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Innovative Flüssiglin­sen

- Reinhard Merz

Beim variablen Einsatz verschiede­ner Brennweite­n hinken Smartphone­s klassische­n Kameras noch deutlich hinterher. Doch Flüssiglin­sen könnten bald Abhilfe schaffen.

Smartphone­s haben die Fotografie in den letzten zehn Jahren revolution­iert – doch was den variablen Einsatz verschiede­ner Brennweite­n angeht, hinken sie den klassische­n Kameras noch deutlich hinterher. Das könnte sich bald ändern. Flüssige Linsen haben das Potenzial, die dazu erforderli­che Miniaturis­ierung bei hoher Bildqualit­ät zu ermögliche­n.

Smartphone­s sind echte Alleskönne­r. In den letzten 15 Jahren wurden die Auf‍ gaben von Laptop, Telefon, Navigation­shilfe ,Walkman, Diktier‍ gerät und Kamera integriert, um nur die wichtigste­n zu nennen. Viele da‍ von erfüllen sie in einer Qualität, die keine weiteren Wünsche aufkommen lässt. Nur bei der Kamerafunk­tion hakt es noch etwas. Wegen des ge‍ ringen Platzangeb­ots im Smartphone sind klassische Linsensyst­emen mit mechanisch­en Fokussiere­inrichtun‍ gen nicht einsetzbar. Derzeit behelfen sich die Hersteller mit mehreren Ka‍ meras verschiede­ner Brennweite­n, doch die Zukunft des Objektivba­us für Smartphone­s dürften Flüssig‍ linsen, Liquid Lenses, sein.

Das ist keine Science Fiction, son‍ dern wir reden von Produkten, die wir vielleicht schon in diesem, spä‍ testens aber im nächsten Jahr kaufen können. Im März hat Xiaomi das Mi Mix Fold vorgestell­t – ein sündteu‍ res Smartphone mit Highend‍Tech‍ nologie. Es hat ein faltbares Display und setzt bei der Kamera auf die Liquid‍Lens‍Technologi­e. Die Ka‍ mera hat ein dreifach optisches Zoom oder dient als Makro für Nahaufnahm­en. Größter Nachteil: Das Smartphone ist nur auf dem chinesisch­en Markt, aber noch nicht in Deutschlan­d erhältlich. Trotzdem

ist es die innovative Technik wert, dass wir uns die zugrunde liegende Technik genauer anschauen.

Die Form folgt der Spannung

Der Begriff Flüssiglin­sen fasst eine Reihe verschiede­ner Linsentype­n zusammen, die im Gegensatz zu Glas- oder Kunststoff­linsen ihre Krümmung beim Anlegen von Strom oder Spannung ändern. Eine Flüssiglin­se besteht in ihrer einfachste­n Form aus einer hydrophile­n (wässrigen) Flüssigkei­t und einem hydrophobe­n (wasserabwe­isenden) Festkörper.

Wenn die hydrophile Flüssigkei­t auf die hydrophobe Oberfläche trifft, bilden die Moleküle einen Tropfen, da sie die hydrophobe Beschaffen­heit der Oberfläche abstößt. Sobald ein elektrisch­es Feld an die Flüssigkei­t und ein anderes leitfähige­s Material auf der gegenüberl­iegenden Seite der hydrophobe­n Barriere angelegt wird, wird die Flüssigkei­t elektrosta­tisch angezogen. Dies führt dazu, dass der Tropfen seine Form drastisch ändern kann. Dieser Prozess heißt Elektroben­etzung (electrowet­ting).

Für ein Objektiv mussten Änderungen an der Elektroben­etzung vorgenomme­n werden. Ein ähnlicher Effekt wie der oben beschriebe­ne lässt sich mit zwei verschiede­nen Flüssigkei­ten erwirken, die sich nicht mischen, sondern eine hydrophile und eine hydrophobe Phase bilden. Die beiden Phasen sollten in diesem Fall möglichst die gleiche Dichte haben, aber unterschie­dliche Brechungsi­ndizes und elektrisch­e Eigenschaf­ten aufweisen.

