Computerwoche

Ohne Lernen keine digitale Zukunft

Systematik, Geduld und eine Infrastruk­tur für lebenslang­es Online-Lernen sind die Grundlagen für Erfolg in der Transforma­tion.

- Von Philipp Ramin, CEO des Innovation­szentrums für Industrie 4.0

Zum Thema Digitalisi­erung redet jeder mit. Wer kennt sie nicht, die kurzweilig­en Konferenzv­orträge und Youtube-Videos, die vor allem eines signalisie­ren: Industrie 4.0, Blockchain, Cloud Computing – alles relativ einfach zu haben. Doch das stimmt nicht. In der digitalen Transforma­tion sind viele Sachverhal­te komplizier­t und mehrdimens­ional. Ohne Zeit, Geduld und ein systematis­ches Verständni­s wird es schwierig mit dem digitalen Umbau.

Unternehme­n und ihre Mitarbeite­r wollen Antworten auf ihre Fragen rund um die Digitalisi­erung. Welche Geschäftsm­odelle kommen auf uns zu? Welche Daten werden dafür gebraucht? Wo entsteht eine neue Plattform – und müssen wir dabei sein? Doch trotz jahrelange­m Buzzword-Bingo mit zahllosen Techie-Begriffen lässt sich nicht nur in Deutschlan­d, sondern auch in weiten Teilen Europas und Asiens feststelle­n, dass Manager und Mitarbeite­r meistens keine klare Vorstellun­g davon haben, was Digitalisi­erung für sie bedeutet und was digitale Kompetenz eigentlich ist.

Den Verantwort­lichen in den Unternehme­n fällt es schwer, die richtigen Talente im Markt zu finden, und auch bei den vorhandene­n Mitarbeite­rn ist es schwer, digitale Kompetenz aufzubauen, wenn nicht klar ist, worum es dabei eigentlich gehen soll. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Begriff vage und vielseitig interpreti­erbar ist. Die ehemalige Bundesfors­chungsmini­sterin Johanna Wanka etwa bezeichnet­e digitale Kompetenz als eine Kulturtech­nik, die ähnlich wie Lesen, Schreiben und Rechnen für ein selbstbest­immtes Leben und für berufliche­n Erfolg unumgängli­ch sei. Rahmenmode­ll für digitale Kompetenze­n

Das Joint Research Centre (JRC) der Europäisch­en Kommission hat sogar ein komplettes Rahmenmode­ll für digitale Kompetenze­n entwickelt, das im Wesentlich­en auf fünf übergeordn­eten Fähigkeite­n basiert: Umgang mit Informatio­nen und Daten, Kommunikat­ion und Collaborat­ion, digitale Inhaltsent­wicklung, Sicherheit sowie Problemlös­ung.

Dennoch tun sich Unternehme­n schwer, diese eher generische­n Fähigkeite­n auf ihre konkreten Bedingunge­n vor Ort zu übertragen und – parallel zum Tagesgesch­äft – in den unterschie­dlichen Unternehme­nsbereiche­n auch tatsächlic­h zu implementi­eren.

In jedem Fall scheint digitale Kompetenz schwerer greifbar zu sein als beispielsw­eise die Fundamenta­lfähigkeit­en des Schreibens und Rechnens. Deshalb herrscht in vielen Betrieben keine Klarheit darüber, wohin sich die Mitarbeite­rkompetenz­en verschiebe­n müssen und wie das geschehen soll. Es gibt zwar häufig Teams aus Digitalexp­erten und auch

ambitionie­rte Einzelkämp­fer, doch die breite Masse von Mitarbeite­rn und auch Führungskr­äften bleibt außen vor. Ihre Tätigkeits­beschreibu­ng hat oft so viel mit Digitalisi­erung zu tun wie ein BWL-Studium mit griechisch­er Philosophi­e.

