ITSM ist der Fels in der Brandung
Wer glaubt, dass die Normen des IT-Service-Managements (ITSM) im Widerspruch zu mehr Agilität in IT- und Geschäftsprozessen stehen, der irrt. Automatisierung und Digitalisierung fordern ein hohes Maß an Standardisierung.
Wenn sich Organisationen agil umbauen, brauchen sie einen verlässlichen Rahmen für die IT. IT-Service-Management kann hier weiterhelfen, wie eine Roundtable-Diskussion zeigte.
In Zeiten von Data Analytics, IoT und KI ist eine moderne IT nicht nur für die Prozessoptimierung zuständig, sondern sie wird mehr denn je zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Unternehmen müssen dabei vor allem agiler werden – und ITSM leistet dazu einen entscheidenden Beitrag. Diese einhellige Auffassung vertraten Branchenvertreter im Rahmen einer Roundtable-Diskussion der COMPUTERWOCHE, auch wenn sich die Teilnehmer bewusst waren, dass viele IT-Chefs das Regelwerk IT Infrastructure Library (ITIL) unverändert als starr und komplex empfinden.
Doch Regeln braucht es auch im digitalen Zeitalter: „ITSM ist ein essenzieller Baustein bei der Umsetzung der digitalen Transformation. Es trägt dazu bei, dass die IT ein Fundament hat, auf dem sie neue Geschäftsprozesse und Services bauen und integrieren kann. Wenn dieses Fundament fehlt, wird die IT schnell zum bloßen Erfüllungsgehilfen der Fachbereiche, indem sie einfach nur eine Anforderung über den Zaun geworfen bekommt“, begründet Pierre-André Aeschlimann, EMEA Sales & Solution Strategy bei Cherwell Software, diese Sichtweise.
Neue Herausforderungen für ITSM
Viele der klassischen IT-Services sind mittlerweile standardisiert, automatisiert und werden kosteneffizient erbracht. Doch seit geraumer Zeit sieht sich das ITSM mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die da lauten: Hybridund Multi-Cloud-Umgebungen, agile Methoden und DevOps, IoT, Big Data/Analytics sowie künstliche Intelligenz (KI) und Machine Learning. Die genannten Technologietrends verheißen für den De-facto-Standard ITIL erst einmal nichts Gutes. Denn es scheint, als stoße das ITIL-Regelwerk, das Methoden und Maßnahmen bündelt, mit denen die IT bisher die wichtigen unternehmensweiten Geschäftsprozesse verlässlich und nachprüfbar unterstützt, an seine Grenzen.
Im digitalen Zeitalter gilt es nicht nur, vorhandene Prozesse zu digitalisieren und Inseln anzubinden. Gleichzeitig müssen ständig neue digitale Prozesse implementiert, vorhandene hinterfragt und im Zweifel ersetzt werden. Agile Methoden wie Scrum und DevOps führen zu veränderten Organisationsformen in der IT und im ganzen Unternehmen.
„Alle Anwenderunternehmen bewegen sich in der sogenannten VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity, Anm. d. Red.). Da hilft einerseits das ITIL-Framework nach wie vor, andererseits wird sich die ITSMSystemlandschaft stark verändern müssen – weg von starrer Ticketing-Software hin zu flexiblen, Low-Code-basierten Business-Process-Ökosystemen“, beschreibt Michael Geyer, Member of the Executive Board bei Omninet, die Herausforderung.
IT- und Business-Prozesse brauchen Stabilität
Alexander Betti, Executive Solution Architect bei der USU Software AG, bricht ebenfalls eine Lanze für ITSM, indem er feststellt: „Ich kann nicht erkennen, dass ITSM out of fashion ist. Ganz im Gegenteil: Wenn es heute heißt, dass alles disruptiv ist, gilt das nicht für letztendlich saubere und durchgängige IT- und Geschäftsprozesse. Die IT steht im Zuge der Transformation einmal mehr unter einem enormen Kosten-, Anpassungs- und Modernisierungsdruck, und sie muss sich mehr denn je als interner Service-Provider beweisen. Da helfen ITSM und ITIL schon ungemein weiter.“
Allerdings fordern Trends wie Automatisierung, Data Analytics, KI, Internet of Things (IoT) etc. die klassischen IT-Infrastrukturen und -Bebauungspläne heraus. Dazu Betti: „Diese Technologien eröffnen dem IT-Service-Management völlig neue Dimensionen. Wenn wir in diesem Zusammenhang zum Beispiel von Enterprise-Service-Management in Echtzeit und anderen Themen reden, stecken wir als Anwender wie als Anbieter und Plattformlieferanten erst in den Anfängen, weil viele Fragen zwischen Business-Verantwortlichen, Fachbereichen und IT noch ungeklärt sind. Woher kommen die Budgets? Wer hat die Hoheit und Verantwortung für die Daten? Welche Auswirkungen gibt es im Hinblick auf IT-Sicherheit und Datenschutz? Und vor allen Dingen: Welche neuen, skalierbaren Geschäftsmodelle gibt es?“
Der Trend zu mehr Agilität ändert nicht nur die Herangehensweise der IT-Organisationen, er führt auch dazu, dass das Zusammenspiel von IT und Business einmal mehr ganz nach oben auf die Agenda kommt. Erwartet wird eine noch anpassungsfähigere und kundenorientiertere Ausrichtung der IT- und Geschäftsprozesse als bisher.