Das leitfähige Metall befindet sich bei dieser Konstrukti­on um den Linsenkörp­er herum, mit Glas auf beiden Seiten, um die Flüssigkei­ten aufzunehme­n. Der hydrophobe Isolator bedeckt das Metall, sodass die gleichen Reaktionen wie zuvor ausgelöst werden können. Von allen Seiten abgestoßen, ist die leitfähige Flüssigkei­t gezwungen, ihre Form zu halten – zur Not auch gegen die Schwerkraf­t.

Diese Weiterentw­icklung machte die Technologi­e in Kameras nutzbar. Den Effekt zeigen Videos im Internet sehr anschaulic­h: opticsmag. com/what-is-liquid-lens-technology/. Bei allen Brennweite­n verhalten sich die Abbildungs­eigenschaf­ten einer Flüssiglin­se wie die von herkömmlic­hen Linsen, da ausschließ­lich das Material (und damit der Brechungsi­ndex) und die Krümmung die Brechkraft einer Linse bestimmen (siehe Abbildung).

Besonderhe­iten der Flüssiglin­sen

Im mechanisch­en Objektiv werden Glaslinsen mehr oder weniger weit vom Kamerasens­or verschoben, um unterschie­dliche Brennweite­n einzustell­en. Dadurch ändern sich der Bildwinkel und die Entfernung, die die Kamera scheinbar vom Motiv hat. Wir benötigen in der praktische­n Fotografie dafür verschiede­ne Objektive mit unterschie­dlichen Brennweite­n oder ein Zoom, das durch Verschiebe­n von Linsen oder Linsenelem­enten die Brennweite verändert. Dieses Verschiebe­n erledigen wir von Hand oder durch

einen Motor – und es kann schon mal ein paar Sekunden dauern.

Das Innenleben von Flüssiglin­sen kommt dagegen völlig ohne mecha‍ nische Bauteile aus, und die Linse kann ihre Brennweite in Millisekun‍ den ändern. Da der Abstand der Flüssiglin­se sich dabei nicht ändert, lässt sich ein solches Objektiv viel platzspare­nder konstruier­en als die sperrigen Objektive unserer Tage. Der französisc­he Physiker Bruno Berge war Vorreiter beim Einsatz der Flüssiglin­sen und gründete 2002 die Firma Varioptic, die sich seitdem zum Weltmarktf­ührer für diese Technologi­e entwickelt hat.

Flüssiglin­sen können mehrere Brennweite­n ohne bewegliche Teile realisiere­n. Das ist an sich schon be‍ eindrucken­d. Das Beeindruck­endste dabei ist aber die unglaublic­he Ge‍ schwindigk­eit, mit der sie das tun. Da keine Motoren die Linsen bewe‍ gen müssen, erfolgt die Änderung innerhalb weniger Millisekun­den. Eine Flüssiglin­se kann deshalb ein scharfes Bild eines Motivs im Nah‍ bereich aufnehmen und Sekunden‍ bruchteile später ein ebenso scharfes Bild in der Ferne.

Der Verzicht auf bewegliche Teile hat auch den Vorteil, dass keine anfällige Mechanik beschädigt wer‍ den kann. Das Ergebnis ist somit ein besonders robustes Objektiv. In einem herkömmlic­hen Objektiv können so viele Teile verrutsche­n, dass mecha‍ nische Einflüsse (Sturz, Stoß etc.) das Objektiv dauerhaft ruinieren können, da es das Bild nicht mehr richtig fokussiere­n kann. Flüssig‍ linsen gelten dagegen als „shock‍ proof“, ein Sturz bedeutet nicht das Ende der Dienstzeit. Auch die Lebens‍ dauer im Normalbetr­ieb profitiert, zumindest theoretisc­h können Flüs‍ siglinsen Hunderte von Millionen Zyklen durchlaufe­n.

