Kein Herzschlag
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 10. Teil
September 1951,
morgens
„Kaffee?“, fragte Oldenbusch. Heller nickte. Er verbarg seine Müdigkeit. Eine schlechte Nacht hatte er hinter sich, ohne bestimmten Grund. Unruhig hatte er sich im Bett gewälzt, an Karin gedacht, wie sie von Erwin empfangen wurde. Ob sie nun im Überfluss des Westens schwelgte, Kaffee trank, Wurst aß und Schweinebraten? Dann, als er doch schon fast eingeschlafen war, hatte er sie wieder aus dem Wasser steigen sehen, an diesem letzten Abend. Schon war er wieder wach, sein Herz schlug laut. Das war der Moment des Abschieds gewesen, sagte ihm eine innere Stimme, nicht der auf dem Dresdner Bahnsteig.
Dann fiel ihm ein, dass Anni heute Morgen geweint hatte, als er sie zum Kindergarten brachte. Sie war immer eines der allerersten Kinder und sie hatte versucht, ihre Tränen zu verbergen.
„Ich mach das schon“, hatte Frau Decker gemeint und Anni aufgetragen, das Frühstücksgeschirr an die Plätze zu verteilen. Das schien Anni abzulenken und zu helfen, doch trotzdem hätte Heller gerne noch etwas Tröstliches zu ihr gesagt.
„Herr Oberkommissar?“, fragte Salbach. Aus dem Jungen, der ihm vor gut drei Jahren als Schreiber zugeteilt worden war, hatte sich inzwischen ein junger Mann entwickelt, stellte Heller fest. Dort, wo früher bei Aufregung rote Flecken Salbachs Gesicht schmückten, wuchs nun Barthaar, das nach einer täglichen Rasur verlangte. Noch immer wirkte er zurückhaltend, manchmal schüchtern, doch das würde er ihm noch austreiben, dachte Heller bei sich. Was ihm jedoch etwas Unbehagen bereitete, war der Umstand, dass Oldenbusch den Kaffee aufgoss.
„Haben Sie etwas für mich?“, fragte Heller den jungen Kollegen.
Salbach nickte und reichte
Heller eine Mappe. „Ich habe alles zusammengetragen, was ich gestern bekommen konnte. Unter anderem die Namen der restlichen Mitglieder der Wachturmgesellschaft. Es ist keine sehr lange
Liste, und viele von den Personen sind bei der Razzia letzten Donnerstag verhaftet worden. Viel mehr konnte ich in den wenigen Stunden gestern nicht tun. Eines aber ist mir aufgefallen. Im Kraftwerk Mitte gab es doch im Juli eine Kesselexplosion, bei der zwei Personen schwer verletzt wurden und erheblicher Sachschaden entstand.“
„Zufällig habe ich gestern mit Kommissar Oldenbusch darüber gesprochen.“
„Also, einer der beiden toten Männer im Untersuchungsgefängnis, Oskar Machol, arbeitete im Kraftwerk Mitte, und die Explosion ereignete sich, während er Schicht hatte.“
Heller nahm den Ordner, blätterte kurz darin und machte sich eine Notiz in seinem Buch. Er legte den Ordner beiseite und breitete die Zeitungen aus.
„Ich habe eine Aufgabe für Sie, Salbach. Es mag Zufall sein oder aber auch nicht, jedenfalls fehlen bei den Zeitungen fortlaufend immer einige Nummern. Die älteste ist mehrere Wochen alt, die neueste vom fünften September, dem Tag vor der Razzia. Ich möchte, dass Sie die Zeitungen nach Auffälligkeiten und Gemeinsamkeiten untersuchen.“
Salbach raffte die Zeitungen zusammen und nahm sie mit an seinen Platz. Heller hoffte, dass er bei den Anzeigen doch noch fündig werden würde, obwohl er selbst bis spät in die Nacht gesucht und nichts gefunden hatte.
„Und wir?“Oldenbusch stellte Heller eine Tasse hin.
„Wir nehmen uns die Wohnungen vor.“Heller nahm die randvol trank vorsichtig ab.
„Werner?“, fragte er und blickte hoch, weil Oldenbusch am Tisch stehen geblieben war. Oldenbusch druckste herum. „Ich habe eine Vorladung bekommen. Vom MfS. Als ob ich was dafür kann, dass die in den Westen geht. Ich hätte ja mitgehen können, bin ich aber nicht.“Oldenbusch fuhr sich nervös übers Haar. „Und jetzt werde ich zur Verantwortung gezogen. Das muss man sich mal vorstellen. Ich! Obwohl ich seit sechsundvierzig in der Partei bin. Woher soll ich denn wissen, was in der Frau vor sich geht. Da verliert man ja gleich den Glauben an die ganze Menschheit.“
Heller hob die Hand. „Immer langsam, Werner. Den behältst du mal schön! Meinen Leumund hast du, und Genosse Niesbach wird auch nur das Beste über dich sagen können. Es ist doch ganz normal, dass sie die Hintergründe erfragen, das darfst du nicht persönlich nehmen. Bisher war deine Arbeit als Genosse und als Kriminalpolizist tadellos. Das werden sie dir anrechnen. Ganz bestimmt.“
Oldenbusch ließ die Schultern sinken. „Wollen wir es hoffen.“
„Langsamer“, bat Heller, und Oldenbusch bremste den Wagen ein wenig ab. Heller kurbelte das Fenster herunter und sah sich um. Der Arbeitstag hatte längst begonnen und mit ihm geschäftiges Treiben auf den Straßen. Zwar hatte es nicht geregnet, doch der Himmel war bewölkt. Heller, noch verwöhnt von der Sonne der Ostsee, fröstelte.
