Prozess-Tuning mit Process Mining – visualisieren, analysieren, optimieren
Bevor Unternehmen die Früchte der Digitalisierung ernten können, müssen sie erst einmal ihre Geschäftsprozesse in Ordnung bringen. Das ist oft leichter gesagt als getan. In vielen Betrieben herrscht ein regelrechter Wildwuchs, nicht selten haben die Verantwortlichen längst den Durchblick verloren. Die noch junge Disziplin Process Mining verspricht Abhilfe zu schaffen.
Wer Geschäftsprozesse digitalisieren und automatisieren möchte, muss zunächst einmal den Status quo ermitteln: Wie ist es um die gegenwärtigen Prozesse überhaupt bestellt? Was so selbstverständlich klingt, ist keineswegs trivial. Viele Betriebe tun sich schwer damit, ihre Prozesslandschaften zu beschreiben, geschweige denn beurteilen zu können, welche Prozesse gut und welche schlecht laufen.
Hilfe verspricht das Process Mining. Dabei handelt es sich um „eine Technik des Prozessmanagements, die es ermöglicht, Geschäftsprozesse auf Basis digitaler Spuren in IT-Systemen zu rekonstruieren und auszuwerten“, heißt es auf Wikipedia. Die Technik ermöglicht es, das in Daten enthaltene Prozesswissen zu extrahieren und daraus Modelle zu bauen.
Die in den Systemen gespeicherten einzelnen Schritte lassen sich so zusammenfügen und der Prozess in seiner Gesamtheit visualisieren. Ziel der Analyse ist es dann, diese Prozesse zu optimieren.
Das Grundthema, nämlich die eigenen Geschäftsabläufe zu verstehen und zu verbessern, ist nicht neu. Schon Anfang der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelte August-Wilhelm Scheer an der Universität des Saarlands erste Prototypen zur Geschäftsprozess-modellierung. Mit Hilfe des Aris-Toolsets sollten Anwender in die Lage versetzt werden, Geschäftsprozess-Landkarten zu entwerfen und diese anhand von Kennzahlen zu bewerten.
Der Altmeister der Prozessanalyse traf damit den Nerv der Zeit. Für viele Anwenderunternehmen stand damals eine SAP-Umstellung auf dem Plan – von dem für Großrechner konzipierten R/2 auf das Client-Server-System R/3. Dabei ging es auch um eine Bestandsaufnahme und Neuordnung der Prozesse. Auffällig die Parallele zu heute: Wieder müssen sich viele Betriebe mit einem SAP-Umstieg beschäftigen, von SAP ECC auf S/4HANA, und wieder steht dabei das Thema Prozesse ganz oben auf der Agenda. Nur dass es nicht mehr Business Process Reengineering heißt wie noch vor 25 Jahren, sondern Process Mining.
Im Laufe der Zeit kamen und gingen viele Begriffe rund um das Thema Prozesse: je nach Geschmacksrichtung sprach man neben besagtem Business Process Reengineering vom Business Process Management (BPM), Business Activity
Monitoring (BAM), Business Operations Management (BOM), Complex Event Processing (CEP), Continuous Process Improvement (CPI) oder Corporate Performance Management (CPM). Der Begriff Process Mining nahm vor rund zehn Jahren Formen an. Eine Reihe von Wissenschaftlern, darunter Wil van der Aalst von der Eindhoven University of Technology und technischer Vordenker von Celonis (siehe Interview Seite 14), sowie Vertreter von Beratungs- und Softwareunternehmen formierten eine Art Task Force und formulierten das „Process Mining Manifesto“.
Die Mitglieder hatten erkannt, dass immer mehr IT-Systeme Ereignisse aufzeichneten, sodass mit diesen Daten detaillierte Informationen über den Zustand von Prozessen zur Verfügung standen. Gleichzeitig wurde es im Rahmen der Adaption von Cloud-Diensten sowie der Digitalisierung von immer mehr Prozessen schwerer, den Überblick zu behalten. Auch weil sich die Prozesslandschaften heute ständig verändern, brauchen Anwender Tools, um prüfen zu können, wie gut oder schlecht Abläufe funktionieren, und im besten Fall auch gleich Maßnahmen zur Optimierung einzuleiten.
Manuelle Verfahren helfen nicht weiter
Angesichts der gestiegenen Anforderungen stießen klassische Ansätze des Prozessmanagement an ihre Grenzen. Interviews mit Fachanwendern und Prozess-Spezialisten, das Sichten von Unterlagen und Dokumentationen sowie die exemplarische Beobachtung von Vorgängen im Unternehmen resultierten in komplexen Prozesslandkarten, deren Interpretation oft Spielraum für Missverständnisse und Fehler ließ. Abhilfe versprach das Process Mining, das sich im Laufe der Jahre immer klarer aus Teildisziplinen wie dem Workflow-Management, der Geschäftsprozess-Modellierung und dem Data Mining herausbildete. Der Unterschied zu klassischen Verfahren: Statt Prozessdaten mühsam händisch zu sammeln und aufzubereiten, arbeitet Process Mining mit Log-Daten, die automatisch aus den prozessunterstützenden IT-Systemen generiert werden. Die Tools bringen dafür Konnektoren oder sogenannte Loader zu Systemen wie beispielsweise Enterprise Resource Planning (ERP), Manufacturing Execution Systems (MES) und Supply Chain Management (SCM) beziehungsweise Datenbanken mit.
Guter Nährboden für Startups
Verschiedene Startups haben das Potenzial von Process Mining früh erkannt und entsprechende Lösungen entwickelt. Allen voran Celonis. Die drei Studenten Bastian Nominacher, Martin Klenk und Alexander Rinke starteten 2011 und bauten das Münchner Startup binnen zehn Jahren zu einer Software-Company mit über 1.300 Mitarbeitern und einer Marktkapitalisierung von knapp elf Milliarden Dollar auf. Gerade in Deutschland gibt es aber noch weitere Process-Mining-Spezialisten, beispielsweise Lana Labs aus Berlin, die Process Analytics Factory (PAF) oder Processgold, dessen Gründer Rudolf Kuhn zu den Autoren des ProcessMining-Manifestos zählt.
Inzwischen sind auch etablierte Softwareanbieter auf den Zug aufgesprungen: SAP hat Anfang des Jahres den Process-Mining-Spezialisten Signavio übernommen und baut auf der Basis von dessen Lösungen „Business Process Intelligence“(BPI) zu einem Pfeiler ihrer Softwareplattform aus. Im Oktober 2019 hatte Automatisierungsspezialist UIPath Processgold übernommen. Erst im August 2021 akquirierte der Anbieter von Low-Code-Automation Appian die Berliner Lana Labs. Darüber hinaus belegen etliche Kooperationen, dass sich Process Mining als wichtiger Baustein in EnterpriseSoftware-Architekturen etabliert. Im Juli dieses Jahres verkündeten PAF und Exasol, ein Anbieter von analytischen Datenbanksystemen, eine Kooperation. Wenige Wochen später erklärten dann Celonis und der US-amerikanische Workflow-Spezialist ServiceNow, enger zusammenarbeiten zu wollen.