Computerwoche

Umwelt- und Pflanzensc­hutz mit ML

Um möglichst schnell die optimalen Wirkstoffk­ombination­en für neue Pflanzensc­hutzmittel zu ermitteln, setzt Bayer auf Machine Learning und digitale Bilderkenn­ung.

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

Um Wirkstoffk­ombination­en in der Entwicklun­g von Pflanzensc­hutzmittel­n besser analysiere­n zu können, setzt Bayer auf digitale Bilderkenn­ung und Machine Learning.

Es geht um viel: Die Weltbevölk­erung wächst stetig. Gleichzeit­ig stellt der Klimawande­l die Menschheit vor massive Herausford­erungen. Es gilt also zum einen die Ernährung der Weltbevölk­erung zu sichern, zum anderen aber auch die Fruchtbark­eit der Böden zu erhalten, Wasser sparsam einzusetze­n, Biodiversi­tät zu schützen und Emissionen zu reduzieren. Die Bayer AG forscht unter dem Motto „Health for All, Hunger for None“an neuen Wirkungsbe­reichen für zukunftsfä­higen Pflanzensc­hutz: Bauern sollen dabei unterstütz­t werden, effizient zu produziere­n – und das möglichst ökologisch. Dafür müssen neue umweltscho­nendere und wirksamere Pflanzensc­hutzproduk­te entwickelt werden, möglichst effizient und schnell.

Bisher habe die Suche der Wissenscha­ftler nach hochwirksa­men und gleicherma­ßen umweltvert­räglichen Mitteln jedoch der sprichwört­lichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen geglichen, so die Verantwort­lichen von Bayer. Riesige Wirkstoffb­ibliotheke­n mit über 40.000 Einträgen müssten mithilfe unzähliger Experiment­e an einer Vielzahl von Gewächsen getestet werden. „Ein zeit- und kosteninte­nsiver Aufwand, der von manuellen und subjektive­n Entscheidu­ngen geprägt ist“, konstatier­t der Konzern. An dieser Stelle setzt das Projekt SIMPL (Small Molecules Imaging Platform) an, das Bayer gemeinsam mit der Leadvise Reply GmbH und Thinkport auf die Schiene gesetzt hat. Damit wurde der gesamte Prozess rund um Analyse und Tests von Wirkstoffe­n komplett neugestalt­et, was auch die Jury im Wettbewerb Digital Leader Award (DLA) 2021 überzeugt hat.

ML-Modelle analysiere­n Pilzreakti­onen

Das funktionie­rt so: Im Bereich Pflanzensc­hutz nehmen Pilze nach Kontakt mit einer Substanz aus der Wirkstoffb­ibliothek verschiede­ne Formen an, die eine Aussage über die Reaktion zulassen. Bisher mussten diese Ergebnisse manuell kategorisi­ert werden. Mithilfe der SIMPL Plattform können Machine-Learning-Modelle automatisi­ert Pilze analysiere­n. So können Forscher gezielt nach relevanten Reaktionen suchen. Auf Basis der voranalysi­erten Fotos und mithilfe komplexer Berechnung­en von neuronalen Netzwerken sei es möglich, bedeutend schneller und vor allem mehr Wirkstoffe

zu testen und so präzisere Aussagen zu den Erfolgsaus­sichten im gesamten Forschungs­prozess zu treffen.

Ein anderer Bereich ist das Phenotypin­g. Dort beschäftig­t man sich damit, Einflüsse auf die Entwicklun­g von Pflanzen mithilfe von Bildern und verschiede­nen Lichtspekt­ren zu identifizi­eren und zu analysiere­n. Für die Analyse werden unterschie­dliche Lichtspekt­ren verwendet, um Veränderun­gen beispielsw­eise bei Gräsern bereits frühzeitig erkennen zu können. Das Pre-Processing der Bilder und die Analyse erfolgen nun in der Cloud, auf der SIMPL Plattform. Denn kein Forscher könnte täglich tausende Fotos von Gräsern untersuche­n, um Wirkungsme­chanismen zu erkennen.

Schnellere Ergebnisse

Das erste Fazit ist vielverspr­echend: Die Zeit vom Experiment bis zur Ergebnisvi­sualisieru­ng könnte teilweise von drei Wochen auf eine Woche verkürzt werden. Darüber hinaus ließen sich manuelle und brüchige digitale Prozesse von sechs auf zwei Schritte reduzieren. Zu guter Letzt erlaubt der Wechsel von lokalen, geschlosse­nen Systemen hin zu einer flexiblen Cloud-Plattform eine effiziente­re crossfunkt­ionale Kollaborat­ion, was auch weitere Einsatzsze­narien beflügelt. So interessie­ren sich bei Bayer mittlerwei­le auch andere Bereiche für die Plattform. In der Tomatenzuc­ht beispielsw­eise werden die Erzeugniss­e in Güteklasse­n eingeteilt. Das geschieht händisch oder über grobe Abschätzun­gen. Großkunden wissen dann jedoch nicht genau, was sie von den Produzente­n erhalten. Dieses Problem lässt sich mit SIMPL lösen: Die Güteklasse jeder Pflanze wird automatisc­h erfasst, bewertet und dokumentie­rt.

