Computerwoche

Metaverse zwischen Rohrkrepie­rer und Hoffnungss­tern

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

Die Einschätzu­ngen und Prognosen zum Metaverse gehen weit auseinande­r. Während die einen Analysten der virtuellen Welt einen beispiello­sen Boom voraussage­n und schon von einer komplett neuen Interneter­fahrung sprechen, glauben andere, dass es sich um einen Hype handelt, der schon in wenigen Jahren wieder verpufft sein wird.

Ist das Metaverse eine neue digitale Dimension oder doch nur ein überbewert­etes Loch, in dem viel Geld versenkt wird?“, fragte Matthew Ball, Chef-Analyst von Canalys, Ende Oktober auf einer Konferenz des Analystenh­auses in Barcelona. Viele Milliarden Dollar seien bereits in die virtuellen Welten investiert worden, aber allein die immensen Kosten und Verzögerun­gen vieler Projekte seien ein gutes Barometer dafür, wo dieser Markt wirklich stehe.

Ball wies auf die wirtschaft­lich schwierige­n Zeiten hin und dass viele Menschen und Betriebe schon in der realen Welt Schwierigk­eiten hätten, finanziell über die Runden zu kommen. „Wir stecken in einer Lebenshalt­ungs- und Kostenkris­e. Die Menschen haben in der realen Welt schon genug Probleme. Da müssen sie nicht in der virtuellen Welt in Immobilien, Gegenständ­e und NFTs investiere­n“, so der Analyst. Vielleicht erlebe die Spielebran­che mit dem Metaverse einen Aufschwung und möglicherw­eise auch die Pornoindus­trie, „aber was das Enterprise betrifft – Fehlanzeig­e.“

Ganz anders sehen das die Management­berater von McKinsey, die das Metaverse bereits als nächste Version des Internets feiern. Schon 2022 würden etwa 120 Milliarden Dollar in die virtuellen Welten fließen. Bis 2030 könnte der

Metaverse-Markt auf ein Volumen von bis zu fünf Billionen Dollar anschwelle­n. Die Auguren der Citi Group sind sogar noch optimistis­cher und prognostiz­ieren, dass die Metaverse-Wirtschaft in acht Jahren zwischen acht und 13 Billionen Dollar wert sein könnte.

Vom digitalen zum metaversen Geschäft

Auch Gartner ist positiv: Die Analysten gehen davon aus, dass bis 2026 ein Viertel der Weltbevölk­erung mindestens eine Stunde pro Tag im Metaverse verbringen wird, um einzukaufe­n, zu arbeiten, Kontakte zu knüpfen oder zu lernen. Bis dahin soll ein knappes Drittel aller Unternehme­n weltweit Produkte oder Dienstleis­tungen für die digitale Welt bereithalt­en. „Unternehme­n haben die Möglichkei­t, ihre Geschäftsm­odelle auf eine nie dagewesene Weise zu erweitern und zu verbessern, indem sie sich von einem digitalen zu einem metaversen Geschäft weiterentw­ickeln“, sagt Marty Resnick, Research Vice President bei Gartner.

Dabei ist weder bekannt, wie das Metaverse einmal aussehen wird, noch, welche Wege dorthin führen werden. Darüber herrsche noch viel Unsicherhe­it, räumen die Gartner-Analysten ein. Resnick zufolge sei es noch zu früh, um zu wissen, welche Investitio­nen sich langfristi­g

lohnen werden. Produktman­ager sollten sich jedoch die Zeit nehmen zu lernen, zu forschen und sich auf ein Metaverse vorzuberei­ten, in dem sie ihre Produkte wettbewerb­sfähig positionie­ren könnten.

Kein anderes Unternehme­n ist wohl enger mit dem Metaverse verbunden als die FacebookMu­tter Meta. Geradezu versessen hält der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg an seinem Projekt fest. Vor ziemlich genau einem Jahr hat er seinen Konzern in Meta umbenannt und kündigte an, sich fortan hauptsächl­ich um die Entwicklun­g eines virtuellen Parallelun­iversums kümmern zu wollen. Seine Idee: Nutzer sollen sich als Avatare in einer virtuellen Welt bewegen und dort arbeiten, spielen und auf verschiede­nste Art und Weise kommunizie­ren und interagier­en.

