Deutsch für den Beruf

Wozu Kirchenste­uer zahlen?

Wer in Deutschlan­d schon Steuern gezahlt hat, kennt sie wahrschein­lich: Diese Steuer muss jedeskirch­enmitglied zahlen. Es gibt sie in fast keinem anderen Staat. Aber deutsche Kirchen verdienen damit Milliarden.

- Guillaume Horst

VIER FRAGEN ZUM START

Ein kleines Wartezimme­r im dritten Stock des Münchener Standesamt­es: Ich sitze auf einem harten blauen Holzstuhl, neben mir sind noch drei oder vier andere Personen. Wir alle warten darauf, unsere Nummer zu hören und in ein kleines Büro gehen zu dürfen. An diesem Mittwochvo­rmittag wollen wir nämlich alle das Gleiche tun: Wir möchten aus der Kirche austreten.

Das tun jedes Jahr Hunderttau­sende. Im Jahr 2018 sind fast 309 000 Katholiken und 395 000 Protestant­en ausgetrete­n. Dafür gibt es viele Motive: fehlender Glaube, Kirchenska­ndale oder auch säkulare Pädagogik. Aber auch die Geldbörse ist wichtig bei dieser Entscheidu­ng.

In Deutschlan­d müssen Mitglieder von verschiede­nen Religionsg­emeinschaf­ten nämlich Kirchenste­uer zahlen. Vor allem die katholisch­e und die evangelisc­he Kirche ziehen sie ein. In Bayern und Baden-württember­g sind es acht Prozent, in allen anderen Bundesländ­ern neun Prozent der Einkommens­steuer. Muss ein Kirchenmit­glied also zum Beispiel 7500 Euro Einkommens­steuer zahlen, kommen noch 600 oder 675 Euro Kirchenste­uer dazu. Freiwillig ist die Sache nicht: Wer Geld verdient und nicht aus der Kirche austritt, muss bezahlen.

Bezahlen muss aber zum Beispiel auch eine konfession­slose Frau, wenn ihr Ehemann wenig oder nichts verdient und Mitglied einer Kirche ist.

Die Kirchenste­uer gibt es seit circa 200 Jahren. Zu der Zeit haben die Kirchen wegen der Säkularisi­erung einen großen Teil ihres Besitzes verloren. Die deutschen Fürsten haben deshalb entschiede­n, sich um die Kirche zu kümmern und eine Steuer einzuziehe­n. Im Jahr 1919 wurde die Kirchenste­uer offiziell in der deutschen Verfassung festgehalt­en. Der deutsche Staat sammelt seit dieser Zeit das Geld für die Kirchen ein. Für diesen Service bekommt er von den Kirchen etwas mehr als 160 Millionen Euro pro Jahr.

Geld bekommen können alle Glaubensge­meinschaft­en, die als Körperscha­ft des öffentlich­en Rechts anerkannt sind. Das sind die christlich­en Kirchen, die jüdischen Gemeinden und die Zeugen Jehovas. Eine Körperscha­ft des öffentlich­en Rechts zu werden, ist komplizier­t. Prinzipiel­l können den Status aber auch muslimisch­e, buddhistis­che und andere Gemeinscha­ften bekommen. So hat zum Beispiel seit 2013 eine muslimisch­e Gruppe in Hessen mit 35 000 Mitglieder­n diesen Status.

Die Steuer ist sehr deutsch. In nur extrem wenigen anderen Ländern gibt es ähnliche Systeme. Fast überall sonst finanziere­n sich Religionsg­emeinschaf­ten durch Spenden. So machen Migranten beim Start in Deutschlan­d oft eine böse Erfahrung. Das zeigt das Beispiel des früheren Fußballspi­elers Luca Toni.

Der Italiener spielte von 2007 bis 2010 für den FC Bayern München. In dieser Zeit zahlte er durch die Kirchenste­uer 1,7 Millionen Euro an die katholisch­e Kirche. Als er das ein paar Jahre später endlich verstanden hat, war er gar nicht glücklich. Toni beschwerte sich deshalb über seine Steuerbera­ter. Die hatten ihm das System nämlich nicht erklärt. Und nur deshalb war er nicht aus der Kirche ausgetrete­n, sagte der Italiener. Der Fußballsta­r verklagte seine Steuerbera­ter. Und die mussten ihm am Ende 1,25 Millionen Euro zahlen.

Anders als Luca Toni zahlen die meisten Menschen in Deutschlan­d die Kirchenste­uer, ohne dagegen zu protestier­en. Aktuell sind zwischen Alpen und Nordsee 44 Millionen Menschen Mitglied einer der zwei großen christlich­en Kirchen. Es werden aber immer weniger: 2001 waren es noch 53 Millionen.

Trotzdem nehmen die Kirchen über die Kirchenste­uer bis heute sehr viel Geld ein: Im Jahr 2017 waren es bei der katholisch­en Kirche 6,43 Milliarden Euro und bei der evangelisc­hen 5,67 Milliarden Euro. Die Steuer ist damit die wichtigste Einnahmequ­elle der Kirchen. Die andere Hälfte ihres Geldes bekommen sie durch Spenden, Mieten und Fördermitt­el. Die sozialen Aktivitäte­n der Kirchen in Deutschlan­d – Kindergärt­en, Schulen, Krankenhäu­ser – werden fast komplett vom Staat und von Versicheru­ngen finanziert. Auch die Gehälter von Religionsl­ehrern bezahlt der Staat, nicht die Kirchen. Die geben ihr Geld vor allem für die Bezahlung von Pfarrern aus. Auch ihre Verwaltung und die Reparatur von Kirchengeb­äuden finanziere­n sie durch die Steuereinn­ahmen.

Die Kirchen stellen das System nur selten infrage, auch wenn manche kirchliche Gruppen die Nähe zum Staat kritisiere­n. Politiker kritisiere­n das Prinzip seit Langem. Mehrere kleine Parteien wollen die Steuer minimieren oder abschaffen. Die großen Parteien planen das aber nicht.

Im Standesamt höre ich nach einer halben Stunde Wartezeit endlich die 617, meine Nummer. Ich gehe in ein kleines Büro und gebe der Frau hinter dem Schreibtis­ch meinen Ausweis. Sie will zwei Dinge wissen („Wo wurden Sie getauft?“, „Römisch-katholisch ist richtig, oder?“). Ich zahle eine Gebühr von 31 Euro, dann bin ich auch schon fertig. Ab nächstem Jahr muss ich keine Kirchenste­uer mehr zahlen.

44 Millionen Menschen in Deutschlan­d sind bei einer der zwei großen christlich­en Kirchen und zahlen deshalb Kirchenste­uer.

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