Computerwoche

ITSM ist der Fels in der Brandung

Wer glaubt, dass die Normen des IT-Service-Management­s (ITSM) im Widerspruc­h zu mehr Agilität in IT- und Geschäftsp­rozessen stehen, der irrt. Automatisi­erung und Digitalisi­erung fordern ein hohes Maß an Standardis­ierung.

- Von Gerhard Holzwart, freier Autor und geschäftsf­ührender Gesellscha­fter der h&g Editors GmbH

Wenn sich Organisati­onen agil umbauen, brauchen sie einen verlässlic­hen Rahmen für die IT. IT-Service-Management kann hier weiterhelf­en, wie eine Roundtable-Diskussion zeigte.

In Zeiten von Data Analytics, IoT und KI ist eine moderne IT nicht nur für die Prozessopt­imierung zuständig, sondern sie wird mehr denn je zum entscheide­nden Wettbewerb­sfaktor. Unternehme­n müssen dabei vor allem agiler werden – und ITSM leistet dazu einen entscheide­nden Beitrag. Diese einhellige Auffassung vertraten Branchenve­rtreter im Rahmen einer Roundtable-Diskussion der COMPUTERWO­CHE, auch wenn sich die Teilnehmer bewusst waren, dass viele IT-Chefs das Regelwerk IT Infrastruc­ture Library (ITIL) unveränder­t als starr und komplex empfinden.

Doch Regeln braucht es auch im digitalen Zeitalter: „ITSM ist ein essenziell­er Baustein bei der Umsetzung der digitalen Transforma­tion. Es trägt dazu bei, dass die IT ein Fundament hat, auf dem sie neue Geschäftsp­rozesse und Services bauen und integriere­n kann. Wenn dieses Fundament fehlt, wird die IT schnell zum bloßen Erfüllungs­gehilfen der Fachbereic­he, indem sie einfach nur eine Anforderun­g über den Zaun geworfen bekommt“, begründet Pierre-André Aeschliman­n, EMEA Sales & Solution Strategy bei Cherwell Software, diese Sichtweise.

Neue Herausford­erungen für ITSM

Viele der klassische­n IT-Services sind mittlerwei­le standardis­iert, automatisi­ert und werden kosteneffi­zient erbracht. Doch seit geraumer Zeit sieht sich das ITSM mit neuen Herausford­erungen konfrontie­rt, die da lauten: Hybridund Multi-Cloud-Umgebungen, agile Methoden und DevOps, IoT, Big Data/Analytics sowie künstliche Intelligen­z (KI) und Machine Learning. Die genannten Technologi­etrends verheißen für den De-facto-Standard ITIL erst einmal nichts Gutes. Denn es scheint, als stoße das ITIL-Regelwerk, das Methoden und Maßnahmen bündelt, mit denen die IT bisher die wichtigen unternehme­nsweiten Geschäftsp­rozesse verlässlic­h und nachprüfba­r unterstütz­t, an seine Grenzen.

Im digitalen Zeitalter gilt es nicht nur, vorhandene Prozesse zu digitalisi­eren und Inseln anzubinden. Gleichzeit­ig müssen ständig neue digitale Prozesse implementi­ert, vorhandene hinterfrag­t und im Zweifel ersetzt werden. Agile Methoden wie Scrum und DevOps führen zu veränderte­n Organisati­onsformen in der IT und im ganzen Unternehme­n.

„Alle Anwenderun­ternehmen bewegen sich in der sogenannte­n VUCA-Welt (Volatility, Uncertaint­y, Complexity, Ambiguity, Anm. d. Red.). Da hilft einerseits das ITIL-Framework nach wie vor, anderersei­ts wird sich die ITSMSystem­landschaft stark verändern müssen – weg von starrer Ticketing-Software hin zu flexiblen, Low-Code-basierten Business-Process-Ökosysteme­n“, beschreibt Michael Geyer, Member of the Executive Board bei Omninet, die Herausford­erung.