Das Normierungsgremium der ITIL Foundation hat auf diese Anforderung mit der neuen ITILVersion 4 reagiert und darin auch Schlüsselfaktoren für ein agiles Service-Management
definiert. Gleichzeitig wird mit dem Enterprise-Service-Management (ESM), das sich im Prinzip an ITSM anlehnt, ein Ansatz beliebter, der darauf abzielt, alle wichtigen Kernprozesse im Unternehmen zu standardisieren, in Echtzeit zu verwalten und für Analysen zu öffnen. „Die Zukunft gehört Firmen, die ihre Services digitalisieren und standardisiert anbieten – nicht nur in der IT, sondern auch in den Fachbereichen“, heißt es dazu in der aktuellen COMPUTERWOCHE-Studie „Enterprise Service Management 2019“.
Fachabteilungen kennen ESM zu wenig
Während aber ITSM in den meisten Anwenderunternehmen gut bekannt und eingeführt ist, fristet ESM noch ein Schattendasein. In den meisten Fachabteilungen, die es eigentlich betrifft, ist das Enterprise-Service-Management nicht einmal bekannt. Im Kern geht es dabei darum, Prozesse und Tools wie zum Beispiel Service-Request-Management und Ticket-System auch in anderen Bereichen wie Kundendienst und technischem Service einzuführen. Digitalisierung, Standardisierung und (weitgehende) Automatisierung sind auch hier die Schlagworte.
Als weitere Beispielanwendungen werden die elektronische Personalakte für HR-Abteilungen oder automatisiertes Kampagnen-Management im Marketing genannt. Insbesondere aus dem Lager der ITSM-Lösungsanbieter wird diesem Trend stark das Wort geredet – wohl auch deshalb, weil die Fachabteilungen heute in die meisten Transformationsprojekte eingebunden sind. „Ohne Beteiligung der Fachbereiche wird keine Investitionsentscheidung mehr getroffen. Das gilt insbesondere für Produktion und Fertigung sowie den HR-Bereich“, beobachtet Korinna Durmeyer, Senior Sales Manager Service Management bei Ivanti.
Auf die ITSM-Lieferanten kommen damit Veränderungen zu. Sie können sich nicht mehr wie bisher auf ihr bislang stabiles Lizenzgeschäft verlassen, sondern müssen ihre Kunden stärker individuell und projektspezifisch unterstützen. Peter Schneider, Chief Product Officer bei Efecte, bestätigt diesen Trend: „Wenn man als Anbieter den Plattformgedanken als Geschäftszweck verfolgt, sollte man dem Kunden tunlichst nicht einfach nur seine Suite aufzwingen wollen, sondern zunächst den strategischen Vorteil und die Business-Relevanz erklären. Ausgangspunkt dabei muss immer der konkrete Bedarf des Kunden sein. Wir sind da natürlich häufig mit einem ,Build-to-Purpose-Ansatz‘ unterwegs – wenngleich wir eigentlich, wann immer möglich, den ,Build-to-evolveAnsatz‘ favorisieren. Ziel sollte es immer sein, dem Kunden eine flexible, skalierbare Plattform bereitzustellen, die es ihm ermöglicht, auch zukünftige Services zu integrieren.“
ITSM ist das Fundament für den digitalen Wandel
Ohne ITSM also keine erfolgreiche Transformation? In Fachkreisen lautet die einhellige Antwort: Ja. Nicht nur die IT-Organisation muss prozessorientiert aufgebaut sein, sondern im Prinzip das gesamte Unternehmen. Der IT fällt dabei unweigerlich die Führungsrolle zu, sie muss als Vorreiter die Fachbereiche missionieren, sonst droht eine weitere Ausbreitung von „Schatten-IT“. Das passiert etwa, wenn die Fachbereiche an der IT vorbei ihre Workflows mit Hilfe von Cloud-Lösungen digitalisieren.
Viele neue Aufgaben für den CIO also, für die er nur begrenzt neue Tools zur Verfügung hat. „Der Vorteil der IT ist, dass sie strukturierte Prozesse kennt und in solchen arbeitet“, meint dazu Hagen Neulen, Key Account Manager EAM & Mobile Solutions bei Axino Solutions. Aber er fügt hinzu: „ITIL ersetzt nicht den Dialog zwischen einzelnen Fachbereichen oder zwischen IT und Fachbereich. Und ITSM stößt dort an seine Grenzen, wo Unternehmens-IT und Produktions-IT noch getrennte Welten sind – also derzeit fast überall.“