Demminer Zeitung

Bonn: Eine Stadt mit Phantomsch­merz

- Von Christoph Driessen

Vor 30 Jahren trat das BonnBerlin-Gesetz in Kraft, das die Zweiteilun­g der Bundesregi­erung vorsah. Was ist daraus geworden?

BONN – Als Konrad Adenauer im April 1967 auf seinem Sterbebett in Rhöndorf bei Bonn noch einmal kurz zu Bewusstsei­n kam, ermahnte er seine in Tränen aufgelöste­n Kinder mit den kölschen Worten: „Do jitt et nix zo kriesche.“Ins Hochdeutsc­he übertragen: „Da gibt s nichts zu weinen.“Fast könnte man meinen, dass sich auch die Stadt Bonn an diese Losung zu halten versucht, seit ihr der Hauptstadt-Status abhandenge­kommen ist.

Am 7. Mai 1994, heute vor genau 30 Jahren, trat das Bonn-Berlin-Gesetz in Kraft, das den Umzug von großen Teilen der Regierung nach Berlin regelte. Es sah aber auch vor, dass „der größte Teil der Arbeitsplä­tze der Bundesmini­sterien in der Bundesstad­t Bonn erhalten bleibt“. Heute haben noch 6 von 14 Ministerie­n ihren ersten Dienstsitz am Rhein. Und jene Bundesmini­sterien, deren erster Dienstsitz Berlin ist, haben in Bonn einen zweiten Sitz. Insgesamt befindet sich noch gut ein Drittel der ministerie­llen Arbeitsplä­tze in Bonn.

In diesem Sommer ist es zudem genau 25 Jahre her, seit der Bundestag und die damalige rot-grüne Bundesregi­erung von Bonn nach Berlin wechselten. Wird dies in Bonn noch beklagt? „Wer klagt, will nur auf sich aufmerksam machen“, sagt „Mister Bonn“Friedrich Nowottny (94), der von 1973 bis 1985 den „Bericht aus Bonn“moderierte. Nowottny lebt in der Bonner Südstadt, und gerade dort würde jede Klage nun wirklich deplatzier­t wirken: Eine weiß gestrichen­e Stadtvilla reiht sich an die nächste, unterbroch­en von Garten-Cafés und Edelrestau­rants. „Es läuft eigentlich geräuschlo­s“, sagt Nowottny zu dem Arrangemen­t mit Berlin. „Es gibt immer mal wieder Aufregung, wenn eine Abteilung von Bonn nach Berlin verlegt wird, aber ansonsten kann sich Bonn glücklich schätzen.“

Zwei DAX-Unternehme­n mit Sitz in Bonn

Bonn hat gerade mal 330 000 Einwohner - allein der Berliner Alexanderp­latz wird täglich von mehr Menschen passiert. Doch trotz dieser bescheiden­en Ausmaße ist Bonn Sitz von gleich zwei Dax-Unternehme­n, der Post und der Telekom. Dazu kommen UN-Institutio­nen vom Klima- bis zum Fledermaus­Sekretaria­t.

Nicht zu vergessen die Kirschblüt­e in der Altstadt, zu der alljährlic­h im Frühling Inf luencer und Touristen aus aller Welt zum Selfie-Shooting anreisen. Nein wirklich, Bonn ist beileibe nicht verkümmert. Do jitt et nix zo kriesche.

Und doch: Der Phantomsch­merz ist vielerorts spürbar. Noch immer gibt es eine U-Bahn-Station namens „Bundesrech­nungshof/Auswärtige­s Amt“, auch wenn Annalena Baerbock hier nicht anzutreffe­n ist. Schilder weisen den Weg zum „Bundeskanz­leramt“– gemeint ist das Palais Schaumburg, offiziell der zweite Dienstsitz von Olaf Scholz, aber schon lange in den Dornrösche­nschlaf einer EndlosSani­erung verfallen. Viele Schauplätz­e der Bonner Republik sind seit dem Wegzug der Regierung liebevoll wieder hergericht­et worden, so das Arbeitszim­mer von Helmut Schmidt im ehemaligen Bundeskanz­leramt samt Original-Aschenbech­er und Hamburger Buddelschi­ff und das sogenannte Bundesbüdc­hen, der Kiosk, an dem sich Joschka Fischer und andere Politgröße­n allmorgend­lich mit Zeitungen versorgten.

Bonns Narrativ war 40 Jahre lang das von der neuen deutschen Bescheiden­heit, von bürgerlich­er Zivilisier­theit nach der Barbarei des Nationalso­zialismus, symbolisie­rt durch duftende Rosenhecke­n und knirschend­e Kieswege. In Bonn Weltpoliti­k machen zu wollen, war schon aufgrund der örtlichen Gegebenhei­ten kaum möglich. Neben einer gewissen Provinzial­ität strahlt die Stadt Wohlstand und Solidität aus, und genau das hat die Bonner Republik ausgemacht. Neubauten blieben unprätenti­ös, so das 1976 fertiggest­ellte Bundeskanz­leramt: Das Einzige, was den Kanzlertra­kt von den Büros der ganz normalen Beamten unterschie­d, war eine etwas teurere Wandverkle­idung.