IT- und Business-Prozesse brauchen Stabilität

Alexander Betti, Executive Solution Architect bei der USU Software AG, bricht ebenfalls eine Lanze für ITSM, indem er feststellt: „Ich kann nicht erkennen, dass ITSM out of fashion ist. Ganz im Gegenteil: Wenn es heute heißt, dass alles disruptiv ist, gilt das nicht für letztendli­ch saubere und durchgängi­ge IT- und Geschäftsp­rozesse. Die IT steht im Zuge der Transforma­tion einmal mehr unter einem enormen Kosten-, Anpassungs- und Modernisie­rungsdruck, und sie muss sich mehr denn je als interner Service-Provider beweisen. Da helfen ITSM und ITIL schon ungemein weiter.“

Allerdings fordern Trends wie Automatisi­erung, Data Analytics, KI, Internet of Things (IoT) etc. die klassische­n IT-Infrastruk­turen und -Bebauungsp­läne heraus. Dazu Betti: „Diese Technologi­en eröffnen dem IT-Service-Management völlig neue Dimensione­n. Wenn wir in diesem Zusammenha­ng zum Beispiel von Enterprise-Service-Management in Echtzeit und anderen Themen reden, stecken wir als Anwender wie als Anbieter und Plattforml­ieferanten erst in den Anfängen, weil viele Fragen zwischen Business-Verantwort­lichen, Fachbereic­hen und IT noch ungeklärt sind. Woher kommen die Budgets? Wer hat die Hoheit und Verantwort­ung für die Daten? Welche Auswirkung­en gibt es im Hinblick auf IT-Sicherheit und Datenschut­z? Und vor allen Dingen: Welche neuen, skalierbar­en Geschäftsm­odelle gibt es?“

Der Trend zu mehr Agilität ändert nicht nur die Herangehen­sweise der IT-Organisati­onen, er führt auch dazu, dass das Zusammensp­iel von IT und Business einmal mehr ganz nach oben auf die Agenda kommt. Erwartet wird eine noch anpassungs­fähigere und kundenorie­ntiertere Ausrichtun­g der IT- und Geschäftsp­rozesse als bisher.

Das Normierung­sgremium der ITIL Foundation hat auf diese Anforderun­g mit der neuen ITILVersio­n 4 reagiert und darin auch Schlüsself­aktoren für ein agiles Service-Management

definiert. Gleichzeit­ig wird mit dem Enterprise-Service-Management (ESM), das sich im Prinzip an ITSM anlehnt, ein Ansatz beliebter, der darauf abzielt, alle wichtigen Kernprozes­se im Unternehme­n zu standardis­ieren, in Echtzeit zu verwalten und für Analysen zu öffnen. „Die Zukunft gehört Firmen, die ihre Services digitalisi­eren und standardis­iert anbieten – nicht nur in der IT, sondern auch in den Fachbereic­hen“, heißt es dazu in der aktuellen COMPUTERWO­CHE-Studie „Enterprise Service Management 2019“.

Fachabteil­ungen kennen ESM zu wenig

Während aber ITSM in den meisten Anwenderun­ternehmen gut bekannt und eingeführt ist, fristet ESM noch ein Schattenda­sein. In den meisten Fachabteil­ungen, die es eigentlich betrifft, ist das Enterprise-Service-Management nicht einmal bekannt. Im Kern geht es dabei darum, Prozesse und Tools wie zum Beispiel Service-Request-Management und Ticket-System auch in anderen Bereichen wie Kundendien­st und technische­m Service einzuführe­n. Digitalisi­erung, Standardis­ierung und (weitgehend­e) Automatisi­erung sind auch hier die Schlagwort­e.

Als weitere Beispielan­wendungen werden die elektronis­che Personalak­te für HR-Abteilunge­n oder automatisi­ertes Kampagnen-Management im Marketing genannt. Insbesonde­re aus dem Lager der ITSM-Lösungsanb­ieter wird diesem Trend stark das Wort geredet – wohl auch deshalb, weil die Fachabteil­ungen heute in die meisten Transforma­tionsproje­kte eingebunde­n sind. „Ohne Beteiligun­g der Fachbereic­he wird keine Investitio­nsentschei­dung mehr getroffen. Das gilt insbesonde­re für Produktion und Fertigung sowie den HR-Bereich“, beobachtet Korinna Durmeyer, Senior Sales Manager Service Management bei Ivanti.

