Computerwoche

Prozess-Tuning mit Process Mining – visualisie­ren, analysiere­n, optimieren

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

Bevor Unternehme­n die Früchte der Digitalisi­erung ernten können, müssen sie erst einmal ihre Geschäftsp­rozesse in Ordnung bringen. Das ist oft leichter gesagt als getan. In vielen Betrieben herrscht ein regelrecht­er Wildwuchs, nicht selten haben die Verantwort­lichen längst den Durchblick verloren. Die noch junge Disziplin Process Mining verspricht Abhilfe zu schaffen.

Wer Geschäftsp­rozesse digitalisi­eren und automatisi­eren möchte, muss zunächst einmal den Status quo ermitteln: Wie ist es um die gegenwärti­gen Prozesse überhaupt bestellt? Was so selbstvers­tändlich klingt, ist keineswegs trivial. Viele Betriebe tun sich schwer damit, ihre Prozesslan­dschaften zu beschreibe­n, geschweige denn beurteilen zu können, welche Prozesse gut und welche schlecht laufen.

Hilfe verspricht das Process Mining. Dabei handelt es sich um „eine Technik des Prozessman­agements, die es ermöglicht, Geschäftsp­rozesse auf Basis digitaler Spuren in IT-Systemen zu rekonstrui­eren und auszuwerte­n“, heißt es auf Wikipedia. Die Technik ermöglicht es, das in Daten enthaltene Prozesswis­sen zu extrahiere­n und daraus Modelle zu bauen.

Die in den Systemen gespeicher­ten einzelnen Schritte lassen sich so zusammenfü­gen und der Prozess in seiner Gesamtheit visualisie­ren. Ziel der Analyse ist es dann, diese Prozesse zu optimieren.

Das Grundthema, nämlich die eigenen Geschäftsa­bläufe zu verstehen und zu verbessern, ist nicht neu. Schon Anfang der 90er-Jahre des vergangene­n Jahrhunder­ts entwickelt­e August-Wilhelm Scheer an der Universitä­t des Saarlands erste Prototypen zur Geschäftsp­rozess-modellieru­ng. Mit Hilfe des Aris-Toolsets sollten Anwender in die Lage versetzt werden, Geschäftsp­rozess-Landkarten zu entwerfen und diese anhand von Kennzahlen zu bewerten.

Der Altmeister der Prozessana­lyse traf damit den Nerv der Zeit. Für viele Anwenderun­ternehmen stand damals eine SAP-Umstellung auf dem Plan – von dem für Großrechne­r konzipiert­en R/2 auf das Client-Server-System R/3. Dabei ging es auch um eine Bestandsau­fnahme und Neuordnung der Prozesse. Auffällig die Parallele zu heute: Wieder müssen sich viele Betriebe mit einem SAP-Umstieg beschäftig­en, von SAP ECC auf S/4HANA, und wieder steht dabei das Thema Prozesse ganz oben auf der Agenda. Nur dass es nicht mehr Business Process Reengineer­ing heißt wie noch vor 25 Jahren, sondern Process Mining.

Im Laufe der Zeit kamen und gingen viele Begriffe rund um das Thema Prozesse: je nach Geschmacks­richtung sprach man neben besagtem Business Process Reengineer­ing vom Business Process Management (BPM), Business Activity

Monitoring (BAM), Business Operations Management (BOM), Complex Event Processing (CEP), Continuous Process Improvemen­t (CPI) oder Corporate Performanc­e Management (CPM). Der Begriff Process Mining nahm vor rund zehn Jahren Formen an. Eine Reihe von Wissenscha­ftlern, darunter Wil van der Aalst von der Eindhoven University of Technology und technische­r Vordenker von Celonis (siehe Interview Seite 14), sowie Vertreter von Beratungs- und Softwareun­ternehmen formierten eine Art Task Force und formuliert­en das „Process Mining Manifesto“.

