Immer fleißig?
Stimmt das Klischee der fleißigen Deutschen, die immer arbeiten? Und ist die deutsche Arbeitswelt noch die, die sie vor ein paar Jahren war? Wenn nicht, wie ist sie dann? Von Marcel Burkhardt
Ohne Fleiß kein Preis“, das war der erste Satz, den die Griechin Anna Kotsidou nach ihrer Ankunft in Deutschland von einem Sprachlehrer hörte. Dann wurde ihr erklärt, was Arbeitgeber neben guten Deutschkenntnissen vor allem wünschten: Pünktlichkeit, Freundlichkeit, Konzentration, Einsatz. „Fleiß eben“, sagt Kotsidou und lacht.
Fünf Jahre lebt und arbeitet die heute 23-Jährige inzwischen in Deutschland und erlaubt sich ein Urteil: „Wenn du dich an diese Grundregeln hältst, dann akzeptieren dich die Kollegen hier und sind auch in schwierigen Momenten solidarisch und warm, also freundlich.“
Ein bisschen anders war Mostafa Nofals erstes Bild von deutschen Kollegen, als der ägyptische Ingenieur noch in Kairo mit ihnen zusammenarbeitete: „Ein bisschen kalt und nur auf das Ziel der Arbeit fokussiert. Sie wollten ihre Arbeit direkt beginnen und schnell zu Ende bringen“, sagt er. „In Ägypten aber kommt die Freundschaft vor der Arbeit, da sind ganz unterschiedliche Kulturen aufeinandergetroffen.“
Während Nofal das erzählt, formt seine Atemluft kleine Wolken in der kalten deutschen Luft. Der 28-Jährige lebt inzwischen mit seiner Frau in Marburg (Hessen). In Wiesbaden hat er Arbeit gefunden in einer großen Papierfabrik. Als Projektleiter baut er dort mit einem Team Maschinen auf. Seit mehr als einem Jahr ist er dabei – und sein Bild von den deutschen Kollegen ist inzwischen ganz anders.
Der freundliche Ingenieur muss herzlich lachen, als er in seiner Mittagspause von der Atmosphäre an seinem Arbeitsplatz berichtet. „Es gibt hier echte Teamarbeit, jeder fühlt sich als Teil des Ganzen.“Nofal mag das sehr.
Wenn jeder nur an sich denken würde, kämen sie bei schwierigen Projekten kein bisschen weiter, ist er sich sicher. „So aber passt alles zusammen, und es geht Schritt für Schritt vorwärts.“Das „Schritt für Schritt“ist dabei besonders wichtig. Einen starken Vorteil sieht er nämlich im genauen Planen. „Wir haben hier einen Plan für alles“, sagt er.
In einer ähnlichen Arbeit für einen internationalen Konzern in Kairo hat sich der Ingenieur ständig in der Rolle eines Feuerwehrmannes gesehen. „Der psychische Druck war sehr viel größer“, sagt er. „Hier in Deutschland habe ich zu Beginn
noch mehr gearbeitet als in Ägypten, aber ich habe mich sofort viel entspannter gefühlt.“Und das, obwohl alles neu war.
Inzwischen spricht Nofal gut Deutsch und fühlt sich wirklich angekommen. Ein Grund dafür, glaubt er: Anders als in Ägypten hat er in Deutschland sehr geregelte Arbeitszeiten. „Dadurch lässt sich auch die Freizeit besser planen.“Nofal kann so auch im Sportverein aktiv sein.
Nach acht Stunden ist für Nofal normalerweise von Montag bis Freitag die Arbeit getan. Das ist typisch, denn laut Statistischem Bundesamt arbeiten Vollzeit-arbeitnehmer in Deutschland im Durchschnitt etwas mehr als acht Stunden täglich und damit 41 Stunden pro Woche. Im Vergleich zu 1991 sind das wö chentlich drei Stunden weniger – und viel weniger als in vielen anderen Ländern ist es auch. Der durchschnittliche Urlaubsanspruch liegt bei 27 Tagen – zählt man die Feiertage hinzu, haben nur Dänen und Kroaten in Europa mehr freie Tage pro Jahr.
Trotzdem arbeitet circa jeder zehnte Deutsche heute mehr als 48 Stunden pro Woche. „Überlanges Arbeiten ist bei Führungskräften und vor allem Selbstständigen fast normal“, sagt Georg Thiel, Vizepräsident des Statistischen Bundesamts. Und nicht nur für den Alltag der Chefs sind Arbeitsmenge, Tempo und Termindruck typisch. Die Konsequenz: Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sind immer mehr Menschen psychisch belastet.
