Saizev wie ein entfesseltes Tier
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 53. Teil
Dresden im Spätsommer 1951: Während Ehefrau Karin Sohn Erwin im Westen besucht, kriegt es Oberkommissar Max Heller mit undurchsichtigen Todesfällen zu tun. Sohn Klaus ist jetzt beim Ministerium für Staatssicherheit. Was bisher geschah: Das MfS hat einige Zeugen Jehovas verhaftet. Vorwurf: Spionage. Machol und Weichert werden tot in ihren Zellen gefunden. Eine Nachbarin, die alte Frau Girtlitz, wird Opfer einer Gasexplosion. Von Alexej Saizev, sowjetischer Geheimdienstoffizier, erfährt Heller vom Schmuggel mit uranhaltigem Erz. Auch gäbe es einen US-Spion in Dresden, Rabe genannt. Sind MGB und CIA in die Sache verwickelt? Im Haus von Gefängniswärter Walter Rehm wird Gestein gefunden. Geologe Berenbom, der es untersuchen soll, wird überfahren von einem schwarzen Opel, wie Saizev ihn fährt. Grundbuchunterlagen zum Haus sind unauffindbar, Sachbearbeiter Haffner ist verschwunden. In der Nachbarschaft stirbt ein Ehepaar, bei einer Explosion kommen drei Männer ums Leben, einer davon Jehovas Zeuge Heinrich Busmann. Salbach fällt eine Häufung von Annoncen mit „Z“-Worten und Ziffernfolgen in Zeitungen auf - codierte Daten, glaubt Heller. Bei der Durchsuchung eines Lagers finden er und Oldenbusch Unterlagen aus dem Grundbuchamt, die beweisen, dass Walter Rehm das Haus der Zeugen Jehovas vor Kurzem noch besaß und es an Eugen Girtlitz, den Großvater von Hannah und Paul, verschenkte. Prompt ist der zuständige Notar tot. Dann erfährt Heller vom Überfall auf einen Kohlen-Laster. Noch einmal durchsucht er Walter Rehms Haus - und findet Schrottteile in einem Fass voller Farbe.
„Ach, endlich. Wir haben uns schon Dutzende Male beschwert, aber es kommt ja keiner!“
„Gehen Sie rein und halten Sie die Tür geschlossen!“, befahl Heller unwirsch. Das Stöhnen hinter der Tür endete unvermittelt, dann vernahm er ein heiseres gedämpftes Schreien. Er holte mit dem Fuß aus, besann sich jedoch im nächsten Moment. Er trat zurück, holte Schwung und rammte mit der rechten Schulter gegen die Tür. Holz splitterte, die Tür schwang auf. Heller warf einen schnellen Blick in die Küche, durchmaß den Flur mit schnellem Schritt, die Pistole im Anschlag, und stürmte ins Wohnzimmer.
Unerträglich laut plärrte die Musik aus dem großen Radio. Eva lag gefesselt auf dem Bett, Arme und Beine weit von sich gestreckt, den Mund geknebelt. Saizev lag auf ihr, nackt, schwitzend, keuchend, wild stoßend, wie ein entfesseltes Tier. Sein Schweiß tropfte der Frau ins Gesicht, sein Haar klebte nass am Kopf, jeder Muskel in seinem Leib schien verkrampft. Der Akt wirkte freudlos, besessen, hatte nichts mit Hingabe oder Leidenschaft gemein. Er keuchte wild. Hellers Anwesenheit hatte er nicht bemerkt.
Ganz anders die junge Frau. Sie riss die Augen auf, versuchte durch ihren Knebel zu schreien und begann sich zu wehren. Doch Saizev verstand das offenbar falsch, denn er packte sie am Hals, würgte sie, stieß weiter zu, dass das Bett wieder und wieder gegen die Wand prallte.
Heller musste einschreiten. Er ließ sein Bündel mit den Metallteilen fallen, war mit wenigen Schritten am Bett und
schüttelte Saizev an der Schulter.
Saizev reagierte blitzschnell, ließ von der Frau ab und warf sich regelrecht unter das Bett, um einen Sekundenbruchteil später an dessen Fußende wieder aufzutauchen und mit einer Pistole auf Heller zu zielen.
Noch nie in seinem Leben hatte Heller so eine schnelle Reaktion gesehen. Er war so verblüfft, dass er nicht einmal seine
Waffe hob.
