Chemnitzer Morgenpost

Schleier und Neubert verhaftet

Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzun­gsroman - 55. Teil

- Von Frank Goldammer

Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsre­form in Ost und West die Teilung Deutschlan­ds festigt, wird die Stadt wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenomme­n, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfra­u.

Was bisher geschah: Im Kanalschac­ht wird die Leiche von Wilfred Stiegler gefunden, in einer Baugrube die des Jugendlich­en Albert Utmann. Dessen Vater Karl, Kriegsheim­kehrer und Kamerad von Stiegler, schlägt seine Familie. Alberts Bruder Alfons gehört einer Kinderband­e an, die Zigaretten, Schnaps und Schokolade klaut. Die Jungs nehmen auch Drogen: Pervitin. Im Haus Utmanns wird Schmuggelw­are gefunden - laut Mitarbeite­r Peter Glaser aus der Vergabeste­lle gestohlen. Ein Blindgänge­r tötet zwei Jungs der Kinderband­e, Ernst und Franz. Hellers Sohn Klaus arbeitet bei der politische­n Polizei: Man habe Glaser als Chef der Kinderband­e im Visier, Heller soll sich nicht einmischen. Alfons überlebt einen Selbstmord­versuch und entlastet Glaser. Er selbst wird verdächtig­t, mit einem Gewehr auf den Blindgänge­r geschossen zu haben, der die Kinder tötete. Heller observiert die Schule und heftet sich an die Fersen von Schulleite­rin Doktor Schleier. Sie betritt ein baufällige­s Haus und lässt eine Tasche dort. Als Heller das Haus inspiziert, wird er angegriffe­n, das Haus stürzt ein. Heller sucht in den Trümmern nach Spuren und stößt auf den Namen von Lehrer Jungblut. Wieder begibt er sich zur Schule. Laufen dort alle Fäden zusammen?

„Es heißt ‚Wie bitte‘!“, verbessert­e ihn Heller. „Ich will wissen, ob Sie dumm sind? Haben Sie im Krieg den Arm und den Verstand verloren? Was glauben Sie, können Sie erreichen, wenn Sie mich erschießen? In wenigen Augenblick­en wird ein Überfallko­mmando hier sein. Glauben Sie, Frau Schleier wird Sie und Jungblut weiter decken, wenn Sie mich erschießen? Nehmen Sie die Waffe runter! Das Einzige, das Ihnen beiden jetzt noch helfen kann, ist bedingungs­lose Zusammenar­beit. Sie werden mir auf dem Revier in jeder Einzelheit berichten, wie es dazu kam, dass Sie die Schüler zu Diebstahl und Raub anstiftete­n. Wer ist der Drahtziehe­r? Wann fingen Sie an die Kinder zu züchtigen? Warum sind Sturberg und Barth gestorben?“

„Das hat damit nichts zu tun!“, rief die Schulleite­rin rasch. „Still!“, befahl Neubert. Doch bei der Schulleite­rin waren jetzt alle Dämme gebrochen. Sie konnte und wollte sich nicht mehr zurückhalt­en.

„Sie haben mich erpresst“, schrie sie und zeigte auf den Hausmeiste­r. „Er und Jungblut. Ich fand zufällig ein Lager mit Diebesgut in der Schule. Sie wollten mich dafür verantwort­lich machen, wenn es jemand verriet. Und Sie geben den Kindern auch die Pillen, damit sie gefügig sind und tun, was man ihnen sagt. Die Utmann-Jungen wollten nicht mehr mitmachen, deshalb wurden sie verprügelt.“

„Seien Sie doch still“, zischte Neubert.

„Nehmen Sie die Waffe runter, Mann.“Heller sah, dass der Hausmeiste­r unsicher wurde, doch noch war er nicht bereit, aufzugeben. „Seien Sie vernünftig und nehmen jetzt die Pistole runter.“

„Die Kinder selbst haben damit

angefangen“, sagte Neubert und senkte den Arm. „Der Streich mit der Munition. Jungblut hat sie erwischt, da war er ganz neu an der Schule. Sie haben ihn bestochen, mit Zigaretten und Schokolade. Mich hatte er zunächst nur gefragt, ob es einen Raum im Keller gibt, in dem man etwas abstellen könnte.“Er betrachtet­e seine Hand, in der er die Pistole hielt, als gehörte sie nicht zu seinem Körper. Dann legte er die Waffe auf die Sitzfläche eines Stuhls. „Und die Pillen?“, fragte Heller. „Die fanden die Kinder bei einem Einbruch. Es war wohl das Haus eines Apothekers. Es waren Dutzende Dosen, vielleicht sechzig oder mehr.“

„Sie wussten, welche Wirkung diese

Pillen haben?“

Neubert nickte.

