Chemnitzer Morgenpost

Die Pläne bleiben rätselhaft

Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzun­gsroman - 47. Teil

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17. September 1951,

Mittag

„Werner, ich bitte dich, halte dich dem Jungen gegenüber zurück“, sagte Heller leise. Nach einem kurzen Halt im Büro und einigen Telefonate­n waren sie wieder losgefahre­n, ohne Salbach.

„Keinen Meter traue ich dem!“Oldenbusch hielt das Lenkrad fest umklammert und starrte verbissen auf die Straße.

„Ich finde, das überschrei­tet eindeutig seine Kompetenze­n, wenn er Kassner Aufträge erteilt.“

Heller schwieg. Ihm war klar, dass Salbach zu weit gegangen war, doch er hatte letztendli­ch nichts anderes getan, als er sowieso angeordnet hätte. Oldenbusch war wütend. Er suchte jemanden, dem er die Schuld an seiner Zeit in der Zelle in die Schuhe schieben konnte. Der junge Kollege war da sicherlich der Falsche. Aber Heller wusste, es würde nichts bringen, Oldenbusch noch weiter mit diesem Thema zu reizen. Deshalb schwieg er. Beide schwiegen. Schon tauchte das Kraftwerk Mitte vor ihnen auf.

„Fahr einfach an das Tor, ich habe mich angemeldet.“

Die beiden Ingenieure ihm gegenüber, beide am Aufbau und Unterhalt des Kraftwerks beteiligt, beugten sich tief über die Blaupausen, die Heller ihnen auf den Tisch gelegt hatte. Gewissenha­ft studierten sie die Zeichen, Zahlen und Buchstaben und flüsterten sich ab und an etwas zu.

Heller ließ ihnen Zeit. Er saß etwas abseits vom Tisch, sah aus dem Fenster zu den vier hohen Schornstei­nen hin, aus denen Rauch stieg. Rings um das weite Kraftwerks­gelände erhoben sich

noch immer die leeren Ruinen der zerbombten Stadt. Unabsehbar, wann sich dieses Bild jemals ändern sollte. Und kaum vorstellba­r, dass ein Menschenle­ben dafür genügen sollte. Welche Kraft es allein gekostet hatte, dieses Werk wieder in Betrieb zu nehmen.

Und doch, es ging voran, Stück für Stück wurden Trümmer abgetragen und entstanden neue Häuser. Genauso ist es mit meiner Arbeit, dachte sich Heller. Auch wenn er das Große und Ganze gerade nicht im Blick hatte, so ging er trotzdem einen Schritt nach dem anderen. Immer weiter.

Jetzt spürte er, dass die Männer ihn ansahen.

„Nun?“, fragte er.

Der ältere, ein kleiner Mann mit weißem Schnauzbar­t, antwortete.

„Also, das stammt nicht aus diesem Werk. Zwar fehlt das Deckblatt von dem Plan, aber wir sind ganz sicher.“

„Könnte es denn aus einem anderen Werk stammen?“

„Also …“Der ältere sah seinen jüngeren Kollegen an. „Das ist kein uns bekannter Kreislauf. Auch nicht der eines Heizkraftw­erks.“

Heller war aufgestand­en und zu den Männern an den Tisch getreten. „Das erkennen Sie also, aber Sie erkennen nicht, was es ist?“

„Ich glaube“, setzte der eine Ingenieur zögernd an, „das ist etwas noch viel Komplexere­s. Darf ich fragen, woher Sie das haben?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie können mir keine weitere Auskunft geben? Komplexer, was heißt das? Noch komplexer als ein Kraftwerk?“

„Durchaus, ja. Die Maßeinheit­en fehlen in der Beschriftu­ng. Wir können also nicht erkennen, ob es sich hierbei um Widerständ­e handelt oder Durchlaufm­engen, auch nicht, ob wir uns im Milli-, Mikro- oder Kilobereic­h befinden. Ich glaube, das ist eine Art der Geheimhalt­ung. Sie sollten hierzu besser einen Physiker befragen.“

„Einen Physiker?“Beide Männer nickten.

Heller sah ihr Zögern, ihre Unbehaglic­hkeit angesichts seiner Nachfragen. Er raffte die Pläne zusammen.

„Vielen Dank. Ich bitte Sie in Ihrem eigenen Interesse, diese kurze Unterredun­g für sich zu behalten. Guten Tag!“

Physiker, dachte Heller vor der Tür, nicht Psychologe. Heinrich von Stetten war Physiker.

17. September 1951,

Abend

Heller war unzufriede­n. Niesbach war seinem Wunsch zwar nachgekomm­en und hatte die Vorladunge­n veranlasst, jedoch erst für den nächsten Tag.

Außerdem war Anni heute beim Schlafenge­hen sehr traurig gewesen. Eigentlich tröstlich, dachte er sich, zeigte es doch, dass sie Karin nicht vergessen hatte. Aber schon rief er sich selbst wieder zur Ordnung. Warum sollte das Kind seine Mutter vergessen? Doch die harschen Worte Saizevs dröhnten noch in seinen Ohren. Wie kam der Mann nur darauf, ihm so etwas zu sagen? Heller hatte ihn eigentlich immer für eine Art Freund gehalten. Jetzt hatten dessen Worte seine Angst vervielfac­ht, daraus etwas gemacht, das seiner Furcht vor dunklen Kellern in nichts nachstand. Karin würde niemals ohne ein Wort der Warnung weggehen, das wusste er. Allerdings hatte sie durchaus nachgefrag­t, ob Anni mit in den Westen reisen dürfte. Mehrmals.

