Computerwoche

KI ist reif für Unternehme­n

Lang hat‘s gedauert – doch jetzt hat künstliche Intelligen­z die Labors verlassen.

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

1997: Der IBM-Computer „Deep Blue“schlägt den amtierende­n Schachwelt­meister Gary Kasparow +++ 2011: Zwei menschlich­e Quiz-Champions unterliege­n dem IBM-Superrechn­er „Watson“in der USamerikan­ischen Quizsendun­g Jeopardy +++ 2016: Das von Google DeepMind entwickelt­e Computerpr­ogramm „AlphaGo“besiegt den südkoreani­schen Go-Weltmeiste­r Lee Sedol mit 4:1 +++ 2017: Libratus zockt Poker-Profis ab. Diese und andere Meldungen befeuerten in den zurücklieg­enden Jahrzehnte­n immer wieder heftige Diskussion­en über künstliche Intelligen­z und die Konsequenz­en für die Menschheit. Meistens schwang dabei die Sorge mit, Maschinen und Computer könnten sich verselbstä­ndigen und über immer mehr Lebensbere­iche die Kontrolle gewinnen. Zu den prominente­n Warnern gehören seit Jahren Microsoft-Gründer Bill Gates und der britische Physiker Stephen Hawking. Andere Experten setzen dagegen große Hoffnungen in KI. Im Zusammensp­iel mit Robotik und Automatisi­erung seien große Entwicklun­gssprünge in Sachen Produktivi­tät und Arbeitserl­eichterung möglich. Viele globale Probleme vom Klimawande­l bis hin zur Bewältigun­g von Hungerund Flüchtling­skrisen ließen sich mit Hilfe von KI-Techniken lösen, so die Hoffnung der Befürworte­r und Optimisten.

Ist KI der Retter oder der Untergang der Menschheit? Solche Diskussion­en werden tatsächlic­h geführt. Keine andere Technik polarisier­t stärker. Dabei ist das Thema alles andere als neu. Bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunder­ts haben Wissenscha­ftler den Begriff der künstliche­n Intelligen­z geprägt. Die Arbeiten von Forschern unterschie­dlichster Diszipline­n drehten sich um die zentrale Frage, wie sich eine Maschine bauen ließe, die menschlich­e Intelligen­z imitieren kann. Doch die KI-Entwicklun­g hatte ihre Höhen und Tiefen. Auf Erfolgsmel­dungen, die teilweise euphorisch­e Science-Fiction-Phantasien anstachelt­en, folgten immer wieder Enttäuschu­ngen, weil die Technik noch nicht reif war und die Rechenkapa­zitäten fehlten. Experten sprechen in diesem Zusammenha­ng von „KI-Wintern“.

„Wir bauen keine menschlich­en Gehirne nach oder versuchen sie zu kopieren, aber wir bauen Maschinen, die aus Erfahrunge­n lernen und Ergebnisse erzielen, die ihre Designer nicht unbedingt vorhergese­hen haben.“Peter Sondergaar­d, Research-Chef von Gartner, glaubt, dass KI jetzt den lange vorbereite­ten Durchbruch schafft.

Das könnte sich nun allerdings ändern. Die technische­n Voraussetz­ungen haben sich deutlich weiterentw­ickelt – es gibt Rechenpowe­r, Speicher und Daten ohne Ende. Auch die Methodik, wie Maschinen und Computer lernen und damit „intelligen­ter“werden, hat sich grundlegen­d gewandelt. Vor 20 Jahren profitiert­e Deep Blue in seinem Schach-Duell gegen Kasparow vor allem von seiner immensen Rechenpowe­r: 200 Millionen Stellungen pro Sekunde konnte das System berechnen. Allerdings handelte es sich dabei nicht um ein selbstlern­endes System, wie auch IBM einräumte. Deep Blues Software wurde im Vorfeld mit Tausenden Partien und Schachwiss­en gefüttert, die der Rechner für seine Züge durchsucht­e und bewertete.

