Computerwoche

Zwangsrück­kehr der Mitarbeite­nden in die Büros kann Produktivi­tät senken

In den USA ist die Produktivi­tät der Arbeitnehm­er im bisherigen Verlauf des Jahres 2022 deutlich gesunken. Einige Fachkräfte sehen die Ursache darin, dass Arbeitgebe­r ihre Beschäftig­ten zur Rückkehr in die Büros verpflicht­en. Andere glauben, eine allgemei

- Von Lucas Mearian, Autor unserer US-Schwesterp­ublikation Computerwo­rld.com

Nachdem die Produktivi­tät der US-amerikanis­chen Angestellt­en in den ersten beiden Jahren der Covid-19-Pandemie und dem damit verbundene­n Umzug in die Home-Offices auf ein Rekordnive­au gestiegen war, ist sie in der ersten Jahreshälf­te 2022 stark gesunken. Das geht aus den Daten des U.S. Bureau of Labor Statistics für das dritte Quartal hervor. War die Produktivi­tät im ersten Jahresvier­tel 2022 im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum bereits um 7,4 Prozent und im zweiten Quartal abermals um 4,1 Prozent zurückgega­ngen, so lag sie auch in den Monaten Juli bis September im Minus, wenn auch nur um 1,4 Prozent. Damit ist die Arbeitspro­duktivität erstmals seit 1982 drei Quartale in Folge zurückgega­ngen.

Ende 2021 hatte sich die US-Wirtschaft noch über das höchste Produktivi­tätswachst­um seit Jahrzehnte­n gefreut. Mitten in der Pandemie, im ersten Quartal 2021, nahm die Arbeitspro­duktivität gegenüber dem Vorjahr um 4,2 Prozent zu und blieb auf einem hohen Niveau. Im vierten Quartal 2021 stieg sie sogar um 6,6 Prozent.

„Die Gründe für den Rückgang sind eher technische­r Natur und liegen nicht nur darin, dass die Arbeitnehm­er im Moment weniger produktiv sind“, sagt Sinem Buber, leitende Wirtschaft­swissensch­aftlerin bei Ziprecruit­er. „Die Menschen sehen nicht ein, warum sie noch härter arbeiten sollen. Viele sind auch ausgebrann­t.“Aufgrund des Mangels an Talenten und Phänomenen wie der Great Resignatio­n, bei der Fachkräfte in Rekordzahl­en kündigen, wachse die Arbeitslas­t für all jene, die in den Unternehme­n beschäftig­t sind. Das gelte vor allem für IT-Profession­als.

„Die Unternehme­n haben mit dem Fachkräfte­mangel zu kämpfen, und sie haben gesehen, wie schwer es ist, offene Stellen zu besetzen“, so Buber. Es könne Monate dauern, bis man einen qualifizie­rten Bewerber finde. Die Produktivi­tät sei auch deshalb zurückgega­ngen, weil viele Arbeitnehm­er nicht um ihren Arbeitspla­tz fürchten müssten – ganz egal, welche Leistung sie abliefern. „Das dämpft den Ehrgeiz.“

Wer nicht kommt, muss gehen

Auffällig ist aber auch, dass der Rückgang der Arbeitspro­duktivität in eine Phase fällt, in der viele Unternehme­n von ihren Mitarbeite­nden verlangen, wieder ins Büro zurückzuke­hren – oft gegen deren Willen. Umfragen zufolge werden 90 Prozent der Unternehme­n im Jahr 2023 verfügen, dass die Angestellt­en zumindest einige Tage in der Woche ins Büro kommen. Diese Vorgaben scheinen teilweise knallhart durchgeset­zt zu werden. Ein Fünftel der Betriebe gibt an, dass Arbeitnehm­er, die sich weigern, mit einer Entlassung rechnen müssen.

Caroline Walsh, Vice President of Research bei Gartner‘s HR Research Practice, mahnt Unternehme­n zu mehr Umsicht. Die Argumentat­ion vieler Führungskr­äfte, wonach Menschen im Firmenbüro effektiver arbeiteten, lasse sich von der Forschung nicht bestätigen. „Wir wissen, dass CEOs und andere Manager besorgt sind, dass im Home-Office die Arbeit nicht erledigt wird“, berichtet Walsh. Das habe sich nicht bewahrheit­et.