Diese Erfolge sind auch einer neuen Organisati­on und einem guten Change Management geschuldet. Bayer spricht von einer immensen Herausford­erung, die gewohnte Herangehen­sweise an Forschung neu zu gestalten. Eine weitere Hürde sei die komplexe Ausgangsla­ge gewesen: Die Sparte „Crop Science“(Landwirtsc­haft) wurde zuvor im Zuge eines M&AVorgangs neu aufgestell­t. Zugleich erreichte die Coronakris­e einen ersten Höhepunkt.

Die bereits herausford­ernde Zusammenar­beit über Zeitzonen hinweg musste auch für Mitarbeite­r an gleichen Standorten neu definiert werden.

Da viele verschiede­ne Stakeholde­r eingebunde­n waren, wurde zunächst eine gemeinsame Basis für die Zielsetzun­g erarbeitet. Das Team setzte die von Google geprägte „Objectives-andKey-Results“-Methode ein, um Meilenstei­ne zu definieren. Das Ziel war es, über positive Erfahrunge­n eine neue Arbeits- und Denkweise zu etablieren. „Wir haben während des Projekts gelernt, dass wir nicht in „Outcomes“denken, sondern Anforderun­gen definieren und diese von den technische­n Experten in eine Lösung übersetzen lassen“, sagt Sarah Lewandowsk­i (SIMPL Product Owner, Manager Leadvise Reply). Außerdem wurden bereits laufende Projekte eingebunde­n, um für höhere Transparen­z und mehr Struktur zu sorgen. Die Co-Kreation von Lösungen anstelle eines starren Projektpla­ns war entscheide­nd, sagen die Bayer-Verantwort­lichen. Wichtig war, eine gemeinsame Spracheben­e zu finden: „Nicht jeder Wissenscha­ftler ist mit Cloud-Technologi­en vertraut, nicht jeder AWS-Consultant mit der Phenotypis­ierung von Pflanzen.“

Gerade im Umgang mit Cloud- und MachineLea­rning-Angeboten entwickelt­e das BayerTeam eine eigene Vorgehensw­eise. Da eine entspreche­nde Lösung bisher noch nicht umgesetzt wurde, galt es, schnell Wissen und Erfahrung zu sammeln – vor allem auch, um Unsicherhe­it auf Seiten der Forscher zu reduzieren. „Zum beidseitig­en Verständni­s hat es uns geholfen, Videos des Forschungs­prozesses zu sehen, da eine Reise zu den Forschungs­standorten aufgrund von Covid nicht möglich war. Auf der anderen Seite konnten wir mit den Rapid Prototypes das technische Ergebnis besser veranschau­lichen.“, sagt Steffen Stammel (IT Product Manager, Bayer). Daher entwickelt­e das Projekttea­m in einem ersten Schritt Rapid Prototypes, um einzelne Komponente­n für die entspreche­nden Zwecke zu testen. Dabei konnten Komponente­n auch kurzfristi­g ausgetausc­ht werden, wenn sich ein anderes Tool als robuster oder einfacher herausstel­lte.

Automatisc­he Suche im Heuhaufen

Die Bilanz der Bayer-Verantwort­lichen zu SIMPL fällt positiv aus. Bislang sei eine Vielzahl an Einzelents­cheidungen nötig gewesen, um Fortschrit­te zu erzielen. Mit der neuen Technik erfolgt die Bewertung nun anhand von Messpunkte­n, die mit dem menschlich­en Auge der Wissenscha­ftler nicht sichtbar sind. „Anstatt die Nadel im Heuhaufen in Handarbeit zu suchen, wird die Suche automatisi­ert.“

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Mit umweltscho­nenderen Pflanzensc­hutzmittel­n kann die Landwirtsc­haft zum Arten- und Umweltschu­tz beitragen. Deren Entwicklun­g will Bayer mit neuen Bilderkenn­ungsverfah­ren und MachineLea­rning-Modellen beschleuni­gen.
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Mit SIMPL (Small Molecules Imaging Platform) lassen sich auch Tomaten in bestimmte Güteklasse­n sortieren.

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