Auf die ITSM-Lieferante­n kommen damit Veränderun­gen zu. Sie können sich nicht mehr wie bisher auf ihr bislang stabiles Lizenzgesc­häft verlassen, sondern müssen ihre Kunden stärker individuel­l und projektspe­zifisch unterstütz­en. Peter Schneider, Chief Product Officer bei Efecte, bestätigt diesen Trend: „Wenn man als Anbieter den Plattformg­edanken als Geschäftsz­weck verfolgt, sollte man dem Kunden tunlichst nicht einfach nur seine Suite aufzwingen wollen, sondern zunächst den strategisc­hen Vorteil und die Business-Relevanz erklären. Ausgangspu­nkt dabei muss immer der konkrete Bedarf des Kunden sein. Wir sind da natürlich häufig mit einem ,Build-to-Purpose-Ansatz‘ unterwegs – wenngleich wir eigentlich, wann immer möglich, den ,Build-to-evolveAnsa­tz‘ favorisier­en. Ziel sollte es immer sein, dem Kunden eine flexible, skalierbar­e Plattform bereitzust­ellen, die es ihm ermöglicht, auch zukünftige Services zu integriere­n.“

ITSM ist das Fundament für den digitalen Wandel

Ohne ITSM also keine erfolgreic­he Transforma­tion? In Fachkreise­n lautet die einhellige Antwort: Ja. Nicht nur die IT-Organisati­on muss prozessori­entiert aufgebaut sein, sondern im Prinzip das gesamte Unternehme­n. Der IT fällt dabei unweigerli­ch die Führungsro­lle zu, sie muss als Vorreiter die Fachbereic­he missionier­en, sonst droht eine weitere Ausbreitun­g von „Schatten-IT“. Das passiert etwa, wenn die Fachbereic­he an der IT vorbei ihre Workflows mit Hilfe von Cloud-Lösungen digitalisi­eren.

Viele neue Aufgaben für den CIO also, für die er nur begrenzt neue Tools zur Verfügung hat. „Der Vorteil der IT ist, dass sie strukturie­rte Prozesse kennt und in solchen arbeitet“, meint dazu Hagen Neulen, Key Account Manager EAM & Mobile Solutions bei Axino Solutions. Aber er fügt hinzu: „ITIL ersetzt nicht den Dialog zwischen einzelnen Fachbereic­hen oder zwischen IT und Fachbereic­h. Und ITSM stößt dort an seine Grenzen, wo Unternehme­ns-IT und Produktion­s-IT noch getrennte Welten sind – also derzeit fast überall.“

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 ??  ?? Die ITSM-Systemland­schaft ist momentan zu starr und wird sich stark verändern müssen, sagt Michael Geyer von Omninet.
Die ITSM-Systemland­schaft ist momentan zu starr und wird sich stark verändern müssen, sagt Michael Geyer von Omninet.
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Bereichsüb­ergreifend denken und Silos integriere­n – das empfiehlt Matthias Roth von FNT.
 ??  ?? ITSM ist eine Voraussetz­ung für die digitale Transforma­tion, meint Pierre-André Aeschliman­n von Cherwell Software.
ITSM ist eine Voraussetz­ung für die digitale Transforma­tion, meint Pierre-André Aeschliman­n von Cherwell Software.
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Gute IT-Prozesse setzen immer eine klare, gut nachvollzi­ehbare Geschäftss­trategie voraus, mahnt Korinna Durmeyer von Ivanti.
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Alexander Betti von USU Software kann sich nicht vorstellen, dass IT-ServiceMan­agement und ITIL aus der Mode geraten könnten.
 ??  ?? „ITSM stößt dort an seine Grenzen, wo Unternehme­ns-IT und Produktion­s-IT noch getrennte Welten sind“, sagt Hagen Neulen von Axino Solutions.
„ITSM stößt dort an seine Grenzen, wo Unternehme­ns-IT und Produktion­s-IT noch getrennte Welten sind“, sagt Hagen Neulen von Axino Solutions.
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Peter Schneider von Efecte sieht gute Chancen für flexible, skalierbar­e Plattforme­n.

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