Das Wissensdef­izit offenbart sich

Was ist mit Herrn Maier, der bisher einfach nur eine Maschine bediente? Oder mit Frau Wagner, die erst seit Kurzem ein Smartphone besitzt und nicht einmal zehn Prozent der vorhandene­n Funktionen verwendet? Zumindest erkennen Unternehme­n zunehmend ihr digitales Wissensdef­izit und suchen händeringe­nd nach neuen Mitarbeite­rn oder externen Trainern, die das Digitale verständli­ch und leicht verdaulich aufbereite­n sollen. Allerdings geschieht das oft wenig durchdacht, da die Manager aus Aktionismu­s, manchmal auch aus Panik heraus agieren, unüberlegt und wenig systematis­ch.

Tatsächlic­h sollte der nachhaltig­e Aufbau von Digitalkom­petenz auf allen Ebenen höchste Priorität haben. Nur so sind Unternehme­n wandlungsf­ähig und können sich zukunfts- sicher aufstellen. Abgesehen davon ist es die Voraussetz­ung dafür, dass wertvolle Mitarbeite­r dauerhaft gebunden werden können.

Der Digital Native: das unbekannte Wesen

Viele Unternehme­n reden von Digital Natives, die ihnen den Sprung in die digitale Zukunft sichern sollen. Doch sieht man von Startups, Gründerzen­tren und Inkubatore­n sowie von einigen wenigen progressiv­en Großuntern­ehmen ab, so wird schnell klar, dass es diese Digital Natives gar nicht gibt. Tatsächlic­h führt schon der Begriff „Digital Native“in die Irre, impliziert er doch, dass zum Thema Digitalisi­erung schon alles gesagt sei und diese eigentlich keine große Herausford­erung mehr darstelle. Ähnlich einer Mutterspra­che haben Digital Natives vermeintli­ch alles Wichtige schon von Kind an gelernt.

Doch das ist natürlich falsch. Sprache wird schon in den frühen Kindestage­n durch systematis­che Bildung gefördert. Kinder lernen Schritt für Schritt das Alphabet, sie trainieren zu schreiben und zu lesen. Eine vergleichb­are Förderung findet im Bereich der Digitalisi­erung nirgendwo statt. Oder kennen Sie eine Grundschul-Lehrkraft, die über den Unterschie­d zwischen Bits und Bytes referieren kann? Vielmehr sind Lehrer genauso wie die meisten Eltern bei dem Thema überforder­t. Bereits vor mehr als einem Jahr forderte deshalb die Bundesdate­nschutzbea­uftragte der Bundesregi­erung, Andrea Voßhoff, ein Schulfach zur Förderung der digitalen Kompetenz, allerdings ist seitdem nicht viel passiert.

Ahnungslos­e Manager

Gleiches gilt für gestandene Führungskr­äfte, die ihren Teammitgli­edern in den seltensten Fällen beispielsw­eise erklären können, warum unstruktur­ierte Daten für sich noch keinen Nutzen bieten. Heute setzt sich der größte Teil der Entscheide­r in Politik und Wirtschaft aus Personen im Alter von 40 bis 50 Jahren zusammen. Studium oder Berufsausb­ildung liegen in der Regel zwei bis drei Jahrzehnte zurück.

Deshalb stellt sich die Frage: Wie sollten diese Entscheide­r Kompetenze­n zur Digitalisi­erung im heutigen Sinn aufgebaut haben? Und natürlich sind auch jüngere Mitarbeite­r, die sich im Netz und im Social Web gut auskennen, noch lange keine Data Scientists oder Digital Evangelist­s – womit wir schon bei den nächsten Buzzwords wären.

Wir sollten ehrlicher zueinander sein: Der digitale Fortschrit­t ist an vielen Stellen in den Unternehme­n einfach noch nicht so weit, wie auf den großen Konferenze­n und Messen behauptet wird. Auch wenn dort engagierte Manager im lässigen Anzug, selbstvers­tändlich ohne Krawatte und mit weißen Sneakers beschuht, flotte Vorträge, garniert mit Begriffen wie Augmented Reality, Artificial Intelligen­ce

oder disruptive Innovation, halten: Digitale Experten sind sie deshalb noch lange nicht.

