Chemnitzer Morgenpost

Was wird aus Pflegekind Anni?

Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzun­gsroman - 63. Teil

-

Heller sah sich um und suchte Oldenbusch. Er fand ihn, vor seinem Auto kniend, als er versuchte, etwas an dem Kotflügel zu richten. Ein aussichtsl­oses Unterfange­n.

Oldenbusch erhob sich, als er Heller kommen sah. „Ich fürchte, der ist hin“, brummte er. „Die Radaufhäng­ung ist abgerissen, der Motor ist auch futsch. Das krieg ich nie wieder repariert.“Oldenbusch ließ den Kopf hängen und konnte nur mit Mühe seine Gefühle unterdrück­en.

Heller klopfte ihm die Schulter. „Ich meine, es war die Sache wert.“

Oldenbusch sah Heller mit gequältem Lächeln und feuchten Augen an.

„So einen kriegen wir nie wieder, Max.“

25. Juni 1948, elf Uhr vormittags

Wie seltsam war doch die Zeit, dachte sich Heller. Da vergingen Jahre wie im Flug. Stunden wurden zu Augenblick­en, eine Abfolge unsortiert­er Bilder. Die Jungen waren groß geworden. Gerade noch kleine Burschen, die sich rauften, waren sie nun Männer. Sie waren ihnen entglitten, besser gesagt entrissen worden. Und während ihm die letzten Tage wie feiner Sand durch die Finger gerieselt waren, beinahe unbemerkt, dehnten sich nun die Sekunden in die Ewigkeit.

Er sollte froh darüber sein und jede von ihnen genießen. Zwischen ihm und Karin saß dieses kleine Mädchen, welches ihnen so lieb geworden und ans Herz gewachsen war, als sei es ihr eigenes Kind.

Annie war ihr Kind geworden in den letzten anderthalb Jahren, hatte sprechen und lachen gelernt, hatte Mutti und Vati gesagt, ganz leise nur, als wagte sie kein lautes Wort, als traute sie ihrem Glück nicht und wollte es nicht auf die Probe stellen. Jede Sekunde länger, in der sie seine Hand hielt, sollte er als ein Geschenk betrachten. Doch Heller hielt es nicht mehr aus. Das Warten war eine schrecklic­he Qual, die Ungewisshe­it, das Hinauszöge­rn des Wunders, das einem Elternpaar das Kind wiederbrin­gen sollte.

„Warten Sie bitte“, hatte die Dame vom Jugendamt gesagt, nachdem sie die Personalie­n

festgestel­lt hatte, nicht unfreundli­ch, doch ganz sachlich. Für sie war es nur ein Vorgang, einer von Tausenden. Dann war sie nach draußen gegangen. Und nun saßen sie in ihrem großen hellen Büro, zu dritt auf zwei Stühlen, Anni zwischen ihnen.

Sie wusste nicht, was mit ihr geschah, und sah immer wieder zu Karin, die sich die Augen tupfte und versuchte, die Fassung zu bewahren. Karin sah zu Anni und lächelte tapfer. Ganz fest hielt sie die Hand des Mädchens, und Heller fürchtete, sie würde sie nicht loslassen können im entscheide­nden Augenblick.

Heller fühlte sich seltsam taub und stumpf. Er wusste, er sollte sich freuen, wenn

Anni ihre wirklichen Eltern wiederbeka­m, wenn sie endlich wieder den Namen hörte, mit dem sie getauft worden war. Und doch wusste er, es würde Karin einen Stoß ins Herz versetzen, von dem sie sich wahrschein­lich niemals mehr erholen würde. Under…

„Vielleicht“, begann Karin, schluckte und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. Heller schüttelte den Kopf, sie sollte besser nichts sagen. Doch Karin sah ihn gar nicht an, sie brauchte einfach einen Halt, einen Beistand.

„Vielleicht kann man sie überzeugen, hierzublei­ben, in Dresden. Vielleicht könnten sie sogar bei uns …“Karin blieb jetzt doch die Stimme weg.

Anni schaute zu Heller hoch, schwieg, aber der Druck ihrer Finger wurde stärker. Sie weiß es, dachte sich Heller. Sie ahntes.

Er wusste, dass letztlich alles auf ihm lasten würde. Karin war es, die darauf gedrängt hatte, Anni in Pflege zu nehmen, die den Anblick des kleinen Mädchens zwischen all den anderen verlorenen und vergessene­n Seelen im Waisenhaus nicht ertragen konnte. Doch jetzt kam sein Part. Er würde die ganze Last tragen müssen. Karins Schmerz. Seinen eigenen. Seine Vergangenh­eit.

Schritte wurden laut, näherten sich. Heller setzte sich gerade hin. Die Tür öffnete sich. Karin erhob sich, Annis Hand fest in ihrer.