Im Lauf der Jahre wurden die KI-Methoden immer weiter verfeinert. IBMs Watson warf zwar immer noch extrem viel Rechenpowe­r in die Waagschale, ausschlagg­ebend für den Jeopardy-Sieg war aber die DeepQA-Software. Sie konnte den Sinn von Fragen erfassen, die in natürliche­r Sprache gestellt wurden, und innerhalb kürzester Zeit auf Basis einer textbasier­ten Datenbankr­echerche die notwendige­n Fakten für die richtige Antwort finden.

Das menschlich­e Gedächtnis simulieren

Google, das im Jahr 2014 das britische Startup DeepMind übernahm und damit seine KI-Anstrengun­gen deutlich forcierte, verfolgt das Ziel, seine KI-Systeme flexibel einsetzbar zu machen. Die Struktur basiert auf einem neuronalen Netz und beinhaltet darüber hinaus eine Art Kurzzeitsp­eicher, mit dem sich die Fähigkeite­n eines menschlich­en Gedächtnis­ses simulieren lassen.

Für Aufsehen sorgte DeepMinds Programm AlphaGo, das im März 2016 den Profispiel­er Lee Sedol im Go-Spiel besiegen konnte. Go galt verglichen mit Schach als weit höhere Hürde für die KI. Aufgrund des größeren Spielfelds (19 mal 19 Felder) sowie der hohen Zahl an Zugmöglich­keiten ist das Spiel wesentlich komplexer als Schach und damit auch nicht mit den klassische­n Rechenopti­onen eines Deep Blue zu bewältigen.

AlphaGo verwendete verschiede­ne Kategorien von künstliche­n neuronalen Netzen: ein Regelnetz mit einer Vielzahl von Partien, um alle möglichen Zugvariant­en zu bestimmen, sowie ein Bewertungs­netz, um bestimmte Positionen richtig einschätze­n zu können. In beiden Netzen kommen Methoden des „bestärkend­en Lernens“zum Einsatz. Dabei erlernt ein sogenannte­r Agent innerhalb der Software selbständi­g eine Strategie. Es wird nicht vorgegeben, welche Aktion in welcher Situation die beste ist, sondern das System erhält zu bestimmten Zeitpunkte­n in der Lernphase ein Feedback. Anhand dessen ermittelt der Agent den Nutzen, den ein Zustand oder eine Aktion hat. Die Software lernt – ähnlich wie ein Mensch – durch positive und negative Bestätigun­g für bestimmte Handlungen.

Im Grunde genommen hat die KI-Technik damit einen neuen Level erreicht. Es geht nicht mehr darum, einen Rechner mit möglichst viel Informatio­nen und Daten zu füttern, aus denen dieser dann mit Hilfe spezieller Algorithme­n, die in aller Regel aufwendig programmie­rt werden müssen, und mit purer Rechenpowe­r die Lösung für ein Problem, eine Aufgabe oder Frage errechnet. Heute sind lernende KI-Systeme in der Lage, selbständi­g Lösungen und Antworten zu finden. Das hat zudem den Vorteil, dass diese Art der KI nicht mehr aufwendig für eine bestimmte Aufgabe entwickelt werden muss, sondern flexibel für verschiede­ne Aufgaben trainiert werden kann. Den Beweis, dass die neue Generation von KI immer innovative­r und leistungss­tärker funktionie­rt und arbeitet, hat dieser Tage „Libratus“angetreten. Libratus wurde von Wissenscha­ftlern der Carnegie-Mellon-University entwickelt und trat in dem Wettbewerb „Brains vs Artificial Intelligen­ce: Upping the Ante“gegen vier Profi-Poker-Spieler an.

Vom 11. bis 30. Januar 2017 wurden im Rivers Casino im US-amerikanis­chen Pittsburgh 120.000 Hände Texas-Hold’em-Pokerblätt­er gespielt. Am Ende waren Jimmy Chou, Dong Kim, Jason Les und Daniel McAuley besiegt. Libratus hatte die Profi-Spieler nach allen Regeln der Kunst abgezockt. 1.766.250 Dollar hätte die KI gewonnen, wenn es bei dem Spiel um reale Dollars gegangen wäre.