„Heller!“, keuchte Saizev und schnappte nach
Luft. „Was machen
Sie hier?“, rief er gegen die laute
Musik an.
„Das muss ich Sie fragen“, erwiderte
Heller, die überlaute
Musik verursachte ihm Kopfschmerzen.
Doch Saizev, bebend vor Adrenalin und Wut, wollte die Pistole nicht herunternehmen. „Das geht Sie nichts an!“, zischte er durch zusammengebissene Zähne.
„Das geht mich sehr wohl etwas an!“Heller zeigte auf die junge Frau, die sich noch immer in ihrer hilflosen Lage befand. Der Schweiß lief ihr zwischen den Brüsten hinunter und sammelte sich auf ihrem Bauch. Eva Baumert versuchte die Knie zusammenzunehmen, um ihre Scham zu verbergen, doch die Fesseln hinderten sie daran. Deshalb drehte sie ihre Hüfte, so weit sie konnte, um Heller den Blick zu verwehren. Durch den Knebel versuchte sie zu sprechen. Für einen Moment sah Heller sie wie erstarrt an.
Dann ging er zum Bett, um ihr die Handgelenke loszubinden.
Endlich besann Saizev sich, schnappte sich ein Hemd, das er sich um den Unterleib schlang, und stellte dann das Radio ab.
„Mach mich los!“, nuschelte die junge Frau und riss an ihren Fesseln. Saizev legte die Pistole auf das Fensterbrett und machte sich an ihren Füßen zu schaffen. Inzwischen hatte Heller eine Hand der Frau befreit. Ungeduldig versuchte sie, das andere Handgelenk frei zu kriegen, doch es gelang ihr nicht. Wütend riss sie sich den Knebel aus dem Mund. „Helfen Sie mir doch!“, fauchte sie Heller an.
„Ich will ja“, mahnte Heller, damit die Frau ihn auch ließ.
In der Zwischenzeit hatte Saizev die Fußfesseln gelöst. Die junge Frau stieß Heller beiseite, sprang auf, sammelte hastig ein paar Kleidungsstücke auf und flüchtete aus dem Zimmer.
Einige Sekunden standen die beiden Männer sich gegenüber.
„Was wollen Sie hier, Heller?“, knurrte Saizev schließlich. Heller verzichtete auf eine Erklärung, fischte stattdessen das Bündel mit den Metallteilen vom Boden und warf es auf das Bett. „Was ist das?“
Misstrauisch betrachtete Saizev das Bündel, berührte es nicht, aber konnte von seiner äußeren Form offenbar nicht auf den Inhalt schließen. Er schwankte leicht, was Heller vermuten ließ, dass der Russe trotz der katzenartigen Reaktion nicht ganz bei sich war. Vielleicht stand er immer noch unter dem Einfluss der Droge. Schließlich öffnete Heller den Knoten des Bündels.
Einige Augenblicke ließ sich Saizev Zeit mit einer Antwort.
„Ich habe keine Idee“, begann er zögernd. „Schrott, nehme ich an.“
„Alexej, Sie wissen, wer der Rabe ist!“, flüsterte Heller ihm zu.
Saizev sah auf und blickte ihm forschend in die Augen. Allein dieser Bick war Heller Beweis genug. „Alexej, Sie glauben sich sicher, doch man hat Sie schon im Visier! Ihre eigenen Leute.“
„Max, Sie wissen nicht, wovon Sie sprechen.“
„Sie selbst machen sich verdächtig. Alexej, ich will Sie warnen. Sie sind in Gefahr! Ihr Verhalten. Ihre Kleidung. Das Kokain. Das ganze amerikanische Zeug in der Küche, denken Sie, das bleibt unbemerkt? Ihre eigenen Leute müssen glauben, Sie seien der Rabe.“
Saizev winkte ab. „Das ist konfiszierte Schmuggelware! Ich brauche nur zu fragen. Wollen Sie etwas? Zigaretten? Whiskey?
Schokolade? Corned Beef?“
Saizev warf jetzt das Hemd von sich, stand nackt und selbstbewusst da, ohne Scham, seine Erregung war abgeflaut, doch die Anspannung war ihm noch anzusehen.
