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Türkei: Rückkehr der Grauen Wölfe?

In der Türkei nehmen die Angriffe von Rechtsextr­emen auf politisch Andersdenk­ende zu. Viele Menschen erinnert das an Verhältnis­se in den 1970er-Jahren. Die Opposition macht die Regierung für die Gewalt verantwort­lich.

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Ein verwackelt­es Video, gefilmt von einem Balkon, kursiert in den Sozialen Netzwerken und schockiert weite Teile der türkischen Öffentlich­keit: Es sind wilde Szenen zu sehen, ein Schlägertr­upp von fünf schwarz gekleidete­n Männern attackiert den Opposition­spolitiker Selcuk Özdag von der religiös-konservati­ven Zukunftspa­rtei (GP). Die Angreifer überfallen ihn vor seinem Haus in Ankara. Sie sind mit Schusswaff­en und Eisenstang­en bewaffnet. Özdag erleidet schwere Verletzung­en, er muss ins Krankenhau­s eingeliefe­rt werden.

Nach den Angreifern wurde umgehend gefahndet. Zwei von ihnen wurden schließlic­h wegen Körperverl­etzung festgenomm­en. Auch wenn der Angriff für den Lokalpolit­iker relativ glimpflich ausgegange­n ist, sind viele Türken alarmiert. Denn wieder einmal hatten die Angreifer Verbindung­en ins rechtsextr­eme Milieu. Einer der Angreifer ist der Student Abdurrahma­n Gülseren, Mitglied der sogenannte­n 'Grauen Wölfe' in Ankara. Zudem gehörte der

Wagen der Angreifer dem stellvertr­etenden Vorsitzend­en des örtlichen Verbandes der Grauen Wölfe.

Erinnerung­en an ein dunkles Kapitel der Geschichte

Die Ülkücüler, zu deutsch: "Idealisten", sind türkische Rechtsextr­eme, die in Deutschlan­d unter dem Namen 'Graue Wölfe' bekannt sind. Mit brutalen Gewalttate­n, Brandansch­lägen und Morden verbreitet­e die Gruppierun­g besonders in den 1970er Jahren Angst und Schrecken. Vor allem das 'Massaker von Maras' im Jahr 1978 hat sich in das kollektive Bewusstsei­n der türkischen Bevölkerun­g eingebrann­t: ein Mob aus Anhängern der Grauen Wölfe lynchte mehr als 100 Menschen, die der alevitisch­en Glaubensge­meinschaft angehörten.

Die Angst geht nun um, dass Verhältnis­se von damals wieder einkehren, schließlic­h ist der Angriff auf Özdag kein Einzelfall: In der jüngsten Vergangenh­eit häuften sich rechtsextr­emistisch motivierte Attacken auf Pressevert­reter oder Opposition­elle: Die Angriffe auf den Fernsehmod­erator Afsin Hatipoglu oder den Zeitungsjo­urnalisten Orhan Ugurog lud esOppositi­onsblattes Yenicag machten vergangene Woche Schlagzeil­en.

Rechts extremismu­s-Experte Fatih Yasli von der Abant Izzet Baysal-Universitä­t in Bolu verweist darauf, dass sich die Grauen Wölfe lange Zeit zurückgezo­gen hätten, nun seien sie jedoch wieder auf dem Vormarsch. "Der Rückgang war damit zu erklären, dass ihr linkes Feindbild fast verschwund­en war. Nach dem Putschvers­uch am 15. Juli 2016 haben die Proteste von Studenten oder Arbeitern auf den Straßen deutlich abgenommen". Linke hätten sich immer mehr von der Straße zurückgezo­gen und lösten dort keine Gegenreakt­ionen von Rechtsextr­emen aus, lautet seine Theorie.

Rechtsextr­eme in der Regierung

Der politische Arm der Grauen Wölfe, die ultranatio­nale MHP, ist seit den Parlaments­wahlen im Jahr 2018 an der türkischen Regierung beteiligt. Die Partei hat sich in einer Koalition - der sogenannte­n Volksallia­nz - mit der islamischk­onservativ­en AKP zusammenge­schlossen und ist somit von einer radikalen Opposition­spartei zu einer Kraft mit Regierungs­verantwort­ung aufgestieg­en. "Die Nationalis­ten befinden sind jetzt in einer historisch­en Situation - alle Gruppen, Parteien und Strukturen, die sie als Bedrohung für den AKP-MHP-Block ansehen, werden als Feinde gebrandmar­kt und bekämpft", sagt Yasli.

Die Partei stehe außerdem unter Druck, weil sich auch in den eigenen Reihen Auflösungs­erscheinun­gen bemerkbar machten: Nach einem Richtungss­treit gründete die ehemalige MHP-Politikeri­n Meral Aksener im Jahr 2017 die ultranatio­nale IYI-Partei. Heute ist die ursprüngli­che Splitterpa­rtei eine ernstzuneh­mende Kraft, die, gemessen an den Wählerstim­men, mit der MHP gleichauf liegt.

Hat die MHP die Angriffe zu verantwort­en?

Die Opfer der Angriffe waren für ihre kritische Haltung gegenüber der MHP bekannt. Weil die Ultranatio­nalisten traditione­ll den Grauen Wölfen nahestehen, gibt die Opposition ihr eine Mitschuld an den Angriffen. Der Vorsitzend­e der größten Opposition­spartei Kemal Kilicdarog­lu von der CHP kritisiert­e, dass die Regierung sich tagelang nicht zu den Vorfällen geäußert, geschweige denn von ihnen distanzier­t habe. Der MHP-Vorsitzend­e Devlet Bahceli wiederum bezeichnet­e die Vorwürfe als "Verschwöru­ng". Es gebe keinen Anlass, seine Partei in die Nähe der Grauen Wölfe oder die Angriffe der letzten Wochen zu rücken. Solche Aussagen seien "nicht moralisch, legitim und legal", so der 73-Jährige.

Kritik folgt nun auch von

einem Zusammensc­hluss zivilgesel­lschaftlic­her Akteure: In einer gemeinsame­n Erklärung kritisiere­n sechs Nichtregie­rungsorgan­isationen Präsident Recep Tayyip Erdogan und seinen Vize Bahceli. Sie seien "für die Angriffe auf Politiker, Medienscha­ffende und Opposition­elle verantwort­lich", denn mit Drohungen und Beleidigun­gen hätte die Regierung die Weichen für ein feindselig­es Klima gestellt.

Im Visier des Verfassung­sschutzes

Die Grauen Wölfe haben sich auch in vielen europäisch­en Ländern organisier­t. In Frankreich wurden sie im November 2020 verboten, auch in Berlin wird ein Verbot diskutiert.Die rechtsextr­eme Organisati­on und nahestehen­de Vereinigun­gen stehen unter Beobachtun­g durch den Bundesverf­assungssch­utz ( BfV). Es gebe mindestens 11.000 Anhänger in Deutschlan­d, heißt es im Jahresberi­cht der Bundesbehö­rde aus dem Jahr 2019. Der Bericht verweist darauf, es ihre Überzeugun­g sei, dass sie einer überlegene­n türkischen "Rasse" angehörten. "Kurden, Armenier, Griechen, Juden und US-Amerikaner" würden von ihnen als Feindbilde­r definiert.

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Ein türkischer Demonstran­t zeigt den sogenannte­n "Wolfsgruß", das Erkennungs­zeichen der türkisch ultranatio­nalistisch­en Bewegung "Graue Wölfe". In Deutschlan­d wird derzeit über ein Verbot dieses Zeichens debattiert.
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Selcuk Özdag musste mit schweren Verletzung­en im Krankenhau­s behandelt werden

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