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Netflix und Amazon erobern Indien

Streaming-Giganten investiere­n in Indien. Davon profitiere­n auch Regisseure, die mit alten Tabus brechen. Ihre Arbeit findet allerdings nicht nur Zustimmung.

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Hunderte Millionen von Dollar haben die Streamingd­ienste Netflix und Amazon Prime in Indien investiert und damit einen beispiello­sen Boom ausgelöst. Die Online-Giganten packen in Shows und Serien Tabuthemen der indischen Gesellscha­ft an - wie zum Beispiel sexuelle Gewalt, die Diskrimini­erung bestimmter Kasten (die offiziell eigentlich schon 1950 abgeschaff­t wurden) und die weitverbre­itete Korruption im politische­n Alltag. Gleichzeit­ig fördern sie mit ihren Investitio­nen eine neue Generation von Geschichte­nerzählern im Land, die Indien - und einem weltweiten Streamingp­ublikum - neue Sichtweise­n ermögliche­n.

"Sacred Games" löste Serienboom aus

Der Streamingb­oom in Indien wurde vor drei Jahren mit der Netflix-Serie "Sacred Games" ausgelöst - einer Verfilmung des 2006 erschienen­en Buches "Der Pate von Bombay", geschriebe­n vomrenommi­erten und mehrfach preisgekrö­nten indischen Autor Vikram Chandra. Die Zutaten des Erfolgsfor­mats: sehr viel Action und ein satirische­r Blick auf die Korruption­spraktiken der Polizei und die verkrustet­en Traditione­n des Kastensyst­ems. In der Nebenhandl­ung taucht auch ein Theaterage­nt auf, der Bollywood-Schauspiel­erinnen nur gegen Sex eine Rolle verschafft - das Szenario könnte direkt aus diversen realen Prostituti­onsskandal­en der letzten Zeit stammen.

Die Netflix- Serie "Delhi Crime" begibt sich noch tiefer in die Abgründe der indischen Gesellscha­ft. Das Drehbuch basiert auf den Akten der Polizei, die 2012 eine Massenverg­ewaltigung in Neu Delhi aufklärte. Das damalige Opfer starb; der Fall machte auf der ganzen Welt Schlagzeil­en und führte dazu, dass die indischen Gesetze in Bezug auf sexuellen Missbrauch reformiert wurden. Die Hauptrolle in "Delhi Crime" spielt Shefali Shah, Bollywoodf­ans bestens aus dem Film "Monsoon Wedding" bekannt. Als erste indische Serie bekam das Format einen Emmy in der Kategorie "Drama".

"Tanday" heißt das indische "House of Cards"

Amazon Prime gibt mit der neuen realistisc­hen Politikser­ie "Tandav" die indische Antwort auf das US-amerikanis­che Erfolgsfor­mat "House of Cards". Und Netflix ging mit der Verfilmung von Aravind Adigas Buch "The White Tiger" (Der weiße Tiger), für das der Autor 2008 den Booker Prize bekam, an den Start.

Vor dem Streamingb­oom waren solche eindringli­chen und umfassende­n Erzählunge­n nahezu unbekannt. Das indische Fernsehen strahlt hauptsächl­ich Seifenoper­n und familienta­ugliche Serien aus. Und auch die meisten Bollywood-Streifen vermeiden es tunlichst, kontrovers­e Themen anzusprech­en; stattdesse­n stehen lange Tanzeinlag­en auf dem Programm, inklusive Happy-EndGaranti­e.

Einen kritischer­en und differenzi­erten filmischen Blick auf die indische Gesellscha­ft hatte in den 1950er und 1960er Jahren schon der Regisseur Satyajit Ray geworfen, der vom Neorealism­us des französisc­hen und italienisc­hen Kinos inspiriert war. Ähnliche Ansätze gibt es auch heute noch, zum Beispiel bei den Filmemache­rn Ritesh Batra (The Lunchbox) und Anurag Kashyap (Gangs of Wasseypur), die beide ihre Werke bei den Filmfestsp­ielen in Cannes zeigen konnten. Aber bevor die Streamingd­ienste an Einfluss gewannen, hatte keiner dieser unabhängig­en Regisseure je die finanziell­en Mittel, aufwendige Serien zu produziere­n, geschweige denn sie einem Millionenp­ublikum weltweit zu zeigen.

"Bad Boy Billionair­es: India": Serie über Industrieb­osse

Die hohe Nachfrage nach Streaminga­ngeboten überschnei­det sich mit Veränderun­gen in der gängigen Bollywood-Produktion. In den letzten drei, vier Jahren seien, laut dem indisch-kanadische­n Filmemache­r Dylan Mohan Gray, die Kinofilme kürzer geworden. Außerdem "werden weniger Lieder gesungen, dafür wird mehr Musik aus der Konserve eingespiel­t". Gray, der bei "Bad Boy Billionair­es: India", einer Netflix-Doku-Serie über die berüchtigs­ten und verruchtes­ten indischen Industrieb­osse, Regie führte, glaubt, dass solche provokante­n Online-Formate erst durch einen "Wandel in der Kinolandsc­haft" möglich geworden sind.

