Eine Flut von weißem Licht
Fortsetzungsroman Roter Rabe - 63. Teil
Und Saizev war nicht gekommen. Ausgerechnet Saizev, der sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Raben zu fangen. Weder hatte er Ansprüche auf die Gefangene erhoben noch sich sonst irgendwie gezeigt.
Nein, Heller war sicher, hier sollte er gerade jetzt nicht sein.
„Kannst du etwas sehen?“, fragte er Oldenbusch, der am Nachbarfenster stand.
„Alles ruhig. Aber ich wette, die kommen nicht. Die haben das hier alles aus sicherer Entfernung beobachtet.“
„Ich fürchte, sie kommen und laufen blind in unsere Falle. Paul und Hannah, die sind nicht so gewieft. Die glauben sich sicher. Sie sind nur Bauern im Spiel. Ich will nur hoffen, dass Paul vernünftig ist.“
„Und wenn sie ebenfalls längst weg sind, und die Bombe liegt tatsächlich irgendwo?“, fragte Oldenbusch leise.
Heller antwortete nicht. Den ganzen Tag über hatte er versucht, den Gedanken daran zu verdrängen. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Dass jemand aus Kalkül einen Krieg heraufbeschwor, der möglicherweise mit Atomwaffen geführt wurde. Weder die Amerikaner noch die Russen waren so verrückt. Andererseits hatte ‚Zündung‘ in der Anzeige gestanden. Wer oder was sollte gezündet werden? Bis jetzt war noch nichts geschehen, und der Tag neigte sich dem Ende entgegen. Es war leicht, sich zu sagen, dass nichts geschehen würde, aber es war schwer, sich selbst zu glauben.
Oldenbusch wurde plötzlich unruhig. „Da passiert was!“
Heller beeilte sich, zu Oldenbuschs Fenster zu laufen. Es war schon fast nichts mehr zu erkennen, so dunkel war es. Ein Fahrzeug fuhr ohne Licht auf das Gelände, schaukelte über die Bodenunebenheiten, näherte sich dem Bahndamm und blieb schließlich stehen.
Es musste der Laster sein. Nun fuhr er doch wieder an, wendete mitten im Gestrüpp, rangierte so lange, bis er mit der Ladefläche zum Bahndamm stand.
Jetzt öffneten sich die Türen, zwei Personen stiegen aus und kletterten den Bahndamm hinauf. Das mussten Paul und Hannah sein. Dann war wieder alles ruhig.
Es galt, den Befehl abzuwarten. Plötzlich wurde das unebene Gelände, wurden die Sträucher und das hohe Gras in Licht getaucht. Die Böschung am Bahndamm war hell erleuchtet.
„Was ist denn jetzt los? Ist das so geplant?“, murmelte Oldenbusch und bemühte sich, besser nach unten sehen zu können.
„Das ist ein Polizeifahrzeug, die sind nur zufällig hier“, rief Heller, „die müssen weg da, Werner!“
Oldenbusch rannte los. Heller folgte ihm, doch er war deutlich langsamer. In der zweiten Etage machte er Halt und lief zum Fenster. Aus dem Polizeiwagen waren zwei Polizisten gestiegen. Heller sah, wie sich jenseits des Bahndamms etwas bewegte und eine Gestalt, eindeutig Paul Girtlitz, sich anschlich.
Aber auch die beiden Polizisten hatten ihn entdeckt. „Hände hoch, Polizei!“, rief einer.
Ein Stück weiter hinten tauchte Hannah auf, was die Polizisten von ihrem ebenerdigen Standpunkt aus nicht sehen konnten. Heller konnte eine Pistole in ihrer Hand ausmachen. Als Paul tatsächlich die Hände über den Kopf hob, nahm Hannah die Pistole in beide Hände und zielte unsicher auf die Polizisten.
Heller zögerte nicht länger und schlug mit dem Lauf seiner Pistole die Scheibe vor sich ein. Das Glas zersplitterte.
„Nicht schießen!“, rief er. „Ihr seid umstellt! Nicht schießen!“
Doch es war zu spät. Hannah drückte ab und einer der Polizisten stürzte zu Boden. Der andere warf sich in Deckung, schoss blind ins Dickicht hinein. Paul war im nächsten Augenblick verschwunden, tauchte aber kurze Zeit später mit der russischen Waffe in der Hand wieder auf. Er hantierte hektisch herum, doch die Waffe funktionierte nicht. Ihr Anblick allein genügte, dass von überallher das Gewehrfeuer der versteckten Posten einsetzte. Das Geschwisterpaar hatte sich hinter dem Bahndamm in Deckung begeben. Dann flog etwas durch das Licht, es gab eine Explosion, die die Scheinwerfer zerstörte, und dann wurde es dunkel. Der zweite Polizist begann zu schreien. „Helft!“, rief er. „Helft!“
„Halt aus!“, erwiderte jemand und noch einmal eröffneten alle das Feuer.
Heller zog sich zurück vom Fenster, ging hinter der dicken Mauer in Deckung und wartete auf das Ende der Schießerei. Nach ewig langen Minuten ebbte das Blaffen der Pistolen und Gewehre ab.