„Ich habe sie selber nie genommen, ich wusste nur, dass es sie gibt.“

„Dieser Apotheker, war das Glaser?“, hakte Heller nach.

Neubert hob fragend die Schultern. Plötzlich hörte man vor dem Schulhaus Motorenlär­m und laute Schritte. Heller ging zum Stuhl, nahm die Pistole mit spitzen Fingern am Abzugsbüge­l und steckte sie ein. „Ist die von Alfons?“

„Hab ich vorhin gefunden.“Neubert log ganz offensicht­lich, aber es war ihm nicht zu widerlegen.

„War der Junge hier? Der Alfons?“, wollte Heller wissen.

„Ich habe ihn gesehen heute“, mischte die Sekretärin sich ein. „Vor einer Stunde etwa. Oder zwei.“

„Weiß er, wo Jungblut wohnt?“, fragte Heller und sah zuerst zu

Frau Schleier, dann zu Neubert. Beide reagierten nicht. Die Schulleite­rin hielt sich am Tisch fest und krümmte sich, wie unter schweren Magenkrämp­fen.

„Wissen Sie, wo Jungblut wohnt?“, fragte Heller deshalb die Sekretärin.

„Ich schreibe es Ihnen auf.“Sie huschte in ihr Zimmer.

Heller ging ihr bis zur Durchgangs­tür nach und blieb dort stehen. „Sie beide werden in Gewahrsam genommen“, sagte er.

„Sie könnten für mich sprechen“, raunte Neubert. „Ich meine, ich habe nichts weiter damit zu tun. Ich hab den Kindern nichts getan. Und dass die Burschen an den Blindgänge­r geraten sind, damit haben wir nichts zu schaffen.“

Heller strafte ihn mit Schweigen und versuchte, die Schritte im Haus zu lokalisier­en. Es war durchaus möglich, dass Sturberg und Barth als Mitwisser beseitigt wurden. Und dass man Sturberg überredete, mit Barth an den Blindgänge­r zu gehen, um auf diesen zu schießen. Bestimmt vertraute Sturberg darauf, dass ihm in gewisser Entfernung nichts geschehen würde. Dann aber müsste ihm jemand die Waffe wieder abgenommen haben, da diese nicht gefunden worden war. Heller ahnte, dass es eine schier unlösbare Aufgabe sein würde, diesen Fall zu klären.

Dann kamen Oldenbusch und vier Polizisten ins Zimmer.

„Nehmen Sie die beiden fest. Sie müssen noch heute dem Haftrichte­r vorgeführt werden“, befahl Heller den Polizisten. „Getrennt transporti­eren! Außerdem die Schule abriegeln. Alle Räumlichke­iten müssen durchsucht werden.“

Zwei Schupos packten zuerst den Hausmeiste­r unter den Achseln und dirigierte­n ihn aus dem Raum. Bevor sie die Schulleite­rin in die Mitte nehmen konnten, stellte sich Heller ihr noch einmal in den Weg. Die Frau sah elend aus, atmete schnell und flach, es war ihr anzusehen, wie sie unter den nicht sonderlich festen Griffen der Männer litt. So sehr, als müsste sie gleich zusammenbr­echen.

„So oft hatten Sie die Gelegenhei­t, mir etwas zu sagen, Frau Doktor Schleier“, sagte er. „Auch die Jungen. Auch deren Mutter. Warum will sich niemand helfen lassen? Warum nur hatte keiner Vertrauen zu mir?“

„Weil niemandem zu trauen ist“, erwiderte sie und blickte ihn bleich und angstvoll an.

Heller seufzte und wollte sie vorbeigehe­n lassen.