Acht von zehn Arbeitnehmer sind immer für den Chef erreichbar
Ein Grund dafür ist auch, dass Arbeitnehmer immer öfter Arbeit aus dem Büro mit nach Hause nehmen. In Umfragen erklären mehr als 80 Prozent der Deutschen, dass sie auch am Feierabend für den Betrieb erreichbar bleiben. Rund drei Viertel sagen, dass sie regelmäßig oder manchmal in ihrer Freizeit arbeiten. Die Deutschen, ein Volk von übermotivierten Strebern?
Die Pädagogin Elisabeth Hano sieht viele Gründe, warum Mitarbeiter erreichbar bleiben wollen. „Für viele ist es
Ausdruck dafür, guten Willen zu zeigen, immer einsatzbereit zu sein.“
Mehr als die Hälfte der Deutschen sind auch im Urlaub für ihren Chef erreichbar. Das gilt vor allem für Männer. Ein starkes Motiv dafür ist das Gefühl, für den Betrieb sehr wichtig zu sein. Außerdem ist der Druck oft hoch, effizient und profitabel zu arbeiten. „Mit weniger Personal mehr erreichen, das ist vielerorts die Vorgabe“, sagt Hano.
Deshalb sollen wichtige Mitarbeiter im Idealfall rund um die Uhr einsatzbereit sein. Und das hat Konsequenzen für den ganzen Betrieb, weil Führungskräfte den Druck oft nach unten weitergeben.
Es gibt inzwischen aber auch Firmen in Deutschland, die neu denken. Wenn möglich, geben sie ihren Arbeitnehmern zum Beispiel mehr Freiraum zu entscheiden, wann diese auf Anfragen reagieren. „Wer geistig arbeitet und ständig auf E-mails und Telefonate reagieren muss, kommt aus dem Rhythmus, Konzentration und Produktivität lassen nach“, erklärt der Hirnforscher Manfred Spitzer von der Universität Ulm.
Wo außerdem die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verloren geht, kann das krank machen. „Das beginnt mit Schlafstörungen, geht über in Konzentrationsschwächen und Dauerstress – und endet im schlimmsten Fall im Burn-out“, so Spitzer. Arbeitsausfälle durch Stresskrankheiten kosten die deutsche Wirtschaft und die Krankenkassen angeblich mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr.
2,7 Millionen Menschen haben mindestens zwei Jobs
Silke Müller wirkt nach zehn Stunden Arbeit in einem Krankenhaus in Rheinland-pfalz müde. Die alleinerziehende Mutter von zwei Schulkindern ist eigentlich eine starke Frau. Aus Angst, ihren Job zu verlieren, möchte sie aber nicht, dass hier ihr wirklicher Name steht. Reden will sie über die – wie sie sagt – „schlimmen Zustände“an ihrem Arbeitsplatz trotzdem.
Böden und Wände putzen, Operationsräume sauber machen: Das ist Müllers Aufgabe. Für ihre Arbeit bekommt sie
, hier: Schnelligkeit: Wie schnell erledigt jemand seine Aufgaben?
aktuell zwölf Euro pro Stunde. Lebensmittel, Kleidung für die Kinder, die Miete: Das kann sie damit bezahlen. „Mein Auto sollte aber besser nicht kaputtgehen, für eine teure Reparatur hab’ ich kein Geld übrig“, sagt die 41-Jährige.
Dabei verdient sie schon etwas besser als die meisten Frauen in ihrem Team, die den Mindestlohn ihrer Branche von aktuell 10,30 Euro bekommen. „Da sind viele Frauen aus Afrika dabei, die keinen anderen Job bekommen und von unseren Chefs wirklich ausgenutzt werden – die Arbeit ist nie nach acht Stunden erledigt“, sagt Müller. „Wir sind immer unter Druck.“
Gemeinsam mit einer Kollegin berichtet sie: „Das, was früher zwei Frauen in acht Stunden gemacht haben, soll jetzt eine in fünf Stunden machen.“
Das funktioniert nicht, sagt Müller: „Du machst, was nötig ist. Der Rest bleibt, bis man was sieht!“Nur: Ein Teil ihrer Aufgaben ist auch, Keime zu entfernen, die lebensgefährlich für Patienten sein könnten. „Ich versuche, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen, aber es ist Dauerstress“, sagt sie und zieht an ihrer Zigarette.
