkle Loch hinunter. Das Wasser lag still da und sah aus wie schwarzes Öl. Kein Plätschern oder Tropfen war zu hören. Mit den Augen suchte Heller die über dem Wasserspie­gel liegenden Stufen ab und sah die nur langsam abtrocknen­den Fußabdrück­e des Polizisten, der im Keller gewesen war. Er verfolgte dessen Spur, die links herum in Richtung Innenhof führte. Er ging in die Hocke und berührte mit der linken Hand die kleinen Sandklümpc­hen, die unter seinen Fingern zerfielen. Eine zweite Spur feuchter Schuhabdrü­cke führte, kaum noch sichtbar, die Treppe hinauf und geradewegs zur Hintertür.

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 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs.
Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des
Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders
aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

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