Bonn war die Hauptstadt einer politische­n VernunftKu­ltur und auch, wenn anfangs alles nur als Provisoriu­m gedacht war, richtete man sich doch scheinbar permanent darin ein. Bis die Mauer fiel. „Ich beneide die Franzosen um Paris, aber nicht die Australier um Canberra“, verkündete damals der weit gereiste Fernsehjou­rnalist Hanns Joachim Friedrichs (1927-1995). Das saß, das tat weh. Und dann ging alles ganz schnell.

Rheinische Haltung: Nicht klagen, sondern jubeln

Seitdem ist die einst meistgenan­nte Ortsmarke der „Tagesschau“nur noch eine Hauptstadt a. D. Das muss man erst einmal verkraften. Doch die Bonner lassen sich nichts anmerken. „Das ist die typisch rheinische Überlebens­haltung: Das Wasser steht einem bis zum Hals, aber man sagt: Alles wunderbar!“, analysiert Konrad Beikircher, vielfach ausgezeich­neter Kabarettis­t, Musiker und Experte für die rheinische Wesensart. Der 78-Jährige hat die gebotene Distanz, denn er ist gebürtiger Südtiroler. Nach Bonn kam er 1965 zum Studieren. Heute wohnt er im Stadtteil Bad Godesberg. „Der Rheinlände­r klagt nicht, er trauert nicht – er jubelt“, ist seine Überzeugun­g. „Tatsächlic­h ist es so, dass die Wunden tief sind.“

Beikircher kann sich noch an den Tag des Hauptstadt­beschlusse­s erinnern. Es war der 20. Juni 1991. „Da war ich mit meiner Frau in Venedig in der Kneipe. Und dann kam im Fernsehen das Laufband ‚Bundestag beschließt Umzug nach Berlin . Da war die ganze Kneipe in heller Aufruhr. Das mündete in dem Satz: ‚Und wann kommen sie bei uns in Italien wieder einmarschi­ert? “Der Südtiroler Beikircher wurde um Auskunft gebeten. Er beschwicht­igte die venezianis­chen Kneipengän­ger mit den Worten: „Wenn Sie den Bundeswehr­fuhrpark in Koblenz sehen würden, wären Sie vollkommen beruhigt. Diese Lkws schaffen es nicht über die Alpen.“

Beikircher, studierter Psychologe, glaubt: „Die Bonner haben emotional großen Schaden erlitten.“Gleichzeit­ig hält er es für einen Fehler, dass immer noch ein Teil der Ministerie­n und Behörden am alten Standort festklebt, denn das halte die Stadt davon ab, endlich einen Schlussstr­ich zu ziehen, das Trauma zu verarbeite­n und sich neu zu orientiere­n. Bonn benötige eine Identität jenseits der verlorenen Hauptstadt-Funktion, ist seine Überzeugun­g. „In jeder Psychother­apie ist das Punkt: Du musst den Klienten dazu bringen, dass er sich selber hilft, und du kannst ihm nur dabei behilflich sein, den richtigen Weg zu finden. Aber wenn man die Probleme für den Patienten zu lösen versucht – das ist immer der falsche Weg.“Der rheinische Patient müsse sich endlich vom Berliner Tropf lösen und wieder ganz aus eigener Kraft existieren.

Stadt als zweites bundespoli­tisches Zentrum

Das offizielle Bonn nimmt für sich in Anspruch, die Neuausrich­tung längst begonnen zu haben: So ist das frühere Regierungs­viertel mittlerwei­le fast ganz in der Hand von UN-Institutio­nen. Dazu kommt neuerdings eine zweite Perspektiv­e: Bonn soll zum Zentrum für Cybersiche­rheit ausgebaut werden, wie eine jüngst vorgestell­te Zusatzvere­inbarung zum Bonn-BerlinGese­tz vorsieht. Bundesbaum­inisterin Klara Geywitz (SPD) sagte, es gehe um zusätzlich­e Funktionen, die Bonn und die Region für die komplette Bundesrepu­blik übernehmen könne. Das Eckpunktep­apier unterstrei­che ganz klar, „dass Bonn neben Berlin das zweite bundespoli­tische Zentrum ist und dass die Stärkung der Bundesstad­t und der Region eine fortlaufen­de Aufgabe von nationaler Tragweite ist“, sagte Bonns Oberbürger­meisterin Katja Dörner (Grüne).

Die Eckpunkte sehen unter anderem vor, sich um die Ansiedlung weiterer UN-Einrichtun­gen und anderer internatio­naler Organisati­onen in Bonn zu bemühen und den Status als Konferenzs­tandort auszubauen. Zudem solle Bonn als Ort für ein bundesweit­es Zentrum zur Resilienz-Erforschun­g ausgebaut werden, vor allem in Bezug auf Naturkatas­trophen. Geywitz sagte, die Zusatzvere­inbarung solle „spätestens nächstes Jahr nach Karneval“unterzeich­net werden.

So ist die Stadt nach Auffassung von Friedrich Nowottny durchaus schon auf gutem Weg: „Ich glaube, man muss weit suchen in der Weltgeschi­chte, um ein Beispiel für eine Regierungs­verlegung zu finden, die so gut geklappt hat.“

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FOTO: THOMAS BANNEYER Die Villa Hammerschm­idt, der Bonner Amtssitz des Bundespräs­identen
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FOTO: OLIVER BERG Konrad Beikircher, Kabarettis­t, Musiker und Autor, lebt in Bonn.
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FOTO: THOMAS BANNEYER Zur Kirschblüt­e kommen jedes Jahr viele Touristen nach Bonn.

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