Über hohen Arbeitsdruck bei geringem Lohn, unbezahlte Überstunden, schlechte Einarbeitung und ständigen Personalwechsel berichten viele Gebäudereiniger.
2017 hat die Industriegewerkschaft Bauen-agrar-umwelt (IG BAU) um höhere Löhne für die circa 600 000 Gebäudereiniger in Deutschland gekämpft. Nach monatelangen Gesprächen mit den Arbeitgebern das Ergebnis: Der Mindestlohn der Branche stieg in Westdeutschland um 30 Cent auf 10,30 Euro und in Ostdeutschland um 40 Cent auf 9,55 Euro. Danach sollten die Löhne in kleinen Schritten noch mehr steigen. Silke Müller spricht von „Trippelschritten“, sagt aber auch: „Besser als nichts.“
Trotzdem hat sie wie 2,7 Millionen andere Deutsche noch einen Nebenjob, um etwas Geld dazuzuverdienen. Die Zahl der Zweitjobs steigt seit Jahren. Nach Informationen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung ist die Zahl inzwischen mehr als zweimal so hoch wie im Jahr 2003. Wie die IG BAU arbeiten viele andere Gewerkschaften in Deutschland dafür, dass Arbeitnehmer gut von einem Hauptberuf leben können und ihnen auch genug Zeit für die Familie bleibt.
Bei Tarifkämpfen ist Geld nicht mehr das Wichtigste
Besonders spektakulär war in den letzten Jahren der Kampf der IG Metall. Ihr Thema war nicht nur mehr Geld. Die Gewerkschaft hat 2018 auch erreicht, dass jeder Arbeitnehmer seine Stundenzahl für bis zu zwei Jahren von 35 auf 28 Stunden pro Woche reduzieren kann. Eltern kleiner Kinder und Beschäftigte, die zu Hause Angehörige pflegen, können mehr Geld oder mehr Zeit bekommen. In der Metallbranche hilft das 1,5 Millionen Arbeitnehmern.
In einer Zeit der starken Konjunktur, in der Fachkräfte fehlen und die Auftragsbücher voll sind, wollen die Arbeitgeber aber nichts von dem Plan wissen. Wie dieser Streit zu Ende geht, ist noch nicht entschieden.
Anders als viele Metallarbeiter kann sich der Informatiker Johannes Rückert schon heute seine Arbeitszeit frei einteilen. Der 30-jährige Würzburger programmiert für die Kunden eines Nürnberger Start-ups Internetseiten und Web-applikationen. Dafür muss Rückert aber nicht in Nürnberg arbeiten.
Er lebt gemeinsam mit seiner Freundin im Rhein-main- Gebiet. Während sie studiert, arbeitet er in einem neuen sogenannten Coworking Space. „Weil ich nur meinen Laptop brauche, bin ich bei meinem Einsatzort ziemlich flexibel“, sagt Rückert.
Mit starkem Internet klappt auch die Kommunikation mit seinem Chef. Komplizierte Dinge besprechen sie im Videochat. Außerdem können sie ihre „Screens sharen“, sagt Rückert und zeigt auf seinen Bildschirm. Er kann dort sehen, was sein Chef macht – und der kann sehen, was Rückert macht.
Der Informatiker mag die lockere Atmosphäre im Coworking Space, das vor allem kleinen Firmen und
Solo-selbstständigen einen Arbeitsraum bietet. „Im Büro zu Hause habe ich zwar meine Ruhe, aber das Miteinander-gefühl fehlt“, sagt er. Im Coworking Space muss er sich auch nicht selbst um ein Mittagessen kümmern – das macht ein Koch.
„Außerdem mag ich die räumliche Trennung zwischen ‚Hier arbeite ich‘ und ‚Hier bin ich zu Hause‘“, erzählt Rückert. Damit ist er nicht allein. Für viele Kreative ist das ein starkes Motiv, in einem Coworking Space zu arbeiten, sagt der Organisationspsychologe Thomas Rigotti. Er spricht von einem wichtigen „Grenz-management“zwischen den Lebensbereichen: „Im Homeoffice tun sich viele Soloselbstständige schwer, klare Linien zwischen Arbeiten und Privatem zu ziehen.“
Durch die Arbeit im Coworking Space ist das einfacher, findet Rigotti: Wer dort rausgeht, hat auch Feierabend.