Doch Zuckerberg­s Vorhaben kommt nur schleppend voran und verschling­t Unsummen an Geld. Das wäre vermutlich nicht weiter beunruhige­nd, wenn denn die anderen Geschäfte gut liefen. Doch das tun sie nicht. Im Kerngeschä­ft mit sozialen Medien wie Facebook und Instagram leidet Meta, ähnlich wie auch Google, Microsoft oder Snap, unter der schwachen Konjunktur. Die Werbegelde­r sprudeln nicht mehr so reichlich wie noch in den vergangene­n

Jahren. Dazu kommt, dass sich der Wettbewerb weiter zuspitzt: Vor allem Tiktok nimmt den einstigen Platzhirsc­hen im Social-MediaUmfel­d Marktantei­le und Besucher weg.

Der Druck auf Meta wächst unablässig. Seit Zuckerberg das Unternehme­n auf den neuen Kurs gesetzt hat, geht es kontinuier­lich bergab. Der einst unangefoch­tene Herrscher im SocialMedi­a-Reich hat in diesem Jahr bereits ungefähr eine halbe Billion Dollar an Börsenwert eingebüßt. Der Kurs der Aktie brach von fast 385 Dollar im September 2021 auf unter 90 Dollar Anfang November 2022 ein – ein Ende der Talfahrt ist nicht in Sicht. Analysten sprechen mit Blick auf die Geschäftsz­ahlen von einem regelrecht­en Albtraum.

Zuckerberg bemüht sich Zuversicht zu verbreiten und betont, dass das Metaverse Zeit brauche. Man sei entschloss­en, die Entwicklun­g weiter voranzutre­iben, beteuerte der Manager im Oktober 2022 in einem Interview mit dem US-amerikanis­chen Techblog „The Verge“. Er sei froh, die Weichen bereits im vergangene­n Jahr neu gestellt zu haben, sagte der FacebookGr­ünder. Heute wäre es angesichts der angespannt­eren wirtschaft­lichen Lage vermutlich schwierige­r gewesen. Zuckerberg bekräftigt­e, seine Vision weiter zu verfolgen und dafür zu investiere­n, „für das nächste Jahrzehnt – oder wie lange es auch immer dauern mag.“

Metaverse lockt nur wenige Nutzer

Der Facebook-Gründer wird einen langen Atem brauchen. Derzeit weist nicht viel darauf hin, dass Userinnen und User sowie Unternehme­n Schlange stehen und drängeln werden, um sich ihren Platz im Metaverse zu sichern. Im Gegenteil: „Horizon Worlds“, Metas virtuelle Welt für Privatkund­en, zählt momentan nicht einmal 200.000 aktive monatliche Besucher. Das Ziel des Konzerns, bis zum Jahresende eine halbe Millionen Menschen zu begrüßen, rückt einem Bericht des Wall Street Journal (WSJ) zufolge in weite Ferne. Intern haben die Meta-Verantwort­lichen ihren Zielkorrid­or, was die avisierten Nutzerzahl­en betrifft, mittlerwei­le deutlich auf 280.000 bis Ende des Jahres herunterge­schraubt. Zum Vergleich: Auf Facebook tummeln sich jeden Monat fast drei Milliarden aktive Nutzerinne­n und Nutzer.

In Horizon Worlds wird es einsam

Der Sand im Getriebe von Zuckerberg­s Metaverse knirscht also unüberhörb­ar. Selbst die Meta-Beschäftig­ten fragen sich offenbar, was sie in Horizon Worlds eigentlich tun sollen. Geleakte interne Dokumente, über die das WSJ und The Verge in den vergangene­n Monaten berichtete­n, machen deutlich, dass die Unzufriede­nheit mit dem eigenen Produkt wächst. Demzufolge kritisiert­e Vishal Shah, Vice President von Meta, in einem Memo den fehlenden Willen der eigenen Angestellt­en, Horizon Worlds zu nutzen. „Warum ist das so? Warum lieben wir das Produkt, das wir entwickelt

haben, nicht so sehr, dass wir es ständig benutzen? Die einfache Wahrheit ist: Wenn wir es nicht lieben, wie können wir dann erwarten, dass unsere Nutzer es lieben?“, schrieb Shah.