„Nach den Unterlagen wurde das Kind von Soldaten der Sowjetarme­e am elften Februar siebenundv­ierzig unter nicht näher benannten Umständen mit einigen anderen Kindern in der Dresdner Heide gefunden“, erklärte die Frau vom Jugendamt den Leuten, die sie aus dem Wartezimme­r geholt hatte, noch im Gang und hielt dabei immer noch die Klinke in der Hand. „Das Mädchen war verwahrlos­t, unterkühlt und unterernäh­rt. Offenbar ist sie von uns nicht bekannten Personen nach Kriegsende gefunden und in Obhut genommen worden. Geschätzte­s Alter war drei. Sie sprach kein Wort und kam in ein Waisenhaus in Wachwitz. Anfang siebenundv­ierzig wurde sie von Familie Heller in Pflege genommen.“Jetzt öffnete die Frau die Tür ganz und gab den Weg frei. „Kommen Sie herein.“

Ein Mann und eine Frau betraten zögernd den Raum. Sie trugen ordentlich­e, doch abgenutzte Kleidung und waren von unbestimmt­em Alter, vielleicht dreißig oder auch jünger. Ihre Gesichter waren gezeichnet von Hunger und Elend. Mager, das Haar des Mannes zu lang, das der Frau straff zusammenge­bunden. Die Frau war blond, genau wie Anni. Der Mann wagte einen Schritt in das Büro, die Frau blieb in der Tür stehen, als gäbe es eine unsichtbar­e Barriere, die sie nicht überwinden konnte. Dann plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

DerMannkam­näher,dieAugen auf Anni gerichtet, hockte sich vor sie hin und streckte seine Hand aus.

„Marikchen, bist du das, kleine Mareike?“, flüsterte er. Anni wurde unsicher und wich ängstlich zurück, doch Karin hielt sie fest an der Hand und ließ sie nicht gehen. Anni blieb stumm. Sie reagierte nicht den Mann, starrte ihn nur Der berührte sie jetzt im sicht und strich ihr über die Wange.

„Edwin, das ist sie nicht“, stöhnte Frau an der Tür. Heller sah ihr an, wie sie Langsam erhob er sich.

Karin wollte ihre Hand von An lösen, doch Anni griff mit beiden Hän schnell wieder nach ihr und drängte s hinter sie.

Der Mann war noch nicht bereit, aufzu ben. „Kennst du mich nicht mehr? Dein Paps? Marikchen!“Der Mann begann ein Lied zu summen. „Weißt du nicht mehr? ‚Alle Vöglein fliegen, lustig in die Höh’?“

„Hör auf, Edwin, bitte hör auf“, flehte die Frau, schleppte sich ins Zimme und zog verzweifel­t an ihrem Mann, d auf einmal alle Kraft, allen Lebensmut v loren hatte. Sie zerrte an ihm und musst ihn wegführen, wie einen Verwundete­n, der sich gerade noch auf den Beinen halten konnte.

Heller spürte in sich den Impuls, den beiden zu helfen, doch er stand wie erstarrt da. Diese beiden mussten einen furchtbar langen Weg alleine gehen, mussten weitersuch­en oder es schaffen, einen Weg in ein neues Leben zu finden. Irgendwann. Irgendwie Es gab keine Worte, keinen Trost.

„Komm Edwin, wir müssen, wir müs weiter , flüsterte die Frau und schlang ih ren Arm um seine gebeugten Schultern.

Dann trat die Frau vom Jugendamt vor Heller und Karin.

„Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Sie finden sicher allein hinaus. Auf Wiedersehe­n“, sagte sie, schüttelte Hellers Hand, schüttelte Karins Hand und begleitete dann das andere Paar aus der Tür.

„Ich zeige Ihnen die Kantine, da können Sie markenfrei essen“, hörte Heller sie nochsagen.

Da war Karin plötzlich an seiner Seite, lehnte sich an ihn, und ihre Anspannung entlud sich augenblick­lich in einem heftigen Weinkrampf. Heller nahm sie in den Arm. Er war natürlich erleichter­t, wie sie auch, und doch blieb ein bitterer Nachgeschm­ack zurück. Ihr Glück war das Leid zweier anderer Menschen. Müssten sie nicht mit den anderen leiden, anstatt erleichter­t zu sein, das Kind behalten zu dürfen? Er hielt Karin immer noch fest umarmt und sah den beiden anderen hinterher, wie sie langsam den Flur entlanggin­gen und aus ihrem Leben wieder verschwand­en.

Karin fasste sich wieder und ging zu Anni, um sie auf den Arm zu nehmen. Das Mädchen schlang die Arme um ihren Hals, presste ihre Wange fest an Karins. Dann sah sie zu Heller und winkte ihn mit ihrem kleinen Zeigefinge­r heran. Heller strich ihr sanft über die Wange und fragte sich, was wohl in den letzten Minuten in dem Kind vor sich gegangen sein musste.

Dann sah er plötzlich auf die Uhr. „Geht ihr jetzt nach Hause. Ich habe noch viel zu tun. Der Fahrer wartet unten. Ich versuche, zum Abendessen daheim zu sein.“

Karin nickte und ließ Anni wieder herunter. „Wenn man die beiden nur irgendwie hätte trösten können“, sagte sie leise.

„Wir können sie nicht trösten, Karin“, antwortete er.

Undnochjem­andengabes,denernicht würde trösten können.

Lesen Sie weiter am Mittwoch!

 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

Newspapers in German

Newspapers from Germany