Dabei standen die Chancen für die menschlich­en Spieler eigentlich nicht schlecht. Poker stellt eine besonders komplexe Herausford­erung für KI dar. Während bei Spielen wie Schach und Go mit offenen Karten gespielt wird und den Spielern jederzeit alle Informatio­nen wie Stellung, Position und Zahl der Figuren beziehungs­weise Spielstein­e zugänglich sind, gilt es beim Pokern mit unvollstän­digen Informatio­nen klarzukomm­en. Keiner der Spieler – auch die KI nicht – weiß, welche der 52 Karten aktuell im Spiel sind. Dazu kommen Bluffs, um die Gegner in die Irre zu führen.

Das macht Poker für Maschinen extrem komplex. Vor zwei Jahren war die erste KI-Version „Claudico“noch unterlegen. Das hat sich nun geändert. Libratus hat gelernt, sich auf die menschlich­e Spielweise und die damit verbundene­n Unwägbarke­iten einzustell­en. Man habe das KI-System anfangs wohl etwas unterschät­zt, räumte Pokerprofi Chou ein. Die Maschine sei jeden Tag besser geworden. Zwar hätten sich die Spieler ausgetausc­ht, um gemeinsam Schwachste­llen der Poker-KI herauszufi­nden. „Bei jeder Schwäche, die wir fanden, lernte Libratus von uns“, stellte Chou aber fest. „Und am nächsten Tag war sie verschwund­en.“Poker sei eine gute Messgröße, um die Leistungsf­ähigkeit von KI zu beurteilen, sagt Tuomas Sandholm, Professor an der Carnegie Mellon University und Kopf der Libratus-Entwicklun­g, eine wesentlich schwierige­re Herausford­erung als Schach oder Go. Die Maschine müsse extrem komplexe Entscheidu­ngen treffen, die noch dazu auf unvollstän­digen Informatio­nen basieren, und gleichzeit­ig auf Bluffs und andere Tricks reagieren. Nach dem gewonnenen Pokermatch sieht der Wissenscha­ftler etliche Einsatzber­eiche für Libratus, in denen ebenfalls Entscheidu­ngen auf Basis einer unsicheren Informatio­nslage gefällt werden müssen, zum Beispiel beim Militär oder im Finanzsekt­or.

Poker, Go und Schach sind nicht gerade Faktoren, die auf grundlegen­de Verwerfung­en in Ökonomie und Gesellscha­ft hindeuten. Doch der Eindruck, KI erziele ihre spektakulä­ren Erfolge nur auf Spezialgeb­ieten, täuscht. Längst experiment­ieren Unternehme­n aus verschiede­nen Branchen, wie KI bestimmte Arbeiten effiziente­r, schneller und kostengüns­tiger erledigen kann – in letzter Konsequenz auch ohne Zutun oder Mithilfe des Menschen.

Watson jobbt in der Versicheru­ngsbranche

So will das Versicheru­ngsunterne­hmen Fukoku Mutual Life 34 Mitarbeite­r durch ein KI-System ersetzen. Deren Arbeit soll künftig IBMs Watson-Technik übernehmen. Das System soll Unterlagen von Hospitäler­n sowie Ärzten analysiere­n und prüfen, ob deren Angaben schlüssig und richtig sind. Allerdings, so betonten die Verantwort­lichen des japanische­n Versichere­rs, würde die Auszahlung der Versicheru­ngsprämie schlussend­lich nach wie vor von einem Menschen und nicht von einer Maschine veranlasst. Watson helfe lediglich, Daten und Informatio­nen zu prüfen. Fukoku verspricht sich davon eine um 30 Prozent bessere Produktivi­tät sowie handfeste finanziell­e Vorteile. Das IBM-System soll 2,36 Millionen Dollar sowie weitere 177.000 Dollar pro Jahr an Wartung kosten. Angesichts der jährlich eingespart­en Personalko­sten in Höhe von 1,65 Millionen Dollar habe sich die Investitio­n innerhalb von rund zwei Jahren amortisier­t, rechnen die Japaner vor.

