Wege zum KI-Erfolg
Viele Betriebe setzen im Kleinen auf künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen, versäumen es aber, formale Prozesse einzuführen, damit die gesamte Organisation profitieren kann. Beispiele wie Johnson & Johnson zeigen, dass organisationales Lernen helfen kann, ganzheitlich Fortschritte zu machen.
Viele Unternehmen setzen im Kleinen auf künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen, versäumen es aber, formale Prozesse einzuführen, damit die gesamte Organisation lernen und sich schneller transformieren kann.
Die Erfolge von Projekten im Bereich Maschinelles Lernen oder Künstliche Intelligenz (KI) zeigen sich in vielen Unternehmen nur eingeschränkt, wenn überhaupt. Experten sehen dafür diesen Grund: Die Betriebe versäumen es, ihre Erfahrungen über die gesamte Organisation hinweg zu teilen und für weitere Vorhaben zu nutzen. So schaffen sie es vielleicht, mithilfe von KI eine manuelle Aufgabe zu automatisieren oder bessere Vorhersagen für einzelne Abläufe zu treffen. Doch den wenigsten gelingt es, Erfahrungen aus ihren KI-Projekten in der Breite zu nutzen, um sich nach und nach zu transformieren.
Unternehmen führen heute nur in Ausnahmefällen formale Strukturen ein, um ihre KI-Learnings systematisch zu erfassen und intern für andere bereitzustellen. Einer gemeinsamen Studie von MIT Sloan Management Review und Boston Consulting Group zufolge zogen im vergangenen Jahr nur elf Prozent der befragten Betriebe einen signifikanten Nutzen aus ihren KI-Initiativen. Ein gern genommenes Beispiel für ungenutzte Chancen ist der Prozess der Bewertung von Kreditanträgen in der Finanzwirtschaft, die durch maschinelles Lernen deutlich optimiert werden könnte. Die Kriterien hier sind festlegbar und lassen sich algorithmisch abbilden, die Zahl der Kreditsachbearbeiter könnte gesenkt werden.
Hier Kosten zu sparen, ist natürlich ein sensibles Thema. Die Mitarbeiter werden zögern, dar
an mitzuarbeiten, weil sie fürchten, sich um den eigenen Job zu bringen. Untätig zu bleiben ist aber für Banken keine Option, denn hier geht es um viel mehr als die Verbesserung eines Detailprozesses. Aus den Daten rund um Kreditanträge lassen sich viele geschäftsrelevante Informationen gewinnen. Eine Bank kann etwa Kundengruppen besser segmentieren und unterversorgte Bereiche aufspüren. Dort ließen sich Kunden dann mit besonderen Angeboten ködern, was zu einer Ausweitung des Geschäfts insgesamt führen würde.
Oder die Bank könnte die Daten nutzen, um mehr über die Beweggründe zu erfahren, warum bestimmte Menschen keinen Kredit aufnehmen wollen. „Möglichweise fürchten ja einige, dass allein schon das Bemühen darum auf Kosten ihrer Kreditwürdigkeit gehen könnte“, sagt Sam Ransbotham, Professor für Informationssysteme an der Carroll School of Management des Boston College und einer der Autoren der
MIT-Sloan-Studie. Das ließe sich ändern, indem den Interessenten eine risikofreie Prüfung zugesichert würde, die sich garantiert nicht auf ihre Kreditwürdigkeit auswirkt. „Es geht also nicht um eine platte Automatisierung des gewohnten Kreditprozesses, sondern um dessen grundlegende Erneuerung“, sagt Ransbotham.
Mit KI lässt sich Grundlegendes ändern
KI würde also den Einstieg in eine neue, vielversprechende Ära der KreditwürdigkeitsPrüfung weisen, Erfolge könnten dem Unternehmen signifikantes Wachstumspotenzial bescheren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sich dann zeigen, dass die Mitarbeiter – Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft vorausgesetzt – die neue Technologie nutzen und sich damit interessante berufliche Perspektiven eröffnen könnten. Ransbotham sieht daher CIOs nicht so sehr in der Pflicht, bereits bestehende Abläufe effizienter zu gestalten. KI und ML böten ihnen vielmehr die Chance, Dinge anders und besser zu erledigen.
In der Studie von MIT Sloan und Boston Consulting, für die 3.000 Manager in aller Welt befragt wurden, wird deutlich, unter welchen Umständen die erfolgreichen elf Prozent „signifikante finanzielle Vorteile“durch KI erzielt haben. Dort wurde die Technik nicht für simple Automatisierung herangezogen, sondern in die übergeordnete Geschäftsstrategie eingebettet. Diese Unternehmen haben Wege gefunden, um Mensch und KI zusammenzuführen, sodass sich Mitarbeiter und Technik ergänzen. „Wir haben herausgefunden: Wenn sich Unternehmen mit organisationalem Lernen beschäftigen und entsprechend ausrichten, sind sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreicher“, sagt Ransbotham.