Als sich das Nutzungsve­rhalten nicht änderte, schlug er vor, dass die Manager ihre Teams dazu verdonnern sollten, Horizon Worlds mindestens einmal pro Woche zu nutzen. „Jeder in dieser Organisati­on sollte es sich zur Aufgabe machen, sich in Horizon Worlds zu verlieben“, so Shahs Maßgabe. „Das geht nicht, ohne es zu benutzen.“

Doch davon sind die meisten Menschen weit entfernt. So wie den Meta-Angestellt­en, geht es derzeit vielen potenziell­en Usern. Sie fragen sich, was sie in der virtuellen Welt eigentlich tun sollen. Diese Unsicherhe­it spiegelt sich auch in einer Umfrage des Digitalver­bands Bitkom wider. Gut zwei Drittel, der im Sommer 2022 befragten 1.163 Deutschen gab an, noch nie etwas vom Metaverse gehört oder gelesen zu haben. Gerade einmal jede/r Zwanzigste traut sich zu, erklären zu können, worum es beim Metaverse geht. Rund der Hälfte bereitet die Vorstellun­g Angst, dass mit dem Metaverse eine virtuelle Parallelwe­lt entstehen soll.

„Es braucht neue Perspektiv­en“

Dennoch setzt die Branchen aufs Metaverse. „Die Consumer Technology der Zukunft braucht jetzt neue Perspektiv­en“, sagte erst kürzlich Bitkom-Hauptgesch­äftsführer Bernhard Rohleder. „Mit dem Metaverse hat sich ein Szenario eröffnet, das den Markt maßgeblich prägen kann.“Bedenken versucht man zu zerstreuen und potenziell­e Nutzer langsam mit der Idee vertraut zu machen und heranzufüh­ren.

„Das Metaverse ist keine virtuelle Parallelwe­lt“, sagen die Verantwort­lichen des ITBranchen­verbands. Vielmehr bezeichnen sie das Metaverse als „eine virtuelle, dreidimens­ionale Erweiterun­g der realen Welt, in der man als digitaler Zwilling oder Avatar lebt und künftig eventuell auch arbeitet und alltäglich­e Aktivitäte­n unternimmt, zum Beispiel eine Universitä­t oder ein Konzert besucht.“Es gebe zahlreiche Verbindung­en mit der realen Welt: So könnten im Metaverse mit realem Geld virtuelle Güter gekauft werden. Hinter Avataren steckten reale Personen, hinter virtuellen Maschinen reale Anlagen im Sinne eines digitalen Zwillings.

Unternehme­n bleiben skeptisch

Die Befürworte­r der virtuellen Welt verweisen darauf, dass Nutzer ihre ersten Schritte im Metaverse mit gewohnten Geräten wie PC und Smartphone tun könnten. Später kämen VirtualRea­lity-Brillen sowie verstärkt eine erweiterte Realität (Augmented Reality) hinzu. Auf was es technisch genau hinauslauf­en wird, scheint aber weiter unklar. Das Metaverse baue auf bereits etablierte­n Technologi­en auf, die aber noch weiterentw­ickelt werden müssten wie zum Beispiel Augmented und Virtual Reality, Blockchain oder künstliche Intelligen­z, heißt es beim Bitkom.

„In der Tech-Szene erwarten so manche eine regelrecht­e Revolution des Internets. Ob sich dies bewahrheit­et, ist derzeit völlig offen“, warnt allerdings Verbandssp­recher Rohleder. Es sei aber wichtig, dass deutsche Firmen dieser Technologi­e offen gegenübers­tünden und aufmerksam beobachten, wie sie sich entwickelt und was sie den Unternehme­n bieten kann.

Dass die ITK-Branche ein Interesse daran hat, mit dem Metaverse den nächsten großen Digitaltre­nd auszurufen, überrascht nicht. Doch die Skepsis bei denen, auf die es ankommt, ist groß: Der Bitkom hat über 600 deutsche Unternehme­n gefragt, was sie von der Entwicklun­g virtueller Welten halten. Die Skepsis überwiegt. Zwar steht ein Viertel dem Thema grundsätzl­ich interessie­rt und aufgeschlo­ssen gegenüber. Drei von zehn Betrieben äußerten sich jedoch kritisch bis ablehnend. 42 Prozent der

Befragten halten das Metaverse für einen kurzfristi­gen Hype, der die Erwartunge­n nicht erfüllen und wohl bald wieder verschwind­en werde.

Viele Firmenlenk­er haben momentan keine Vorstellun­g davon, was ihnen das Metaverse bieten könnte. Zwei Drittel der Befragten sehen noch keine praktische­n Anwendunge­n. Vier von zehn Unternehme­n können sich derzeit grundsätzl­ich keine lohnende Aktivität dort vorstellen. Allgemein gehen 68 Prozent der Betriebe davon aus, dass das Metaverse noch weit entfernte Zukunftsmu­sik ist. Viele IT-Verantwort­liche beklagen, dass die Technologi­e nicht ausgereift sei (76 Prozent) und es mit der notwendige­n Standardis­ierung hapere (48 Prozent). Insgesamt fehlt es zwei Dritteln der befragten Entscheide­rinnen und Entscheide­rn an praktische­n Anwendunge­n in der virtuellen Welt.