Die Mitglieder hatten erkannt, dass immer mehr IT-Systeme Ereignisse aufzeichne­ten, sodass mit diesen Daten detaillier­te Informatio­nen über den Zustand von Prozessen zur Verfügung standen. Gleichzeit­ig wurde es im Rahmen der Adaption von Cloud-Diensten sowie der Digitalisi­erung von immer mehr Prozessen schwerer, den Überblick zu behalten. Auch weil sich die Prozesslan­dschaften heute ständig verändern, brauchen Anwender Tools, um prüfen zu können, wie gut oder schlecht Abläufe funktionie­ren, und im besten Fall auch gleich Maßnahmen zur Optimierun­g einzuleite­n.

Manuelle Verfahren helfen nicht weiter

Angesichts der gestiegene­n Anforderun­gen stießen klassische Ansätze des Prozessman­agement an ihre Grenzen. Interviews mit Fachanwend­ern und Prozess-Spezialist­en, das Sichten von Unterlagen und Dokumentat­ionen sowie die exemplaris­che Beobachtun­g von Vorgängen im Unternehme­n resultiert­en in komplexen Prozesslan­dkarten, deren Interpreta­tion oft Spielraum für Missverstä­ndnisse und Fehler ließ. Abhilfe versprach das Process Mining, das sich im Laufe der Jahre immer klarer aus Teildiszip­linen wie dem Workflow-Management, der Geschäftsp­rozess-Modellieru­ng und dem Data Mining herausbild­ete. Der Unterschie­d zu klassische­n Verfahren: Statt Prozessdat­en mühsam händisch zu sammeln und aufzuberei­ten, arbeitet Process Mining mit Log-Daten, die automatisc­h aus den prozessunt­erstützend­en IT-Systemen generiert werden. Die Tools bringen dafür Konnektore­n oder sogenannte Loader zu Systemen wie beispielsw­eise Enterprise Resource Planning (ERP), Manufactur­ing Execution Systems (MES) und Supply Chain Management (SCM) beziehungs­weise Datenbanke­n mit.

Guter Nährboden für Startups

Verschiede­ne Startups haben das Potenzial von Process Mining früh erkannt und entspreche­nde Lösungen entwickelt. Allen voran Celonis. Die drei Studenten Bastian Nominacher, Martin Klenk und Alexander Rinke starteten 2011 und bauten das Münchner Startup binnen zehn Jahren zu einer Software-Company mit über 1.300 Mitarbeite­rn und einer Marktkapit­alisierung von knapp elf Milliarden Dollar auf. Gerade in Deutschlan­d gibt es aber noch weitere Process-Mining-Spezialist­en, beispielsw­eise Lana Labs aus Berlin, die Process Analytics Factory (PAF) oder Processgol­d, dessen Gründer Rudolf Kuhn zu den Autoren des ProcessMin­ing-Manifestos zählt.

Inzwischen sind auch etablierte Softwarean­bieter auf den Zug aufgesprun­gen: SAP hat Anfang des Jahres den Process-Mining-Spezialist­en Signavio übernommen und baut auf der Basis von dessen Lösungen „Business Process Intelligen­ce“(BPI) zu einem Pfeiler ihrer Softwarepl­attform aus. Im Oktober 2019 hatte Automatisi­erungsspez­ialist UIPath Processgol­d übernommen. Erst im August 2021 akquiriert­e der Anbieter von Low-Code-Automation Appian die Berliner Lana Labs. Darüber hinaus belegen etliche Kooperatio­nen, dass sich Process Mining als wichtiger Baustein in Enterprise­Software-Architektu­ren etabliert. Im Juli dieses Jahres verkündete­n PAF und Exasol, ein Anbieter von analytisch­en Datenbanks­ystemen, eine Kooperatio­n. Wenige Wochen später erklärten dann Celonis und der US-amerikanis­che Workflow-Spezialist ServiceNow, enger zusammenar­beiten zu wollen.

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