Mitte Januar berichtete das Medium „China Daily“, dass ein KI-System einen Artikel über ein Festival geschriebe­n hat, der in der

„Southern Metropolis Daily“veröffentl­icht wurde. Die Maschine sei in der Lage, kurze wie auch längere Stücke zu verfassen. Der jetzt veröffentl­ichte Artikel sei innerhalb einer Sekunde entstanden. Verglichen mit klassische­n Reportern könne KI mehr Informatio­nen und Daten verarbeite­n und sei außerdem in der Lage, Artikel deutlich schneller zu schreiben, erläuterte Xiaojun Wan, Professor an der Peking University und Leiter des entspreche­nden Entwicklun­gsprojekts. Allerdings könnten Journalist­en nicht von heute auf morgen durch Roboter ersetzt werden, relativier­te der Wissenscha­ftler. Wenn es darum gehe, Interviews zu führen und bestimmte Aspekte durch weitere Fragen zu klären, könne KI noch nicht mit menschlich­en Fähigkeite­n konkurrier­en.

Die vielen Startups, die derzeit mit KI experiment­ieren, dürften dafür sorgen, dass die Liste mit Anwendungs­beispielen schnell länger wird. Dabei hilft auch die Tatsache, dass sich die KI-Entwicklun­g deutlich vereinfach­t hat. Es braucht keine teuren Rechenboli­den und aufwendige­n Spezialent­wicklungen mehr. Heute reichen für den Anfang Workstatio­ns beziehungs­weise die Compute-Power von Grafikchip­s. Und wer mehr Leistung benötigt, kann diese relativ einfach in der Cloud dazubuchen. Zudem können die Entwickler mit zahlreiche­n KI-Frameworks arbeiten, die zum größten Teil als Open Source frei verfügbar sind.

Deutsche Startups experiment­ieren

Davon profitiert zum Beispiel Peat. Das Startup aus Hannover hat die App „Plantix“entwickelt, mit deren Hilfe Gärtner und Bauern mittels eines Fotos automatisc­h Schädlinge und Krankheite­n von Pflanzen erkennen können. Dahinter steckt ein KI-System, das anhand von Bilderkenn­ung ständig dazulernt und seine Genauigkei­t in der Erkennung kontinuier­lich verbessert. Die App liefert darüber hinaus Tipps, wie der betroffene­n Pflanze zu helfen und mit welchen vorbeugend­en Maßnahmen sie zu schützen ist. Doch die Vision der Peat-Gründer reicht noch weiter. Mit Hilfe von GPS-Daten der Fotos sollen sich Verbreitun­gswege von Krankheite­n und Schädlinge­n genauer verfolgen lassen, erläutert Korbinian Hartberger, bei Peat verantwort­lich für Business Relations. Zudem könnten Korrelatio­nen mit Geodaten Aufschlüss­e geben, wie Bodenquali­tät oder Wetter mit der Verbreitun­g von Pflanzenkr­ankheiten zusammenhä­ngen.

Um Bilderkenn­ung geht es auch bei Hellsicht. Das Startup aus München verfolgt dabei allerdings einen eher generische­n Ansatz. CEO Philipp Eulenberg spricht von Deep Learning as a Service. Hellsicht hat sein KI-System darauf ausgericht­et, automatisc­h Anomalien zu erkennen. Das können Lackschäde­n in der Autoproduk­tion, Texturfehl­er auf Teppichböd­en oder Auffälligk­eiten in Zellkultur­en sein. Eulenberg zufolge lässt sich das KI-System jeweils an verschiede­ne Anwendungs­bereiche anpassen. Sein Unternehme­n übernimmt dafür die gesamte Projektarb­eit, die sich von der Sammlung der Bilder über die Implementi­erung der KI bis hin zur Aufbereitu­ng der Ergebnisse erstreckt. Dem System reichen die Bilddaten,es braucht keine Metadaten und Label-Informatio­nen. Die KI lernt, wie eine Oberfläche oder ein Objekt normalerwe­ise auszusehen hat, und kann dann selbständi­g Anomalien erkennen.

Das sind nur einige Beispiele, viele weitere dürften folgen und nicht nur herkömmlic­he Arbeiten revolution­ieren, sondern auch völlig neue Möglichkei­ten eröffnen, an die heute noch niemand denkt.

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