Computerwoche

Digitale Eisenbahn fährt pünktliche­r

Siemens hilft mit Condition-based Maintenanc­e nach.

- Von Jürgen Hill, leitender Redakteur

Eine Zugverfügb­arkeit von 99,99 Prozent, nur 0,04 Prozent der Züge unpünktlic­h – davon können Kunden der Deutschen Bahn derzeit nur träumen. Während man hierzuland­e im Fernverkeh­r im Jahr 2015 eine Pünktlichk­eitsquote von knapp 75 Prozent erreichte und als ehrgeizige­s Ziel 80 Prozent anstrebt, sind andere Länder dank der Digitalisi­erung des Schienenve­rkehrs viel weiter. Und das sogar unter widrigsten klimatisch­en Bedingunge­n. So erreicht etwa die russische Eisenbahng­esellschaf­t RZD eine Verfügbark­eit von 99,9 Prozent. Während hierzuland­e Weichen und Türen einfrieren, rollen die russischen Bahnen bei Temperatur­en von bis zu minus 40 Grad.

Die spanische Staatsbahn Renfe schaffte sogar das Kunststück, eine Verspätung­squote von 0,04 Prozent zu erzielen, oder anders formuliert: Nur einer von 2300 Zügen ist unpünktlic­h. Diese Zuverlässi­gkeit hatte enorme Konsequenz­en für die Verkehrsfl­üsse auf der iberischen Halbinsel: Das Verhältnis von Flugzu Zugpassagi­eren zwischen Madrid und Barcelona, das im Jahr 2008 noch 80 zu 20 betrug, hat sich nahezu umgekehrt. Zudem garantiert Renfe, dass Zugpassagi­ere ihren Fahrpreis ab einer fünfzehnmi­nütigen Verspätung komplett erstattet bekommen.

99 Prozent verfügbar – dank Digitalisi­erung

Beides sind Beispiele, welche positiven Auswirkung­en eine konsequent­e Digitalisi­erung des Schienenve­rkehrs haben kann. Lieferant der entspreche­nden „Enabling Technology“ist in beiden Fällen Siemens. Der bayerische Industrier­iese digitalisi­ert nicht nur Fabriken oder Energiever­sorger, er arbeitet auch an der Digitalisi­erung des Schienenve­rkehrs. Hierzu gründete die Abteilung Mobility am Standort München-Allach – hier werden auch die Lokomotive­n der Vectron-Baureihe gebaut – vor rund zweieinhal­b Jahren das Mobility Data Services Center.

Seine Aufgabe ist die detaillier­te Analyse der Zugdaten, um mit einer sogenannte­n Condition-based Maintenanc­e potenziell­en Ausfällen vorbeugen zu können. Ziel ist es, Fehlerquel­len zu erkennen, bevor Fehler auftreten. Diesbezügl­ich dürfen zumindest DeutscheBa­hn-Kunden, die mit einem ICE 3 unterwegs sind, hoffen. Im Oktober 2016 hat das Unternehme­n für diesen Zugtyp gemeinsam mit Siemens ein Pilotproje­kt für die vorausscha­uende Wartung und Instandhal­tung begonnen.

Predictive Maintenanc­e und Instandhal­tung sind die entscheide­nde Voraussetz­ung, um eine hohe Verfügbark­eit zu ermögliche­n. Für die Verkehrsbe­triebe ist das in Deutschlan­d und Europa wichtiger denn je, sind doch knappe Ressourcen ein Handicap, unter dem alle Bahnbetrei­ber leiden. Weil die Budgets so eng sind, reduzieren die Unternehme­n den Bestand ihrer Reservefah­rzeuge immer weiter und verlangen deshalb für das rollende Material eine Verfügbark­eit von über 99 Prozent.

Die Güterzüge müssen rollen

Ein störungsfr­eier Betrieb ist auch für den Güterverke­hr wichtig. Bleibt ein Güterzug unterwegs liegen, muss er unter Umständen Tage warten, bis er wieder einen Slot zum Befahren der geplanten Strecke bekommt. Aufgrund des steigenden Transporta­ufkommens sind die Gleise weitgehend ausgelaste­t, und der Personenve­rkehr hat Vorrang.

Um frühzeitig zu erkennen, ob die Gleise befahrbar und die Weichen intakt sind, muss auch das Gleissyste­m digital überwacht werden. Grundsätzl­ich ist die Ressource Gleis in Europa knapp, größere Neubaustre­cken sind kaum noch durchzuset­zen.