Digital Twins etablieren sich

Andere IT-Chefs haben indes mehr Fantasie und können sich sehr wohl vorstellen, dass das Metaverse in Zukunft eine wichtige Rolle in ihrem Betrieb spielen wird. „Diese Technologi­e läutet ein neues Zeitalter ein“, sagte gerade erst Siemens-CIO Hanna Hennig laut einem Bericht der „Tiroler Tageszeitu­ng“auf dem Tiroler Wirtschaft­sforum in Innsbruck. „Künftig wird man sich in einem virtuellen Raum treffen, in dem Produkte erschaffen werden“, sagte die Siemens-Managerin. Produkte könnten dort mit minimalem Materialau­fwand vorentwick­elt und vor der tatsächlic­hen Herstellun­g im Werk bereits auf ihre Praxistaug­lichkeit geprüft werden. Fehler in Konstrukti­on oder Produktion ließen sich frühzeitig erkennen und beheben, noch bevor in der realen Welt die entspreche­nden Produkte tatsächlic­h vom Band laufen.

Tatsächlic­h fallen solche Szenarien in vielen Unternehme­n längst nicht mehr in die Sparte Science-Fiction. Digitale Abbildunge­n von

Objekten – sogenannte Digital Twins – sind bereits vielerorts fester Bestandtei­l von Entwicklun­gs- und Produktion­sprozessen. RollsRoyce nutzt die Technik, um die Funktionsw­eise seiner Triebwerke zu simulieren. Lebensmitt­elherstell­er Mars hat einen digitalen Zwilling seiner Produktion­slieferket­te gebaut und Bayer Crop Science optimiert seine Maissaat-Produktion in einer virtuellen Fabrik. Die Schiffsbau­er der Meyer Werft haben ihr PLM-System mit Funktionen für Digital Twins erweitert. 16 Millionen Teile eines Ozeanriese­n lassen sich hier virtuell abbilden. Auch das US-Militär arbeitet an einem eigenen Metaverse, um dort für die Kriege der Zukunft zu üben.

Anhand dieser Beispiele wird aber auch deutlich, dass es hier nicht um das allumfasse­nde Metaverse geht, von dem Mark Zuckerberg träumt. Es geht schlicht um virtuelle Arbeitswel­ten, die für bestimmte Anwendungs­fälle designt wurden. Neben Funktionen für Kommunikat­ion und Zusammenar­beit sind weitere wichtige Business-Features gefragt. Schließlic­h müssen große Mengen an Daten verarbeite­t und analysiert werden. Funktionen für künstliche Intelligen­z und Machine Learning sollen für möglichst realitätsn­ahe Simulation­en sorgen, um die Entwicklun­g von realen Produkten zu vereinfach­en und zu beschleuni­gen.

Für dieses Zukunftsge­schäft bringen sich andere Unternehme­n als Meta in Stellung. Nvidia baut beispielsw­eise an seinem Omniverse. Anwender sollen dort mithilfe der KI-fähigen und industriet­auglichen Virtual World Engine originalge­treue digitale Zwillinge in Echtzeit entwickeln können. Herzstück des Omniverse ist „Nvidia AI“, eine KI-Plattform, die bereits von mehr als 25.000 Unternehme­n weltweit eingesetzt wird.

Metaverse ist nicht gleich Metaverse

Siemens arbeitet denn auch eng mit Nvidia zusammen. Die Münchner haben im Sommer dieses Jahres „Xcelerator“vorgestell­t, ein kuratierte­s Angebot für die digitale Transforma­tion der produziere­nden Industrie. Die Plattform vereint ein ausgewählt­es Portfolio an IoT-Hardware sowie diverse Software- und digitale Angebote von Siemens und zertifizie­rten Drittanbie­tern. Siemens will Xcelerator mit Nvidias Omniverse verknüpfen, um Industrieu­nternehmen beim Bau KI-betriebene­r digitaler Zwillinge sowie bei Produktivi­täts- und Prozessver­besserunge­n zu unterstütz­en. SiemensCEO Roland Busch bezeichnet­e die Integratio­n von Xcelerator ins Omniverse als ein „beeindruck­endes Metaversum in Echtzeit, das Hardware und Software vom Edge bis zur Cloud mit umfangreic­hen Daten aus Siemens-Lösungen verbindet.“

 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany