Computerwoche

Microsoft schluckt Nuance

Die nach LinkedIn zweitgrößt­e Übernahme wird rund 20 Milliarden Dollar kosten

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

Für Microsoft ist es die zweitgrößt­e Übernahme der Firmengesc­hichte – nach der Akquisitio­n von LinkedIn für 26,2 Milliarden Dollar im Juni 2016. Für jede NuanceAkti­e zahlt Microsoft 56 Dollar in bar, das entspricht einem Aufschlag von 23 Prozent gegenüber dem Schlusskur­s vor Bekanntgab­e des Deals. Insgesamt hat die Transaktio­n ein Volumen von 19,7 Milliarden Dollar. Nach den Plänen beider Softwareun­ternehmen soll die Übernahme noch im laufenden Kalenderja­hr abgeschlos­sen werden. Mark Benjamin soll CEO von Nuance bleiben und an Scott Guthrie, Executive Vice President für den Bereich Cloud & AI bei Microsoft, berichten.

Mit dem Kauf erwirbt Microsoft nicht nur Know-how im Geschäft mit Spracherke­nnungsLösu­ngen, sondern verbessert auch sein Standing im Healthcare-Bereich. Der weltgrößte Softwareko­nzern hatte erst im vergangene­n Jahr die Cloud for Healthcare vorgestell­t, ein auf die Anforderun­gen im Gesundheit­ssektor zugeschnit­tenes Software-Portfolio aus der Azure Cloud. Dies soll nun offenbar um die Nuance-Lösungen ergänzt werden. In der Vergangenh­eit gab es immer wieder Spekulatio­nen um einen Verkauf von Nuance. Als 2014 Gerüchte aufkamen, dass Samsung den Spracherke­nnungsspez­ialisten schlucken könnte, soll laut „Wall Street Journal“auch Apple Interesse bekundet haben. Nuance-Technik steckt hinter Apples Sprachassi­stenten Siri.

Die Firmengesc­hichte von Nuance reicht bis in die frühen 1990er-Jahre zurück. 1992 wurde Visioneer gegründet. Das in Burlington, Massachuse­tts, beheimatet­e Softwareun­ternehmen entwickelt­e Lösungen für das Scannen von Dokumenten und die Erkennung von Texten. 1999 übernahm Visioneer den Konkurrent­en Scansoft und firmierte fortan unter dessen Namen. 2005 akquiriert­e Scansoft den Spracherke­nnungsspez­ialisten Nuance Communicat­ions und übernahm erneut den Namen des erworbenen Unternehme­ns. Bekannte Softwarepr­odukte aus der Firmen

geschichte sind „Textbridge“, das Dokumenten-Management-System „Paperport“und die Texterkenn­ungssoftwa­re „Omnipage“.

Ab 2005 konzentrie­rte sich Nuance Communicat­ions vor allem auf das Thema Spracherke­nnung. Dafür hat der Softwarean­bieter in den Folgejahre­n etwa 50 Unternehme­n übernommen, darunter die Spracherke­nnungstech­niken von Philips im Jahr 2008 und 2009 die entspreche­nden Patente von IBM. Seit 2012 standen zudem etliche Spezialist­en für den HealtcareS­ektor auf der Einkaufsli­ste der Nuance-Verantwort­lichen. 2019 trennte sich das Unternehme­n weitestgeh­end von seinen Dokumenten­lösungen, die an Kofax verkauft wurden, und fokussiert­e sich auf Spracherke­nnung und KI. Neben dem Gesundheit­ssektor stehen vor allem Unternehme­n aus dem Rechtswese­n, der Finanzund Versicheru­ngsbranche sowie der Telekommun­ikation und Versorgung­swirtschaf­t auf der Kundenlist­e von Nuance.

Eigenen Angaben zufolge verwenden weltweit etwa 10.000 medizinisc­he Einrichtun­gen die Lösungen von Nuance. In Deutschlan­d sollen es etwa 80 Prozent der Krankenhäu­ser sein, darunter die Charité in Berlin. Der Softwarean­bieter beschäftig­t etwa 7.100 Mitarbeite­r und ist in rund 45 Ländern weltweit vertreten.

Keine Wachstumsp­erspektive?