Ein imposantes Beispiel für den Nutzen von KI liefert derzeit der Pharmazie- und Konsumgüterkonzern Johnson & Johnson, der Ende Januar seinen Impfstoff für Covid-19 angekündigt
hat. Das Vakzin kann mit nur einer Impfung verabreicht werden und muss anders als die Alternative von Pfizer und Biontech nicht extrem heruntergekühlt werden. Laut Johnson & Johnson unterbindet der Impfstoff zwar nur in 66 Prozent der Fälle Infektionen, aber er verhindert zu 85 Prozent schwere und zu nahezu 100 Prozent tödliche Verläufe.
CIO Jim Swanson sagt, den Impfstoff hätte es ohne KI nicht gegeben. Vor acht oder neun Monaten habe Johnson & Johnson noch zwei Wochen dafür gebraucht, eine Charge irgendeines Impfstoffs herzustellen. Jetzt würden zwei Chargen pro Woche fertig, eine vierfache Verbesserung also. „Wir haben KI für jedes Detail eingesetzt, das reichte vom Fermentationsprozess bis hin zu den betriebswirtschaftlichen Kalkulationen“, sagt er. „All die analytischen Details summieren sich am Ende zu unserem Ergebnis.“Vor allem die verbesserte Zusammenarbeit über mehrere Fachbereiche hinweg habe den Prozess beschleunigt, berichtet Swanson. Die Data Scientists bei Johnson & Johnson beherrschten nicht nur Tools und Technik, sondern auch fachliche Aspekte im Forschungsbereich oder der Supply Chain.
Doch die schlagzeilenträchtige Impfstoffentwicklung ist nicht alles. Johnson & Johnson nutzt KI generell dazu, neue Geschäftsmöglichkeiten zu erschließen. Lösungen auf der Basis von maschinellem Lernen helfen beispielsweise Augenärzten, anhand von Netzhaut-Scans Glaukome zu finden. Zudem nutzt der Pharmariese KI für Operationsroboter in der Chirurgie: „Man hat eine viel höhere Präzision und bessere Verfahren“, lautet das Fazit des CIO. Auch die Abläufe vor und nach einem Eingriff ließen sich verbessern: „Man kann KI so einsetzen, dass Patienten die exakt richtige Behandlung bekommen, sodass ihre Genesung bestmöglich unterstützt wird.“
Auch für Hautpflegemittel der Produktreihe „Avena“setzt der Konzern auf KI. Kunden fotografieren ihre Haut und erhalten anhand dessen eine personalisierte Produktempfehlung. Johnson & Johnson nutzt diese Bilder im Sinne des organisationalen Lernens auch, um generell herauszufinden, welche Hautprobleme bestimmte Menschengruppen haben. „Das Daten-Feedback vonseiten der Kunden hilft uns, bessere Produkte zu kreieren“, sagt der CIO.
Natürlich ist das nur möglich, wenn die vorhandene Dateninfrastruktur Privacy und Sicherheit garantiert – die Basisvoraussetzung dafür, dass bei Johnson & Johnson überhaupt viele verschiedene Menschen mit diesen Daten arbeiten können. „Wenn man Daten nicht sicher teilen kann, kann man sie gar nicht teilen“, postuliert Swanson. Oft müsse man sie anonymisieren und sich dann auf bestimmte Phänotypen konzentrieren – zum Beispiel auf Altersgruppen mit besonderen Krankheitsbildern.
Der letzte und wichtigste Teil der organisationalen Lernstrategie von Johnson & Johnson betrifft den Aufbau von kollektivem Wissen. „Wenn man sich mit der Nutzung von Daten nicht auskennt, kommt man nicht weiter“, sagt Swanson. Wissenschaftler aus Forschung und Entwicklung, kaufmännisches Personal und Supply Chain Professionals würden sich daher gleichermaßen damit beschäftigen. „Wir haben einen Data-Science-Beirat gegründet, den ich gemeinsam mit unserem Forschungschef leite. Wir beide haben entschieden, KI dezentral in unseren Geschäftsbereichen auszurollen.“
Mitarbeiterschulung ist der Schlüssel
Anand Rao, Partner und Global AI Leader bei PricewaterhouseCoopers, hält das Vorgehen für vorbildlich. Johnson & Johnson gehöre zu den Konzernen, die KI im gesamten Unternehmen so verankern würden, dass sie von möglichst vielen Mitarbeitern genutzt werde – auch von solchen, die keinen technischen oder analytischen Hintergrund haben. „Unternehmen werden mit KI keinen RoI erzielen, wenn ihre Leute nicht gut geschult, gecoacht und gemanagt werden“, sagt Rao. „Ziel muss es sein, dass nicht nur Einzelpersonen oder Kleingruppen, sondern die gesamte Organi
sation lernt.“Es sei wichtig, Mitarbeiter zu haben, die die geschäftliche Seite genauso wie die Software und die KI-Algorithmen verstehen. Alternativ dazu mache es Sinn, ein Team so zusammenzustellen, dass beide Perspektiven eingebracht würden. Das sei eine große Herausforderung, so Rao.
