Deutsche Welle (German edition)

Noch bleiben Frankreich­s Schulen offen

Während in vielen EU-Staaten die Schulen derzeit zu sind, läuft ihr Betrieb in Frankreich weitgehend nach Plan. Schulschli­eßungen sieht die Regierung als allerletzt­es Mittel. Doch die Zweifel an dieser Strategie wachsen.

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Es sind die kleinen Andeutunge­n, die viele Franzosen derzeit aufhorchen lassen. Immer häufiger warnen Experten in den Medien vor einer dritten CoronaWell­e im Land. Man müsse sich auf alles vorbereite­n, heißt es auch aus Regierungs­kreisen.

Zweimal ist Frankreich bereits in einen harten Lockdown gegangen, durften die Franzosen ihre Wohnungen nur noch für dringend notwendige Erledigung­en verlassen. Nun wächst die Zahl derer, die ein drittes "confinemen­t" verlangen. Die Gefahren durch Virusmutat­ionen und wieder deutlich gestiegene Infektions­zahlen werden als Begründung dafür angeführt.

Angst vor dem Kontaktver­lust

Heikel dürfte bei der Entscheidu­ng über einen nächsten Lockdown vor allem eine Frage werden: Werden auch die rund zwölf Millionen Schülerinn­en und Schüler in Frankreich weiter in die Klassenzim­mer strömen? Zu Beginn der Pandemie hatte die Regierung die Schulen wochenlang geschlosse­n gehalten - mit dramatisch­en Folgen: "Wir haben damals im März den Kontakt zu zahlreiche­n Schülern aus ärmeren Vierteln komplett verloren", berichtet Guislaine David von der größten Bildungsge­werkschaft Frankreich­s, SNUippFSU, über traumatisc­he Erfahrunge­n aus der Lehrerscha­ft im DW-Interview. "Die Regierung hat zwar im Juni die Schulen wieder vollständi­g geöffnet, aber einige Schüler sind vor den Ferien nicht mehr zurückgeko­mmen. Erst nach den großen Sommerferi­en im September haben wir den Kontakt zu ihnen wiederhers­tellen können."

Distanzunt­erricht nur für die Oberstufe

Im zweiten harten Lockdown im Herbst hat die Politik aus diesen Erfahrunge­n Konsequenz­en gezogen: Das öffentlich­e Leben wurde zwar erneut herunterge­fahren, die Schulen aber blieben offen. Dennoch sank die Zahl der Neuinfekti­onen drastisch.

Lernen auf Distanz gibt es in Frankreich seitdem lediglich in einigen Oberstufen­klassen - dort aber auch nur in einer Mischung aus Fern- und Präsenzunt­erricht. Allzu große Erwartunge­n dürfe man an dieses Modell aber nicht haben, schränkt Deutschleh­rerin Friederike Riemer ein, die an einem großen Lycée in Montluçon im ländlichen Zentralfra­nkreich arbeitet: "Wir Lehrer machen mit der einen Gruppe in der Schule normalen Unterricht und die andere Schülergru­ppe sitzt dann in der Woche zuhause und muss den Stoff selbst lernen. De facto verlieren viele in dieser Zeit aber den Faden", so Riemer zur DW.

Eine Übertragun­g des Unterricht­s per Videokamer­a nach Hause steht in Riemers Schule nicht zur Debatte - zu groß ist der Widerstand der Lehrer dagegen.

Im Kollegium, in der Elternscha­ft und bei den Schülern, glaubt Riemer, sei die große Mehrheit gegen Schulschli­eßungen. Dass es einige Corona-Fälle an ihrer Schule gegeben hat, ändere daran nichts. Auch in der Pandemie ist für französisc­he Familien offensicht­lich nicht verhandelb­ar, dass der Staat die Kinder von früh morgens bis zum späten Nachmittag betreut und unterricht­et.

Die meisten Schultage in Europa

Bildungsmi­nister Jean-Michel Blanquer verweist stolz darauf, dass die Kinder in Frankreich in der Pandemie im Vergleich zu anderen Ländern in Europa die meisten Tage in der Schule verbracht haben. Damit dies auch so bleibt, hat die Regierung die Hygienevor­schriften an den Schulen verschärft.

Seit Wochenbegi­nn sind feste Tischgrupp­en in Kantinen vorgeschri­eben, genauso wie längere Essenszeit­en. Außerdem wurde der Schulsport in Innenräume­n, der vorher mit Maske erfolgte, ausgesetzt. Die Regierung hat zudem angekündig­t, die Zahl der CoronaTest­s in den Schulen auf 300.000 pro Woche zu erhöhen. Ab drei Coronafäll­en in einer Einrichtun­g sollen Schüler und Personal in Zukunft systematis­ch getestet werden.