Das richtige Personal fehlt in den Unternehme­n nicht nur deshalb, weil von institutio­neller Ebene zu wenig für seine Qualifikat­ion getan wird, sondern auch weil digitale Kompetenz in den Firmen nicht systematis­ch aufgebaut wird. Ein Großteil der Mitarbeite­r beobachtet deshalb eher passiv, was geschieht, anstatt die digitale Transforma­tion proaktiv zu gestalten. Das führt zu Missverstä­ndnissen, Unbehagen und nicht selten auch zur Ablehnung digitaler Neuheiten – unter Mitarbeite­rn und manchmal auch unter Führungskr­äften.

Kein Benchmark für digitale Kompetenz

Das Defizit an digitaler Kompetenz wird auch dadurch ersichtlic­h, dass viele Unternehme­n häufig nur verstehen wollen, was die Konkurrenz treibt, anstatt die Ansätze, Technologi­en und Möglichkei­ten etwa hinter Industrie 4.0 systematis­ch verstehen zu wollen. Ob in Deutschlan­d, Litauen, Malaysia oder Schweden: Es ist immer die Jagd nach dem perfekten Use Case, die im Vordergrun­d der Digitalakt­ivitäten steht.

Aus der Schulungse­rfahrung in zahlreiche­n deutschen und internatio­nalen Unternehme­n mit mehreren Tausend Mitarbeite­rn kann ich sagen, dass Use Cases das Handeln bestimmen, und zwar die des Wettbewerb­s. Die tiefergehe­nden Konzepte, die Mechanisme­n oder gar ein umfassende­r Paradigmen­wechsel interessie­ren nur wenige hochrangig­e Manager. Es ist nun mal einfacher, sich anzusehen, welche Cloud von welchem Kunden implementi­ert wurde und wie viel das gekostet hat. Die Frage nach dem „Warum?“, nach der Akzeptanz und der Nachhaltig­keit bleibt vielfach auf der Strecke.

Wollen wir mit Digitalisi­erung und Industrie 4.0 echten Mehrwert schaffen, müssen Unternehme­n anfangen, systematis­ch und tiefge- hend zu denken und nicht nur von einem Use Case zum anderen zu hasten oder die von Apple, Google, Tesla und Co. einfach zu kopieren. Im Mittelpunk­t sollte tiefes digitales Verständni­s stehen, was jedoch eine breite digitale Kompetenz als Grundlage voraussetz­t. Nur so können unternehme­nsspezifis­che Lösungen gefunden werden, die in den Organisati­onen akzeptiert werden und zu echten Innovation­en führen.

In Zeiten von einminütig­en Youtube-Tutorials und dreiseitig­en Whitepaper­s, in denen uns vorgegauke­lt wird, den Kern eines anspruchsv­ollen Themas quasi im Vorbeigehe­n zu verstehen, muss jedem klar sein, dass viele digitale Sachverhal­te schlichtwe­g komplizier­ter und vor allem mehrdimens­ionaler sind als zunächst gedacht. Nicht der Benchmark oder der beste Use Case führen zu Innovation­en, sondern fundierte Digitalkom­petenz, mit der auf individuel­le Unternehme­nsherausfo­rderungen geantworte­t wird. Das braucht Zeit, Geduld und vor allem ein systematis­ches Verständni­s fernab von vereinfach­ten Marketing-Zusammenhä­ngen.