Ein anderes Unternehmen, das sich das Prinzip des organisationalen Lernens zu Herzen nimmt, ist Genpact, ein globales ProfessionalServices-Unternehmen. Seine Wurzeln liegen im General-Electrics(GE)-Konzern, der Genpact 2005 mit rund 100.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 3,5 Milliarden US-Dollar ausgegründet hatte. Als die Pandemie zuschlug, brachen Genpacts Einnahmen weg und das Unternehmen hätte eigentlich tausende Mitarbeiter entlassen müssen, berichtet Gianni Giacomelli, Chief Innovation Officer des Unternehmens. „Stattdessen waren wir in der Lage, sehr schnell auf neue Marktanforderungen zu reagieren und unser Personal in kürzester Zeit umzuschulen“, sagt der Innovations-Chef, der im Unternehmen auch für die Mitarbeiterentwicklung zuständig ist. „Manchmal dauerte es nur ein paar Wochen, um sie in neue Jobs zu bringen. Dadurch haben wir es geschafft, im Vergleich zu unseren Mitbewerbern zu wachsen, sogar während Covid-19.“Die Umschulung wurde durch gezielten Technologieeinsatz möglich. Genpact nutzte Process Mining, Natural Language Processing (NLP) und Netzwerkanalysen, um herauszufinden wie Dinge im Unternehmen derzeit erledigt werden, wer über welche Fähigkeiten und welches Fachwissen verfügt und wo es Ungereimtheiten in den Abläufen gibt.
Bei Genpact erhöht KI die Flexibilität
Die so gewonnenen Informationen halfen dabei, das Personal besser einzusetzen. Sobald ein Mitarbeiter eine andere neue Rolle übernommen hatte, ermöglichten KI-Systeme ihm eine schnelle Einarbeitung, indem sie den Prozess für die jeweiligen Aufgaben beschrieben oder die jeweilige Person mit relevanten Experten verbanden. „Dadurch konnten wir viel schneller auf die neuen Bedingungen reagieren, mit denen wir aufgrund der Pandemie konfrontiert waren“, sagt Giacomelli.
Mit den neuen Technologien bekommt Genpact in den Griff, was viele Jahre lang nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Unternehmen schiefging: das Wissensmanagement. So berichtet das Knowledge Management Institute, dass die Misserfolgsrate entsprechender Programme vor fünf Jahren noch bei etwa 50 Prozent gelegen habe. Das habe sich durch KI dramatisch verändert. „In den letzten zwei, drei Jahren ist die Qualität der von Maschinen erstellten Ontologien viel besser geworden“, sagt Giacomelli. „Was man zurückbekommt, ist viel präziser.“KI ist eine große Hilfe, um organisationales Wissen in Dokumenten, Geschäftsprozessen und auch in den Köpfen aufzustöbern. Bei Genpact ist das nicht allein die Aufgabe der IT-Abteilung.
„Die vierte industrielle Revolution“
Kathleen Featheringham, Direktorin für KIStrategie und Training bei Booz Allen Hamilton, glaubt, dass die Qualität des Rollouts darüber entscheidet, ob es einen relevanten RoI gibt. „KI ist die vierte industrielle Revolution“, sagt sie. „Sie verändert das Spiel grundlegend. Es geht hier nicht um ein IT-Problem, alle Rollen entwickeln sich weiter.“Die KI-gestützte Unternehmenstransformation erfordere eine Neubewertung der Leistungsziele, des Mitarbeitertrainings und auch der gesamten Vision. Sei das nicht der Fall, und es gebe keinen Konsens über das Vorgehen, könnten das die Mitarbeiter sehr übel nehmen.
Zu den Prinzipien organisationalen Lernens gehört es, dass KI und Mensch zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen. „Gelingt eine Kooperation, in der Maschinen tun, was sie gut können, und Menschen ihre Intuition und ihr Wissen einbringen, wird man einen großen geschäftlichen Nutzen sehen“, ist Judith Hurwitz überzeugt, Präsidentin und Gründerin von Hurwitz and Associates sowie Autorin von inzwischen zehn Büchern zu Themen wie Führung, Technologie und Analytics.