Schwerfäll­ig stand Heller auf. Er brauchte jetzt etwas, das ihn locker machte. In der Vitrine, im Unterschra­nk, hielt er immer eine kleine Reserve Schnaps verborgen. Seit Monaten war die Flasche unangerühr­t geblieben. An der Küchentür fiel ihm ein, dass er das Wohnzimmer nicht einfach so betreten konnte. Zumindest nicht, ohne zu klopfen. Und das wollte er nicht, weil Edeltraud vielleicht schon im Nachthemd war. Sie ging immer früh zu Bett.

Heller ging wieder in die Küche und setzte sich. Er war unentschlo­ssen. Es gab so viele lose Enden in der Geschichte, und es gelang ihm einfach nicht, sie zusammenzu­bringen.

Zwei Stunden hatten sie heute vor dem Haus in der Burgenland­straße gelauert, in der Hoffnung, Paul und Hannah Girtlitz würden auftauchen. Doch nichts war geschehen. Auch in der Anzeigenan­nahme bei der Zeitung hatte man sich nur schwach erinnern können an die Person, die mehrmals mit einer ganzen Reihe von Annoncen da gewesen war. Ein sehr junger Mann, fast ein Kind noch. Das schloss Saizev aus und auch Paul, der mit seinen neunzehn Jahren schon sehr erwachsen wirkte. Wahrschein­lich war es aber sowieso nur ein Mittelsman­n gewesen. Das letzte Mal soll er vor zwei Wochen da gewesen sein. Neue Annoncen lagen nicht vor. Es gab einfach nichts Greifbares, was sie weiterbrac­hte. Heller fuhr sich über das müde Gesicht.

Als er vorhin Anni abgeholt hatte, hatte sich Frau Eigner seltsam benommen. Freundlich, ja, aber irgendwie reserviert. Reserviert­er noch als die Tage zuvor. Anni sei anstrengen­d gewesen, hatte sie gesagt. Es habe Streit gegeben mit Vera. Natürlich würde sie morgen wieder beide Mädchen mitnehmen aus dem Kindergart­en. Doch irgendetwa­s war anders. Eine Frage stand unausgespr­ochen zwischen ihnen, allein der Anstand und die Höflichkei­t hielten die junge Frau zurück, sie zu stellen. Wer ist diese Frau in ihrem Haus, die dort so selbstvers­tändlich ein und aus geht, die im Garten mit Anni spielt, Wäsche aufhängt und in der Küche singt? Er hatte sich lange überlegt, was er sagen könnte, doch solange Frau Eigner nicht fragte, würde jede Erklärung seinerseit­s wie eine Ausflucht erscheinen, vielleicht sogar wie eine Lüge. Helle gestanden und auf und ab. In G rekapituli­erte e einmal das Ges mit den beiden nieuren heute M

Was konnt plexer sein Kraftwerk? Wa die beiden Mä kannt, dass s fragten, woher den Plan habe

Hätte er Niesbach davon unterricht­en müssen? Er hatte es nicht getan. Das wa ein Fehler. Hel nahm sich ein der Gläser, di einmal Senfgläser gewesen waren, füllte es mit

Leitungswa­sser und trank es aus.

Er füllte es ein zweites

Mal. Er hatte au einmal Durst un ihm fiel auf, d er den ganzen Tag vergessen hatte, zu trinken.

Einem inneren Drang folgend, wollte er zum Fenster sehen. Doch in der Küche brannte Licht, also würde er draußen nichts erkennen können. War der Mann im Auto vor Saizevs Wohnung vielleicht gar nicht wegen dem Russen dort gewesen, sondern wegen ihm? Stand er tatsächlic­h unter Beobachtun­g? Und wussten sie, was er wusste? Und wer waren sie?

Er setzte sich wieder und nahm sich noch einmal den Stapel Zeitungen mit den Annoncen vor. Er wollte sich zwingen, logisch zu denken, er musste endlich dahinterko­mmen, wie dieses System funktionie­rte, ob es noch eine andere Bedeutung haben könnte. Doch die Zahlen verschwamm­en vor seinen Augen. Stattdesse­n tauchte Karin wieder in seiner Erinnerung auf, der flüchtige Kuss, den sie ihm gegeben hatte, diese Abenteuerl­ust in ihren Augen.

Was auch immer dieser Code bedeutete, der Verfasser der Annoncen musste das letzte Datum kennen, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Er kannte das letzte Datum und wollte es jemandem übermittel­n, ohne dass der zu früh davon erfuhr. Die Adressaten der Anzeigen mussten also das System kennen, mussten wissen, dass sie täglich die Zeitung lesen und diese vor allem aufheben sollten. Das war es. Sie durften die Zeitungen nicht wegwerfen, denn jede ältere Ausgabe konnte eine Informatio­n enthalten, auf die sie erst durch spätere Anzeigen hingewiese­n wurden. Das bedeutete wiederum, dass irgendjema­nd die Zeitungen von Wochen und

Monaten irgendwo auf

 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs.
Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g
eines jeden Lesers anders aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

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