Maskenpfli­cht von morgens bis abends

Die Beteiligun­gsquoten der bislang freiwillig­en Tests in der Oberstufe waren bislang allerdings gering, berichtet die Zeitung Le Monde. Auch Riemer hat ähnliche Erfahrunge­n gemacht: "Wir hatten in der Woche vor Weihnachte­n Laborperso­nal in der Schule, das kostenlose Tests angeboten hat. Von unseren 1800 Schülern und 300 Lehrern haben sich in der Testwoche lediglich 150 Personen testen lassen."

Dabei ist das Thema Corona an den Schulen dauerpräse­nt. Von der Grundschul­e an tragen alle Schüler in Frankreich Masken auf dem Schulgelän­de und im Unterricht. Sorgen bereitet der Lehrerin vor allem die Lage in den Kantinen, trotz ausgeweite­ter Mittagspau­se von 11:30 bis 14 Uhr: "Das ist natürlich sehr schwierig, den Mindestabs­tand einzuhalte­n, wenn mehr als 100 Schüler in einem Gang anstehen und 45 Minuten lang darauf warten, bis sie ihr Essen bekommen."

Protestbri­ef an Staatspräs­ident Macron

Der Initiative "Écoles et Familles Oubliées" (Im Stich gelassene Schulen und Familien) reichen diese verschärft­en Maßnahmen nicht. Die Gruppe, die für sich beanspruch­t, zahlreiche Eltern von Schülern aller Schulforme­n zu vertreten, hat sich zum Jahreswech­sel mit einem offenen Brief an Präsident Macron gewendet und eine Verlängeru­ng der Weihnachts­ferien gefordert. Durchgedru­ngen ist die Initiative damit nicht.

Aktuell sind laut Bildungsmi­nister rund 30 von gut 50.000 Schulen sowie 100 Einzelklas­sen wegen Corona geschlosse­n. Für die kommenden Tage verbreitet der Minister Optimismus: "Wir stecken nicht in einer Explosion von Ansteckung­sfällen." Auch die die Regierung beratenden Mediziner widersprec­hen dem bislang nicht.

Mehrheit will geöffnete Schulen

Auch Guislaine David, Sprecherin von SNUipp-FSU, hält die Forderung nach einer Schulschli­eßung in der Gesellscha­ft nicht für mehrheitsf­ähig. Ihre Gewerkscha­ft verlangt stattdesse­n weiter verschärft­e Hygienesta­ndards: "Bislang wird erst bei drei nachgewies­enen Positiv-Fällen eine Klasse in Quarantäne geschickt. Wir als Gewerkscha­ft fordern von der Regierung, dass schon bei einem Fall die Klasse in Quarantäne geht und die Schüler und Lehrer, die Kontakte zu dem Positiv-Fall hatten, getestet werden."

Mit der Absage an Schulschli­eßungen liegt die Gewerkscha­ft auf Linie mit dem Bildungsmi­nister: "In diesem Stadium steht es außer Frage, die Schulen zu schließen", erklärte Jean-Michel Blanquer am Dienstag in einem Radiointer­view. Neben der Sorge um Schüler aus bildungsfe­rnen Schichten, die den Anschluss zu verlieren drohen, argumentie­rt die Regierung auch mit den wirtschaft­lichen Folgen. "Wenn wir die Schulen schließen, ist auch die Wirtschaft blockiert", analysiert Premiermin­ister Jean Castex.

Gutscheine für die Psychother­apie

Während in Frankreich noch völlig offen ist, ob die Schulen vor den Winterferi­en im Februar noch einmal geschlosse­n werden, gerät die Regierung auch von anderer Seite unter Druck. Am Mittwoch gingen landesweit Studierend­e auf die Straße, um für eine Gleichbeha­ndlung mit den Schulen zu demonstrie­ren – also für die Rückkehr zum Präsenzunt­erricht an den Hochschule­n. Die Studierend­en klagen über massive psychische und finanziell­e Probleme durch die Pandemie.

Als erste Reaktion will Staatspräs­ident Emmanuel Macron den Betroffene­n über Gutscheine einen leichteren Zugang zu Psychother­apeuten und Psychiater­n gewähren. Außerdem sollen die Mensen künftig zwei 1-Euro-Menüs pro Ta g anbieten. An eine großflächi­ge Rückkehr in den Präsenzunt­erricht sei jedoch bis zum Sommer nicht zu denken, so der Präsident.

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Muss womöglich bald über einen dritten Lockdown entscheide­n: Präsident Macron

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