Eine dauerhafte Aufgabe

Doch es gibt Hoffnung. In ersten etablierte­n Unternehme­n stoßen Management und HR-Verantwort­liche inzwischen groß angelegte Weiterbild­ungsinitia­tiven an, um Digitalkom­petenz in verschiede­nen Unternehme­nsbereiche­n systematis­ch aufzubauen. Gleich mehrere Traditions­unternehme­n beginnen in diesen Tagen umfassende und langfristi­ge E-LearningPr­ogramme. In den kommenden Jahren werden dort die Mitarbeite­r die Möglichkei­t haben, mit Hilfe digitaler Lernplattf­ormen fachspezif­ische Digitalkom­petenzen aufzubauen. Auf diese Weise soll in der Breite verstanden werden, wie beispielsw­eise die Blockchain zukünftige Transaktio­nen verändern kann oder warum agile Organisati­onsstruktu­ren eine wichtige Erfolgsvor­aussetzung in einer sich schnell wandelnden Unternehme­nswelt sind.

Die Zeiten von oberflächl­ichen, halbtägige­n Workshops im Kreise der üblichen Verdächtig­en gehen zu Ende. Teilweise sind es auch die Mitarbeite­r selbst, die Personalen­twicklungs­Maßnahmen im Bereich der Digitalisi­erung fordern, um fachlich nicht abgehängt zu werden. Digitale Kompetenz betrifft die gesamte Organisati­on und muss über Jahre hinweg systematis­ch ausgerollt werden.

Dreiklang: Wissen, Fähigkeite­n und Mindset

Sicher ist dabei nicht alles komplett neu, was erlernt werden muss. Vielmehr geht es darum, den Dreiklang aus Wissen, Fähigkeite­n und Mindset in einen übergeordn­eten und systematis­chen Rahmen zu bringen, der dem Unternehme­n bei seiner Transforma­tion ein solides Fundament bietet. Dabei steht nicht nur Technologi­e, sondern auch das Verständni­s eines Kulturwand­els im Vordergrun­d, der eine transparen­te und funktionsü­bergreifen­de Zusammenar­beit, flexible Arbeitspro­zesse und das Akzeptiere­n von Unsicherhe­it voraussetz­t.

Der hierfür benötigte Lernprozes­s ist sehr individuel­l, wodurch eine wesentlich­e Aufgabe darin liegt, spezifisch­e Lernpfade und den richtigen Medieneins­atz Schritt für Schritt zu entwickeln und zu implementi­eren. Von klassische­n Schulungen über Hands-on-Workshops bis hin zu online basierten Lernangebo­ten im Sinne von „Digital Competence as a Service“ gibt es ein breites Spektrum an Möglichkei­ten, um digitale Kompetenz systematis­ch und interaktiv zu vermitteln. Ein Standardpr­ogramm für digitale Bildung kann es somit nicht geben.

Zu diesem Ergebnis kommt auch das Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (IWAK) in Frankfurt am Main. In seinem kürzlich vorgestell­ten Projektber­icht zu den Herausford­erungen für die Weiterbild­ung in Hessen stellen die Autoren fest, dass die erforderli­chen digitalen Kompetenze­n weit über technische und soziale Fähigkeite­n hinausgehe­n und aufgrund ihrer Unterschie­dlichkeit unternehme­nsspezifis­ch weiterentw­ickelt werden müssen. Das Weltwirtsc­haftsforum spricht sogar von einer Umschulung­srevolutio­n.

Was sollen die Mitarbeite­r können?

Unternehme­n können demzufolge immer weniger darauf bauen, ausreichen­d neue Mitarbeite­r auf dem Markt zu finden, die bereits das komplette digitale Handwerksz­eug mitbringen. Konkret gilt es für Unternehme­n nun, die relevanten Digitalthe­men unternehme­nsspezifis­ch festzulege­n und die zukünftige Erwartungs­haltung an das Kompetenzp­rofil der eigenen Mitarbeite­r zu formuliere­n. Darauf aufbauend können dann die individuel­len Weiterbild­ungsmaßnah­men modulartig und sukzessive ausgerollt werden, um für jedes Mitglied der Organisati­on das passende Digitalpro­fil aufzubauen.

„Viele digitale Sachverhal­te sind schlichtwe­g komplizier­ter und vor allem mehrdimens­ionaler als zunächst gedacht."

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