„Was stellen Sie mit der Frau an?“, fragte Heller. Seine Hoffnung, auf Saizev einwirken zu können, war kindisch gewesen.
„Nichts, was sie nicht auch braucht.“Saizevs Mundwinkel verzog sich zu einem fast höhnischen Grinsen. „Möchten Sie vielleicht auch mal, jetzt, da Ihre Frau nicht mehr da ist? War es nicht ein reizvoller Anblick? Sie heißt Eva.“
Heller nahm sich die Zeit, dem Russen noch länger in die Augen zu schauen. Etwas war da. Etwas hatte ihn noch mehr zerstört als der Krieg und der Verlust seiner Angehörigen. Er versuchte, Saizev zu verstehen, ihm zu verzeihen, doch es gelang ihm nicht.
„Das ist gehässig, Alexej, verachtend. Ich bin enttäuscht von Ihnen.“Heller nahm das Bündel vom Bett und verließ das Zimmer. Saizev hielt ihn nicht auf.
Im Flur prallte Heller mit Eva Baumert zusammen. „Gehen Sie fort von hier“, raunte er ihr zu. „Was auch immer er Ihnen verspricht. Das ist doch kein Leben!“
„Was ist es denn dann?“, fragte die Baumert. Sie war jetzt bekleidet, wenn auch unvollständig. Sie trug nichts unter der Bluse und hielt sich die Arme vor den Oberkörper.
Diese Gegenfrage hatte Heller nicht erwartet. „Sehen Sie sich doch an.“
Die junge Frau hob das Kinn. „Ja? Was sehen Sie denn? Wer sind Sie überhaupt, dass Sie entscheiden können, was sich gehört und was nicht? Was wissen Sie schon? Was hatte ich denn zuvor für ein Leben? Gar keines! Sie können ja nach H zu Frau und Kind, w deren es tun. Ich ents selbst, wie ich leben
Und wenn es mich bringt irgendwann, habe ich wenigstens lebt, wie ich es wollte
Sie jetzt!“Wütend u ängstlich, als bereu ihren Ausbruch, ze sie auf die Tür. „Bi te!“, fügte sie noch leise hinzu.
An der Villa in der Bergbahnstraße wurde eifrig gearbeitet. Gärtner beschnit ten die hohen Heck und mähten den Ra sen. Vor dem Haus standen einige Fahrzeuge, auch ein kleiner Laster, auf dessen Ladefläche Ziegel lagen, und zwei schwarze Limousinen. Beide waren nicht besetzt.
Kurzentschlossen betrat Heller d
Grundstück und trug rechts und links eine Tasche und ein unhandliches Paket, das für ihn im Präsidium bereit gelegen hatte. Er tat so, als gehörte er dazu, und nickte einem Maurer zu, der Mörtelsäcke nach draußen trug. Die Handkarren und Leiterwagen der Handwerker standen neben dem Portal. Das Gerüst war abgebaut. Im Eingangsbereich kehrte ein Lehrling, gab Heller den Weg frei und grüßte mit einem Kopfnicken. Jetzt war Heller zwar im Haus, wusste aber nicht, wohin er gehen sollte.
„Herr von Stetten?“, rief er gegen das Hämmern im Obergeschoss an. Zwei Maler sahen neugierig aus einer Tür im Erdgeschoss. Gerade wollte Heller sich an sie wenden, da eilte ein Mann in ziviler Kleidung die Treppe hinunter.
„Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
Heller stellte die Taschen ab und zeigte seinen Ausweis vor. „Ich möchte Herrn von Stetten sprechen.“
„Der ist noch nicht da.“„Wann kommt er denn?“
Der Maurer kam wieder und nahm sich den nächsten überzähligen Sack vom Stapel, um ihn nach draußen zu schaffen.
„Das geht Sie nichts an. Wenn Sie die Baustelle bitte verlassen wollen. Sie sind nicht befugt, sich hier aufzuhalten!“
Heller beschloss, nicht weiter zu insistieren. Wenn von Stetten nicht da war, nützte es ihm sowieso nichts. Er hatte gehofft, ihm die Blaupausen zeigen zu können. Auf dem Grundstück kam ihm erneut der Maurer entgegen.
„Morgen Abend soll alles fertig sein“, raunte er Heller zu, „alles immer eilig, eilig. Aber alles geheim.“Er verdrehte die Augen.