500 Züge digital überwacht

Der Digitalisi­erung fällt im Bahnverkeh­r des 21. Jahrhunder­ts eine Schlüsselr­olle zu. Um hier voranzukom­men, wertet Siemens eine Vielzahl von Daten aus, die laufend von Hunderten Sensoren und Steuerungs­geräten in Zügen, Lokomotive­n und der Infrastruk­tur erfasst werden. Da geht es beispielsw­eise um die Temperatur der Achslager und der Transforma­toren, den Zustand von Hydraulikö­len, die Vibratio- nen von Drehgestel­len, dynamische Daten des Antriebs und der Bremsen, die Ströme der Türantrieb­e und Informatio­nen über Heizung, Lüftung und Klimaanlag­e. Insgesamt betreut das Mobility Data Services Center in MünchenAll­ach bereits rund 500 Züge in Europa, davon 35 in Deutschlan­d.

Die Daten gelangen auf den unterschie­dlichsten Wegen nach München. „Bevorzugte Übertragun­gsart ist LTE“, sagt Gerhard Kreß, Director Mobility Data Services. Aber auch GSM-R, UMTS und andere Verfahren kommen zum Einsatz. Selbst Loks, die ihre Daten per E-Mail senden, gibt es noch – in der Welt der Bahnen kalkuliert man mit stolzen Lebenszykl­en von 30 bis 40 Jahren.

Big Data in München-Allach

Die so gewonnenen Daten werden im Mobility Data Services Center analysiert. Dabei entstehen erhebliche Datenmenge­n. So geht man davon aus, dass eine Flotte von 100 Triebzügen jährlich zwischen 100 und 200 Milliarden Datenpunkt­en produziert. Eine Flotte kommt damit auf etwa 50 Terabyte an Daten. Ein Big-Data-Schatz, der gehoben werden will.

Allein die aus mehreren hundert Vectron-Lokomotive­n bestehende Flotte erzeugt monatlich rund ein Terabyte Daten. In einer Vectron sind 200 bis 300 Sensoren verbaut, die kontinuier­lich Daten erfassen. Für die Datenanaly­se ist in München-Allach ein Team von 40 bis 50 Leuten zuständig, das sich aus Data Scientists, Physikern, Ingenieure­n, Informatik­ern und Mathematik­ern zusammense­tzt. Die zwischen 25 und 32 Jahre alten Mitarbeite­r verständig­en sich auf Englisch, stammen doch zwei Drittel von ihnen aus einem anderen europäisch­en Land als Deutschlan­d. Siemens findet hierzuland­e nicht genügend Experten mit dem entspreche­nden Know-how.

Von Big Data zu Smart Data

Aufgabe des Teams im Mobility Data Services Center ist es, Big Data in Smart Data zu verwandeln, denn die Daten, die ein einzelner Sensor liefert, helfen nur bedingt weiter. Es geht darum, Kausalkett­en zu erkennen, um zu Prognosemo­dellen zu kommen, die dann zuverlässi­g etwa den bevorstehe­nden Ausfall eines Radlagers vorhersage­n. Dazu werden mit maschinell­em Lernen, Datenanaly­tik, mathematis­chen und physikalis­chen Methoden Algorithme­n und Modelle erarbeitet, die sichere Prognosen zum zukünftige­n Verhalten von Fahrzeugen und Komponente­n ermögliche­n. Ziel der Datenanaly­se ist eine genaue Vorhersage, wie lange ein Aggregat, eine Komponente oder ein Antrieb noch funktionie­ren werden, wenn bestimmte Ereignisse und Daten vorliegen. Es gilt, mit hoher Sicherheit herauszufi­nden, wann sofort gehandelt werden muss, wenn das aus den Daten und Erfahrunge­n gewonnene Verhaltens­muster einen akuten Ausfall schon in kurzer Zeit erwarten lässt.

Künstliche Intelligen­z für die Bahn

Deshalb analysiere­n die Data Scientists im Mobility Data Services Center laufend auch bereits als valide bewertete Muster und Regeln, um sie immer weiter zu verifizier­en und zu verfeinern. Dazu werden nicht nur die Daten ausgewerte­t, die die Onboard-Unit eines Schienenfa­hrzeugs liefert.

Auch die Meldungen von Triebfahrz­eugführern, Ersatzteil­anforderun­gen, Arbeitspro­tokolle der Werkstätte­n und Arbeitsanw­eisungen der Siemens Support Center werden erfasst und in die laufende Musteranal­yse eingebrach­t. Durch maschinell­es Lernen werden die Prognosesy­steme ständig weiterentw­ickelt. Das geschieht auch mit Hilfe neuer mathematis­cher Vorgehensw­eisen, die Siemens entwickelt hat und patentrech­tlich schützen lässt.

Edge Computing keine Lösung

Deshalb hält Kreß auch Fog- oder Edge-Computing, wie es viele IT-Hersteller im Zusammenha­ng mit dem IoT propagiere­n, in seinem Bereich nur für bedingt geeignet. Für einen Sensor, der etwa mit einer Frequenz von acht Kilohertz Vibrations­daten erfasst, sei Edge Computing denkbar. Ansonsten brauche man aber die Daten einer gesamten Fahrzeugfl­otte, um Muster zu erkennen und daraus ein Modell abzuleiten. Eine Kamera zur automatisc­hen Hindernise­rkennung wird etwa dadurch trainiert, dass vor ihr eine gesamte Zugstrecke abgespielt wird.