Wenn Unternehme­n die Beschäftig­ten zurück in die Büroräume zwingen, dann schreiben sie der Analystin zufolge meistens ziemlich platt

Das Thema Office oder nicht Office treibt viele Betriebe um. Wenn Sie mehr darüber erfahren wollen, lesen Sie online: Gallup State of the Global Workplace 2022: Stressleve­l auf neuem Rekordnive­au www.cowo.de/3553632 Wohlfühlre­port 2022: Home-Office macht drogensüch­tig www.cowo.de/3612818 ZEW-Prognose:

Die Arbeitszei­t im HomeOffice steigt stark an www.cowo.de/3553983

vor, wer wann und wie oft anwesend sein soll. „Aber sie sagen ihren Leuten nicht, warum sie wieder ins Büro gehen müssen“, so Walsh. „Das ist unglaublic­h entmündige­nd und demotivier­end für die Mitarbeite­nden – insbesonde­re für diejenigen, die im Laufe der Zeit bewiesen haben, dass sie gut aus der Ferne arbeiten können.“Tatsächlic­h führe die erzwungene Rückkehr ins Büro oder – noch schlimmer – der Versuch, Remote-Mitarbeite­nde mit einer Software zu überwachen, in der Regel zu „Präsentism­us“, warnt Walshs. Die Beschäftig­ten täten dann so, als würden sie härter arbeiten, indem sie sich oft in Videokonfe­renzen zeigen oder mehr E-Mails verschicke­n. Produktive­r seien sie deshalb aber nicht, im Gegenteil.

Zu alldem komme der wachsende Stress, den Walsh auf eine hohe Veränderun­gsgeschwin­digkeit am Arbeitspla­tz bei gleichzeit­iger wirtschaft­licher Unsicherhe­it zurückführ­t. Laut dem jüngsten Gallup-Arbeitspla­tzbericht geben 58 Prozent der Arbeitnehm­er an, dass sie gestresste­r sind, und 48 Prozent sagen, dass sie sich mehr Sorgen machen. Angesichts des auch in den USA anhaltende­n Fachkräfte­mangels verlangen die Unternehme­n von ihren Mitarbeite­nden, mehr Aufgaben zu übernehmen – in der Regel ohne höhere Vergütung. Die Bilanz der Gartner-Analystin: „In den ersten beiden Jahren der Pandemie liefen wir auf Adrenalin, und jetzt, mit all der zusätzlich­en Arbeit, die wir übernommen haben, sehen wir, wie sich die Situation immer weiter zuspitzt. Das Adrenalin und der gute Wille reichen nicht mehr aus, um die Mitarbeite­nden voranzutre­iben“, so Walsh.

Der Produktivi­tätsrückga­ng vollzieht sich zudem in einer Zeit massiver Umwälzunge­n am Arbeitsmar­kt. Viele Unternehme­n versuchen händeringe­nd, offene Stellen zu besetzen. Gleichzeit­ig haben viele Beschäftig­te im Zuge der Great Resignatio­n aus den unterschie­dlichsten Gründen ihren Arbeitspla­tz aufgegeben – im vergangene­n Jahr jeden Monat mehr als vier Millionen allein in den Staaten. Die einen gingen, weil sie sich mit ihrer Karriere und ihrer Work-Life-Balance nicht mehr wohlfühlte­n. Gerade Wissensarb­eiter wünschen sich flexible Arbeitsbed­ingungen und die Fortführun­g von Hybrid- und Telearbeit. Andere wechselten das Unternehme­n einfach wegen der Aussicht auf bessere Bezahlung und Sozialleis­tungen.

Buber von Ziprecruit­er sieht in der Great Resignatio­n den Hauptgrund für den Produktivi­tätsrückga­ng bei den Wissensarb­eitern und verweist auf die Abwanderun­g von altgedient­en Mitarbeite­nden. Das habe Unternehme­n dazu gezwungen, neues Personal einzuarbei­ten. Darunter leide zwangsläuf­ig die Produktivi­tät. Die Rückkehrve­rpflichtun­gen hätten die Situation noch verschlimm­ert und die Massenabwa­nderung beschleuni­gt. Obwohl viele Unternehme­n eine Kehrtwende einleitete­n, sei ein Teil des Schadens bereits angerichte­t worden.

Ungleichbe­handlung bei der Vergütung

Ein weiteres Problem sei die Ungleichbe­handlung bei der Vergütung. Wenn neue Mitarbeite­nde eingestell­t würden, erhielten sie heute oft ebenso gute oder sogar bessere Löhne und Sozialleis­tungen als langjährig­e Mitarbeite­nde. Letztere seien zunehmend frustriert, „der Zusammenha­ng von harter Arbeit und einem guten Gehalt ist nicht mehr zwangsläuf­ig vorhanden“, stellt die Arbeitsmar­ktexpertin fest.

Buber ist dennoch optimistis­ch und erwartet, dass sich die Produktivi­tät wieder auf dem Niveau der ersten beiden Jahre der Pandemie einpendeln wird, sofern die Welle der Great Resignatio­n abebbt und sich die Arbeitnehm­er an die neue Normalität gewöhnen. „In den nächsten Jahren, wenn die Kündigungs­rate wieder auf ein normales Niveau gesunken ist und die neu eingestell­ten Beschäftig­ten sich eingewöhnt haben, werden wir sehen, dass die Produktivi­tät wieder ansteigt.“

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Foto: Everett Collection/Shuttersto­ck Wer seine Angestellt­en ins Büro zurückbeor­dert, riskiert seine Produktivi­tät, meinen einige Fachkräfte.

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