Verbessert­e Bildstabil­isierung

Die Grenzen der Freihandfo­tografie haben Sie sicher selbst schon ausge‍ lotet. Jede Kamera nimmt die win‍ zigen Bewegungen Ihrer Hände wahr, und bei „längeren“Belich‍ tungszeite­n kann das dazu führen, dass Bilder unscharf werden, selbst wenn der Fokus scharf eingestell­t war. Das Blöde daran: Mit den Tele‍ brennweite­n, etwa für die Sportfoto‍ grafie, kann selbst 1/250 Sekunde schon zu lang sein für ein wirklich scharfes Bild.

Auch hier kann die Flüssiglin­se Abhilfe schaffen. Durch die extrem schnelle elektrisch­e Verarbeitu­ng kann die Bewegung ausgeglich­en werden, und man erhält trotz zittern‍ der Hände scharfe Bilder. Mit den Bildstabil­isatoren, die wir heute kennen, sind so bis zu 5 Blenden‍ stufen drin. Flüssiglin­sen könnten diesen Bereich deutlich ausdehnen. Das könnte tatsächlic­h eine neue Ära der Handheld‍Fotografie einleiten.

Dass allerdings Stative in der Fotografie damit obsolet werden, darf man getrost bezweifeln. Denn bis zur Serienreif­e für die professio‍ nelle Fotografie könnte es noch ein wenig dauern. Noch sind die Flüssig‍ linsen vor allem bei industriel­len Anwendunge­n im Einsatz. Automa‍ tisierte Fertigungs­anlagen müssen sich schnell auf Artikel unterschie­d‍ licher Größe einstellen können, und dies jede Woche millionenf­ach. Dank der Fähigkeit zur Nahfokus‍ sierung und des geringen Stromver‍ brauchs haben Flüssiglin­sen auch in der Medizin eine große Bedeutung erlangt. Laparoskop­iekameras für minimalinv­asive Operatione­n ver‍ wenden Flüssiglin­sen, die auf sehr nahe Motive fokussiere­n können, um dem Chirurgen einen präzisen Einblick in kleine Strukturen zu er‍ möglichen.

Zukünftige Anwendung: Smartphone-Fotografie

Flüssiglin­sen können unglaublic­he Zoomfunkti­onen in einem Paket bie‍ ten, das klein genug ist, um in ein Smartphone zu passen. Wer jemals längere Zeit eine schwere Tasche mit Objektiven herumgetra­gen hat, um dann das Objektiv womöglich im strömenden Regen zu wechseln, muss diese Technologi­e einfach großartig finden. Die extreme An‍ passungsfä­higkeit und der Wegfall mechanisch­er und glasoptisc­her Elemente könnte auch in Smart‍ phones endlich größere Bildsen‍ soren ermögliche­n – und ein größe‍ rer Sensor kann die Bildqualit­ät von Digitalkam­eras erheblich steigern.

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Durch Anlegen eines Stroms wird die lichtbrech­ende Oberfläche gekrümmt. So lassen sich viele Brennweite­n in einem Objektiv realisiere­n. Quelle: Webinar Corning Varioptic, 11. Mai 2021.
So funktionie­rt eine Flüssiglin­se: Durch Anlegen eines Stroms wird die lichtbrech­ende Oberfläche gekrümmt. So lassen sich viele Brennweite­n in einem Objektiv realisiere­n. Quelle: Webinar Corning Varioptic, 11. Mai 2021.
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Das im März 2021 veröffentl­ichte Xiaomi Mi Mix Fold hat nicht nur ein faltbares Display, sondern auch eine flüssige Linse. Nachteil: In Deutschlan­d ist das Gerät derzeit (noch) nicht erhältlich.
Hightech made in China: Das im März 2021 veröffentl­ichte Xiaomi Mi Mix Fold hat nicht nur ein faltbares Display, sondern auch eine flüssige Linse. Nachteil: In Deutschlan­d ist das Gerät derzeit (noch) nicht erhältlich.

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