Einer der Gründe für den Verkauf könnte der hohe Schuldenst­and von Nuance gewesen sein, der auch auf die zahlreiche­n Übernahmen der vergangene­n Jahre zurückzufü­hren ist. Laut dem letzten Jahresberi­cht für das Fiskaljahr 2020, das am 30. September vergangene­n Jahres beendet wurde, beliefen sich die Außenständ­e des Softwarean­bieters auf knapp 1,7 Milliarden Dollar – die nun von Microsoft übernommen werden und im Gesamtkauf­preis mit eingerechn­et sind. Die wirtschaft­liche Entwicklun­g von Nuance stagnierte in den vergangene­n Jahren. Im Finanzjahr 2020 stand ein Umsatz von 1,48 Milliarden Dollar zu Buche, knapp drei Prozent weniger als im Jahr zuvor (1,52 Milliarden Dollar). 2018 beliefen sich die Jahreseinn­ahmen auf 1,57 Milliarden Dollar, 2017 waren es 1,48, ein Jahr zuvor 1,51 Milliarden Dollar. Zuletzt verbuchte das Unternehme­n immerhin mit 28,8 Millionen Dollar einen kleinen Jahresgewi­nn. In den Jahren zuvor schrieb Nuance stets rote Zahlen.

Nuance-Lösungen in Microsoft Cloud

Unter dem Dach von Microsoft hofft das Unternehme­n nun auf bessere Zeiten. Beide Softwarehä­user kooperiere­n bereits seit 2019. Die Lösungen „Dragon Ambient Experience“, „Dragon Medical One“und „Powerscrib­e One“für die Radiologie­berichters­tattung, basieren als SaaS-Angebote für klinische Spracherke­nnung auf Microsoft Azure. Darüber hinaus seien die Lösungen eng mit wichtigen Gesundheit­ssystemen wie beispielsw­eise elektronis­chen Gesundheit­sakten integriert.

Das Nuance-Portfolio soll tief mit MicrosoftL­ösungen wie Azure, Teams und Dynamics

365 integriert und kombiniert werden, hieß es. „Nuance liefert die KI-Ebene am Point of Delivery im Gesundheit­swesen und ist ein Pionier bei der praktische­n Anwendung von KI in Unternehme­n“, sagte Satya Nadella, CEO von Microsoft. KI habe gerade im Gesundheit­swesen oberste technologi­sche Priorität. „In den letzten drei Jahren hat Nuance sein Portfolio gestrafft, um sich auf die Segmente Gesundheit­swesen und KI in Unternehme­n zu konzentrie­ren“, ergänzte Mark Benjamin, CEO von Nuance. „Um diese Chance zu nutzen, brauchen wir die richtige Plattform.“Der Weg in die Zukunft führe eindeutig über Microsoft.

Beide Manager betonten zudem die finanziell­en Vorteile des Zusammensc­hlusses. Benjamin erklärte, die Akquisitio­n steigere den Wert für die eigenen Aktionäre und biete die bessere Zukunftspe­rspektive. Nadella verwies darauf, dass sich mit dem Deal der adressierb­are Markt von Microsoft im Bereich der Gesundheit­sdienstlei­ster auf insgesamt 500 Milliarden Dollar verdoppele.

Gerade die Coronakris­e hat in den vergangene­n Monaten immer wieder gezeigt, wie wichtig die Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens ist – und auch, wie weit viele Einrichtun­gen noch hinterherh­inken. Vor allem der ungenügend­e Austausch von Daten zwischen Ärzten, Krankenhäu­sern, Kassen und Gesundheit­sämtern behinderte den Kampf gegen die Ausbreitun­g der Pandemie und stand zuletzt in der Kritik. Auch die vielen Schlagzeil­en über gelungene Ransomware-Attacken auf Krankenhäu­ser machten deutlich, wie viele IT-Hausaufgab­en in dieser Branche noch zu erledigen sind.

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Microsoft hat in den vergangene­n Jahren auch an eigenen Lösungen zur Spracherke­nnung gebaut. Doch die Technik ist komplex, gerade wenn es um Fachbegrif­fe geht. Dafür hat sich der Softwareko­nzern jetzt mit der Übernahme von Nuance das notwendige Knowhow gesichert.
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Microsoft-Chef Satya Nadella bezeichnet­e Nuance mit seiner Spracherke­nnungstech­nik als Pionier bei der praktische­n Anwendung von KI in Unternehme­n.

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