„Ich sehe nichts“, brummte Oldenbusch, der wusste, wonach sein Chef Ausschau hielt.
„Ich bin trotzdem sicher, dass das Haus überwacht wird“, erwiderte Heller.
Oldenbusch fuhr den Wagen wieder bis vor die Haustür und stellte den Motor ab.
„Aber nicht von unseren. Also nicht von der Polizei. Vom MfS vielleicht oder den Sowjets. Aber immerhin hat sich uns noch niemand in den Weg gestellt.“
Heller nahm seine Tasche aus dem Fußraum und stieg aus. Während er auf Oldenbusch wartete, sah er am Haus hinauf. Es war vollkommen still.
„Fangen wir oben an?“, fragte Werner. Heller schüttelte den Kopf, öffnete seine Aktentasche und nahm den Durchsuchungsbefehl der Staatsanwaltschaft heraus.
„Zuerst die Wohnung von Frau Girtlitz.“
Werner trat an ihm vorbei an die Haustür und probierte, die Tür
Tür öffnete sich. Gemeinsam betraten sie den dunklen Hausflur. Oldenbusch streckte seine Hand nach dem Lichtschalter aus.
„Nicht!“, rief Heller aus und schlug auf Werners Arm. „Riechst du das nicht?“Oldenbusch sog Luft ein. Seine Augen weiteten sich. Heller stemmte die Haustür wieder weit auf und hakte sie mit dem kleinen Riegel ein, damit sie nicht wieder ins Schloss fiel. Dann eilte er zur Wohnungstür von Frau Girtlitz und versuchte sie aufzudrücken. Sie ließ sich nicht öffnen, obwohl sie noch immer defekt war. Sie schien von innen verriegelt zu sein. Heller langte mit den Fingern in den Schlitz und tastete am Rahmen entlang. Aus der Wohnung roch es stark nach Stadtgas.
„Frau Girtlitz!“, rief er in den Spalt. „Werner, hilf mir! Bei drei!“Heller stellte sich seitlich zur Tür und Oldenbusch tat es ihm gleich.
„Eins, zwei, drei!“Gleichzeitig warfen sich die Männer gegen die Tür, die unter der Wucht aus den Angeln brach.
„Die Fenster!“, rief Heller, lief in die Wohnung hinein sofort Richtung Wohnzimmer am Sofa vorbei, auf dem die alte Frau lag, direkt in die Küche und drehte das Gas am Herd zu, das aus den Brenndüsen und der offenen Ofenklappe strömte. Oldenbusch lief währenddessen von einem Fenster zum nächsten und öffnete sie.
Heller rannte zurück ins Wohnzimmer.
„Frau Girtlitz!“, rief er, packte die Frau und schüttelt ihr sacht ins dann etwas
„Einen Arzt, ner! Wir bra einen Arzt.“
„Gibt es d
Telefon hier? busch schaut chend um.
„Ruf hinaus
Straße oder Treppenhaus
Jemand sol zur nächsten Wache laufen!“
„Frau Girtlitz!“, rief Hel ler und schlu der alten Fr weiter ins G sicht. „Einen
Arzt!“, hörte er Oldenbusch rufen.
„Hallo, Sie da! Einen
Arzt!“
Nun zerrte
Heller Tisch und Sesse beiseite, zo die Frau vom
g en. Er hockte sich über sie, nahm ihre Arme bei den Handgelenken und begann sie wie Pumpenschwengel auf und ab zu bewegen. Er beugte sich zu ihr hinunter, das Ohr an ihren Mund gelegt, dann schlug er ihr wieder ins Gesicht.
Oldenbusch kam. „Jemand holt Hilfe.“Heller rutschte ein Stück hinab und horchte am Brustkorb der Frau.
„Kein Herzschlag.“
„Lass mich!“Oldenbusch kniete sich hin, schob Heller beiseite. Dann hob er die Faust über der Brust der leblosen Frau und ließ sie auf die Stelle fallen, wo er unter den Rippen das Herz vermutete. Das wiederholte er noch dreimal, dann beugte er sich hinunter, horchte wieder und wiederholte den Vorgang.
„Versuch es so!“Heller zeigte Oldenbusch, wie er mit beiden Händen die Eingeweide der Frau entgegen der Rippen schob und dann abrupt losließ. Dann stieg er über die Frau hinweg, drückte nun seinerseits seinen Kollegen zur Seite, um sich hinzuknien, und hielt der Frau mit der linken Hand die Nase zu und drückte ihr mit der rechten Hand den Mund auf. Dann presste er seinen Mund auf den der Frau und blies kräftig hinein. Zwar hob sich ihr Brustkorb und senkte sich wieder, als Heller abließ, doch weiter geschah nichts. Heller wiederholte den Vorgang noch mehrmals, doch seine Bemühungen blieben erfolglos.
„Ich denke, das hat keinen Zweck“, flüsterte Oldenbusch. „Versuchen wir es weiter“,
bestimmte Heller.