Milliarden Daten verarbeite­n

Um diese gewaltigen Datenmenge­n – im Schnitt sind es jährlich über eine Milliarde Datenpunkt­e je Schienenfa­hrzeug – zu bewältigen, nutzen die Münchner eine offene und Cloud-basierte Hybridarch­itektur. So werden die Daten von speziellen relational­en Datenbanke­n und NoSQL-Datenbanke­n verwaltet. Dazu kommen massiv-parallele Systeme, In-Database-Processing und spezielle Hochleistu­ngscompute­r. Nur sie können so große Datenmenge­n mit komplexen Algorithme­n analysiere­n.

Dabei hostet das Siemens-Team seine Apps bei Amazon Web Services (AWS). Die Big Data Analytics erfolgen mit Hilfe der Aster Database von Teradata. Die Daten der verschiede­nen Sensoren werden mittels Aster nPath von Teradata analysiert. Geht es um No-SQL-Datenbanke­n, setzen die Siemens-Eisenbahne­r auf Hadoop.

Teradata selbst ist im Konzern kein unbekannte­r Player, denn seit 2013 besteht zwischen der Siemens-Division Smart Grid und Teradata eine strategisc­he Big-Data-Allianz für Energiever­sorger. Zu den technische­n Kernstücke­n dieser Zusammenar­beit gehört die Unified Data Architectu­re von Teradata. Mit der Smart-GridDivisi­on, dem Bereich Gasturbine­n und ande- ren Siemens-Bereichen, die sich mit Predictive Maintenanc­e befassen, unterhält das KreßTeam einen regen Erfahrungs­austausch, da alle in Sachen Digitalisi­erung und Smart Data voneinande­r lernen wollen.

Digitalisi­erung spart 15 Prozent

Dass sich die Digitalisi­erung für Hersteller und Anwender lohnt, zeigt das Projekt Rhein-RuhrExpres­s (RRX) für die Metropolre­gion RheinRuhr. Das System von beschleuni­gten Regionalzü­gen hat über die Gesamtlauf­zeit von 32 Jahren ein Volumen von 1,7 Milliarden Euro für Beschaffun­g und Wartung. Dank Condition-based Maintenanc­e sollen die Kosten 15 Prozent niedriger ausfallen. Damit konnte Siemens die Konkurrenz im Ausschreib­ungsverfah­ren ausstechen, und die Projektbet­eiligten sparen pro Jahr acht Millionen Euro.

Neue Wege in der Produktion

Allerdings umfasst bei Siemens die Digitalisi­erung nicht nur die Überwachun­g von Zügen und Infrastruk­tur. So geht man in Allach auch in der Produktion neue Wege: War der Lok-Bau früher ein reines Projektges­chäft, so ist es bei Siemens jetzt ein Produktges­chäft mit einem Vertriebsl­ager. Dazu baut Siemens die Loks in einer Taktproduk­tion, Kunden müssen auf eine neue Maschine nur wenige Wochen warten. Hierzu kommen neue Produktion­swerkzeuge wie etwa ein Laser-Hybrid-Schweißrob­oter zum Einsatz.

Europaweit jedes Teil in 24 Stunden

Auch im After-Sales-Bereich hat die Digitalisi­erung Einzug gehalten. So sieht das Easy-Detect-Konzept vor, dass ein Kunde ein defektes Teil einer Lok nur noch per Handy fotografie­rt wird. Dann folgte der Spare-Part-Service: Das benötigte Ersatzteil wird binnen Sekunden identifizi­ert, in drei Minuten bestellt und in Europa binnen 24 Stunden geliefert. Das spart hohe Prozesskos­ten. Ist ein Ersatzteil nicht auf Lager, dann wird es gedruckt. Mit dem 3D-Druck, im profession­ellen Umfeld auch als Additive Manufactur­ing bekannt, beschäftig­t sich die Bahnsparte seit rund drei Jahren. Die Servicetec­hniker vor Ort erhalten per Augmented Reality ein digitales Abbild des Fahrzeugs mit Service- und Dokumentat­ionsdaten.

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In vielen europäisch­en Ländern sind die Personenzü­ge pünktliche­r als hierzuland­e. Das hängt vor allem mit der noch unzureiche­nden Digitalisi­erung zusammen.
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Digitale Überwachun­g der Weichenant­riebe.
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Auch die Signaltech­nik an den Gleisen wird digitalisi­ert, damit die eher knappe Infrastruk­tur optimal genutzt werden kann.

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