„Feuer einstellen!“, schrie jemand. Nur noch vereinzelt knallte es. „Stopfen!“, rief es, „Stopfen!“, damit auch der Letzte dem Befehl nachkam.
Heller zog sich wieder vorsichtig am Fenster hoch. Der verwundete Polizist schrie noch immer. Jemand war ihm zu Hilfe geeilt. Soweit Heller das beurteilen konnte, war es Oldenbusch.
Wenige Minuten später hatten die Leute vom MfS Scheinwerfer herbeigeschafft, die das ganze Szenario erhellten. Den Bahndamm. Das zerstörte Polizeifahrzeug. Den zerschossenen Framo. Die Sanitäter, die dem Verwundeten halfen. Den Polizisten, der von Hannahs Kugel tödlich getroffen worden war.
Hannah und Paul Girtlitz. Sie lagen nebeneinander. Als schliefen sie. Man hatte sie an den Füßen aus dem Gebüsch ziehen müssen. Sie waren von zehn, fünfzehn Kugeln getroffen worden. Vermutlich waren sie gleich nach der ersten Gegenattacke schon tot gewesen. Ihr Anblick war unerwartet friedlich. Die Schusswunden wurden gnädig von der Kleidung verdeckt. Das meiste Blut hatten sie schon auf dem Bahndamm verloren.
Wie es dazu kam, dass die Streife ihnen gefolgt war, hatte sich schnell aufgeklärt. Jemandem war der schwarze Laster aufgefallen, der ohne Licht durch die Straße fuhr, und hatte das nahe gelegene Polizeirevier angerufen. Darauf hatten die Kollegen unverzüglich reagiert und waren ihm gefolgt. Ein Zufall nur.
Heller zwang sich, die beiden Toten anzusehen. Paul Girtlitz erinnerte ihn an den jungen Erwin, dessen Bild er so in seiner Erinnerung mit sich trug. Hannah, eine hübsche junge Frau, wie Anni es einmal sein würde. Er sah ihnen in die jungen Gesichter, auch wenn es ihn in diesem Moment schmerzte, als seien es seine Kinder. Das war er ihnen schuldig. Er hätte sich mehr bemühen müssen. Er hätte sie nicht davonlaufen lassen sollen. Er hätte mit Hannah reden müssen. Irgendwie.
„Die lebt noch!“, rief einer der Polizisten. „Sie bewegt die Finger!“
Heller schob ihn beiseite und kniete sich neben die Frau.
„Hannah“, flüsterte er. Aber sie reagierte nicht. Nur ihre Finger zuckten. „Hannah, was hat sie euch versprochen? Warum das alles?“Heller legte ihr eine Hand auf den Kopf, umschloss mit der anderen ihre Hand. Er spürte eine warme Feuchtigkeit und den leichten Druck ihrer Fin
Hannahs Lider z doch sie konnte die A nicht öffnen. „Eine sagte sie leise, und H beugte sich weiter hina „Eine Flut“, wiederho „Weißes Licht. Wird a fortspülen. Den Schm Ganz weißes Licht.“Druck ihrer Finger lie nach. Und als Heller seine Hand von ihrem Kopf löste, kippte er zur Seite.
Seine Schuld, es war seine Schuld, hämme te es in Hellers Kopf. glaubte immer, nich genug getan zu haben. Weil es nie genug war. Konsequenter hätte er sein müssen, energischer, rigoroser, rücksichtsloser.
Heller bemerkte, wie jemand neben ihm stand. Er sah auf. Es w einer der Russen vom MGB.
„Was hat sie gesagt?“, fragte dieser mit unbewegter Miene.
Heller stand auf. Er wollte diesen letzten Moment nicht mit jemandem teilen.
„Das war nicht nötig gewesen!“, sagte er scharf. „Sie wurden nur benutzt. Weiß Gott, was ihnen versprochen wurde. Das Himmelreich auf Erden? Sie waren fast noch Kinder. Es war nicht nötig gewesen, sie zu erschießen.“
Doch vielleicht war es genau das, was die Geheimdienstleute gewollt hatten.
„Das waren Ihre Leute, die geschossen haben!“, erwiderte der Geheimdienstmann. „Ich hätte die beiden noch gebrauchen können.“Er wollte sich abwenden, da packte ihn Heller am Arm. „Wo ist Saizev?“
Der Russe sah Heller unbeweglich an. Dann aber zuckte ein Nerv unter seinem linken Auge. „Wir wissen es nicht.“
20. September 1951, eine Stunde vor Mitternacht
Trübes Laternenlicht huschte an ihm vorbei. Unter ihnen surrten die Räder über das Kopfsteinpflaster. Ob es Edeltraud Hermann Befriedigung verschaffen würde? Ob er ihre Augen aufleuchten sehen würde, wenn er ihr sagte, dass Hannah und Paul tot waren, dass zwei weitere Menschenleben auf ihre Kosten gingen? Sollte er ihr dieses Vergnügen verschaffen? Oder hatte sie andere Sorgen? Der Tag war bald zu Ende. Eine Flut von weißem Licht. Wie viel Macht manche Menschen über andere ausübten. Wie Menschen immer wieder bereit waren, ihr Leben für den Glauben zu opfern. Heller schüttelte unwillkürlich den Kopf.
Eine Flut von weißem Licht.