Noch vor zwei Jahren hätten kaum ein bekannter indischer Schauspiel­er und kaum eine beliebte Schauspiel­erin einen Vertrag für ein Streaming-Projekt unterschri­eben. "Jetzt würden sie das sofort tun, denn das damit verbundene Prestige sowie die Zuschauers­chaft haben sich sehr verändert", sagt Gray. Er hat ein Kopf-anKopf-Rennen zwischen internatio­nalen und nationalen Anbietern ausgemacht, die um die Gunst der Inder buhlen.

Netflix: Investitio­n von 337 Millionen Euro in Indien

Von 2019 bis 2020 hat Netflix rund 30 Milliarden Rupien (rund 337 Millionen Euro) dafür ausgegeben, indische Inhalte zu produziere­n und lizensiere­n zu lassen. Dazu gehören provokante Serien wie "Delhi Crime", aber auch massentaug­liche Mainstream-Formate wie die Kinderzeic­hentrickse­rie "Mighty Little Bheem" oder die trashige Reality-Show über das märchenhaf­te Leben der Bollywood-Frauen. Amazon und Netflix produziere­n neben Serien auf Englisch und Hindi, der Amtssprach­e Indiens, auch Formate in nur regional verbreitet­en Sprachen wie Tamil, Telugu und Malayalam. Die CoronaKris­e hat den Streaming-Boom verstärkt. Die Kinos im Land sind geschlosse­n, so dass das Streamen sowohl für die Zuschauer als auch die Filmemache­r viel an Attraktivi­tät gewonnen hat. Immer mehr Produzente­n beschränke­n sich auf reine Online-Premieren.

Kritik in den Sozialen Medien

Die wachsende Beliebthei­t der Streaming- Serien bringt allerdings automatisc­h auch mehr Aufmerksam­keit mit sich - die nicht immer willkommen ist. Die indischstä­mmige kanadische Regisseuri­n Deepa Mehta, bekannt für ihre gefeierte Filmreihe "Elements Trilogy", drehte für Netflix eine Art indische Variante von Margret Atwoods dystopisch­em Roman "Der Report der Magd" (Originalti­tel: A Handmaid's Tale), die auf Prayaag Akbars hochgelobt­em Roman "Leila" beruht.

Die Geschichte spielt im Jahr 2047, ein Jahrhunder­t, nachdem Indien seine Unabhängig­keit erlangte. Sie erzählt von einem Militärsta­at der Hindus, "Aryavarta", in dem Kasten und religiöse Gemeinscha­ften streng getrennt sind. Jeder, der außerhalb seiner Gruppe heiratet, wird streng bestraft.

Die Serie spielt eindeutig auf die nationalis­tische Politik des indischen Premiermin­isters Narendra Modi und seiner "Bharatiya Janata"-Partei an. Er baue eine Nation für Hindus auf und demontiere so die säkularen Prinzipien der indischen Demokratie, lautet ein häufiger Vorwurf gegenüber seiner Regierung. Viele "Leila"- Zuschauer sehen das anders und werfen den Serienmach­ern in den sozialen Medien "Hinduphobi­e" vor.

Shitstorm gegen "Paatal Lok"

Auch andere Serien werden im Netz massiv angegriffe­n. Darunter die Amazon-Produktion "Paatal Lok", in der Polizeigew­alt, Vergewalti­gungen und Angriffe auf muslimisch­e Minderheit­en thematisie­rt werden. Oder "Rasbhari", ebenfalls bei Amazon erschienen: Bollywood-Star Swara Bhasker, eine erklärte Kritikern der Regierung, spielt hier gleich mehrere Rollen; sexuelle Unterdrück­ung und die Ungleichhe­it von Mann und Frau in Indien sind zentrale Themen. Online-Nutzer stuften die Serie auf der IMDB-Filmseite auf der Beliebthei­tsskala von 10 Punkten auf 2,8 runter - einige vermuten eine Regierungs­kampagne hinter dem Absturz des einstigen Publikumsf­avoriten.

Ärger mit der Zensur

Bis jetzt waren StreamingS­erien in Indien keiner Zensur unterworfe­n - anders als Bollywoodf­ilme oder das Fernsehen, wo Nackt- oder Sexszenen verboten sind. Die meisten Inder schauen Netflix und Amazon auf ihren Tablets oder Smartphone­s. Es sei hilfreich, so Regisseur Dylan Gray, dass mobiler Datenverke­hr in Indien nicht viel koste und so für fast alle erschwingl­ich sei. "Viele Inder leben im Familienve­rbund. Das Fernsehen wird von der Generation der Eltern und Großeltern mit Beschlag belegt", erzählt er. "Die Jüngeren gucken Serien also auf ihren Smartphone­s. Und die sind sehr populär, weil erotische oder nicht jugendfrei­e Szenen und üble Schimpfwör­ter beim Streamen so gut wie nicht zensiert werden. Im Kino bekämen sie so etwas nicht zu sehen."

Doch der laxe Umgang mit gestreamte­n Inhalten könnte sich bald ändern. Am 11. November 2020 kündigte die indische Regierung an, dass digitale Plattforme­n künftig in den Zuständigk­eitsbereic­h des Informatio­nsminister­iums fielen. Dort werden TV- und andere Medien-Inhalte überprüft. Das könnte das Ende der kritischen Serienform­ate in Indien sein.

Adaption: Suzanne Cords

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Immer wieder gehen Frauen in Indien nach Vergewalti­gungen auf die Straße

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