„Ich hatte Ambitionen, als ich hierherkam. Ich wollte alles gut machen, eine neue Welt schaffen, eine bessere, menschlich­ere.“

Frau Schleier knickten die Knie ein und die Polizisten hielten sie fest.

Heller winkte der Sekretärin. „Bringen Sie ihr Wasser, bitte.“

„Aber das geht nicht, wissen Sie? Das ist alles zum Scheitern verurteilt. Wegen der Menschen, verstehen Sie das? Jeder denkt nur an sich. Es gibt keine Menschlich­keit mehr.“Die Frau war einer Ohnmacht nahe und die Polizisten legten sie vorsichtig auf dem Boden ab.

„Ich wollte nicht, dass all das geschieht. Ich wollte nicht, dass jemand stirbt. Aber dann war es geschehen, und ab diesem Moment geriet alles außer Kontrolle.“Frau Schleier trank, indem Heller ihr den Kopf und die Sekretärin das Glas an ihre Lippen hielt.

„Wussten Sie, dass Jungblut die Kinder verprügelt­e?“, fragte er sie.

„Ich glaubte, es sei der Vater gewesen.“

Heller betrachtet­e die Frau einige Sekunden lang forschend und fragte sich, ob sie die Wahrheit sagte. Er wusste es nicht. Vielleicht, weil auch er niemandem mehr traute.

Neulehrer Jungblut lebte in einem kleinen dörflichen Wohngebiet im Ortsteil Mockritz. Die Fahrt dorthin dauerte nur eine Viertelstu­nde. Oldenbusch stellte den Wagen etwas abseits ab. Es roch nach Mist und Hühnern. Unmittelba­r an der Siedlungsg­renze erstreckte sich ein weites Getreidefe­ld.

Jungblut war in einer Einliegerw­ohnung unter dem Dach eines alten Bauernhaus­es in der Rippiner Straße untergekom­men. Heller zählte die Häuser ab, fand das richtige und stellte fest dass im Dachgescho­ss geschlosse­n war keine gün tuation. Alfons te bereits hie und Jungblut a ern, sollte der

Hause sein. D es genug Verst dererseits wür ge bestimmt s

Geduld verliere

„Was werd wir tun?“, frag te Oldenbusch.

Heller merkte, wie er schwitzte.

Zu der drücken den Schw hatte sich ei innere Hitze gesellt. Hellers Wunsch nach Schatten und vor allem Ruhe wurde auf einmal übermächti­g.

„Wir gehen hin“, entschied er.

Am Tor z

Grundstück blieben sie stehen und warteten. Die Gegend war wie ausgestorb­en, doch Heller war sich sicher, hier starrte sie aus jedem Haus ein Augenpaar an. Als alles ruhig blieb, betraten sie das Grundstück und probierten die Haustür, doch die war verschloss­en.

„Hintereing­ang!“, bestimmte Heller. Sie liefen ums Haus herum und fanden den Eingang zur Waschküche. Diese Tür war nicht verschloss­en, der Raum dunkel und kühl. Zinnbottic­he standen auf dem steinernen Boden und ein Waschzuber aus Holz auf einer Werkbank. Es roch gleichzeit­ig nach Moder und Seife. Heller stieg mit gezogener Waffe die wenigen Stufen zum Wohnhaus hoch, aber die Tür war verriegelt. Er deutete stumm zum Sims des kleinen Fensters, auf dem ein umgedrehte­r Blumentopf stand. Darunter fand Oldenbusch den Schlüssel.

Im Haus war es still und dunkel und es roch nach Heu. Oldenbusch wandte sich nach rechts, Heller nach links. Beide Männer zuckten zusammen, als ein Knarren durch das Gebälk ging. Danach war wieder alles still. Oldenbusch wollte gerade die Treppe hinaufgehe­n, da bemerkte Heller einen Schatten in einer offenen Tür. Mit einem leisen Zischen durch die Zähne gab er Oldenbusch ein Zeichen und deutete in diese Richtung. Oldenbusch nickte, schob sich an Heller vorbei, stieß die Tür ganz auf, nahm dann die Waffe herunter und gab Entwarnung.

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 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs.
Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des
Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders
aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

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