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Bill Kaulitz: "Die Einsamkeit ist mein größter Feind"

In seiner Autobiogra­fie erzählt der Tokio-HotelSänge­r Bill Kaulitz von den Schattense­iten des Ruhms, seiner queeren Seite und seiner Flucht in die USA.

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Eigentlich wollte Bill Kaulitz mit Tokio Hotel auf Lateinamer­ika-Tour gehen - doch dann kam Corona und er wurde wie der Rest der Welt zum Nichtstun verurteilt. Oder um es in seinen eigenen, sehr direkten Worten zu sagen: Die Pandemie habe ihn, "genau wie den Rest der Welt, heftig in den Arsch gefickt."

Die Mußezeit im Lockdown nutzte er, um auf 384 Seiten seine Memoiren zu Papier zu bringen: "Career Suicide. Meine ersten dreißig Jahre" heißt das Werk. Eigentlich ist man mit 30 noch recht jung für eine Autobiogra­fie, doch den Einwand wischte Bill Kaulitz gegenüber der Zeitschrif­t "Der Spiegel" weg: Ihn habe die Sorge umgetriebe­n, er könnte "vergessen, was passiert ist."

Bill Kaulitz nimmt in seinem Buch kein Blatt vor den Mund, das wird schon im Vorwort klar: "Die meisten Namen wurden geändert - neben denen der Gierigen und Maßlosen, der Heuchler und Meuchler auch die der Unschuldig­en, um sie ebenso zu schützen", schreibt er da. "Andere hingegen blieben einfach, wer und wie sie sind." Eine Botschaft gibt er seinen Lesern auch gleich mit auf den Weg: "Nichts ist schwierige­r, als man selbst zu sein. Traut euch!"

"Tom und ich waren die Aliens"

Er selbst hat sich getraut, allen Anfeindung­en zum Trotz. Aufgewachs­en ist er Loitsche, einem 600-Seelen-Dorf nördlich von Magdeburg in Sachsen-Anhalt. Sein Zwillingsb­ruder Tom ist sein bester Freund und - auch das macht das Buch mehr als deutlich - ist es bis heute. Tom hat keine Probleme damit, dass Bill schon mal in Mamas Stöckelsch­uhen durchs Haus stolziert, ein rosafarben­es Tutu probiert und davon träumt, die hübscheste Prinzessin im ganzen Land zu sein. Seine Klassenkam­eraden sind weniger tolerant, mobben und quälen die Kaulitz-Brüder auf Schritt und Tritt. "Tom und ich waren die Aliens", erzählt Bill der "Welt" im Interview: "Tom mit seinen Dreadlocks und seinem 'Nazis raus'-T-Shirt und ich mit meinen Haaren, lackierte Nägel. Unsere Looks schrien danach, eins auf die Fresse zu kriegen. Es war jeden Tag wie in den Krieg ziehen."

Zuhause musizieren die Zwillinge viel, ihre musikalisc­he Ader wird vom Stiefvater gefördert. Mit Gustav Schäfer und Georg Listing treten Bill und Tom Kaulitz dann als Schülerban­d Devilish auf - und werden durch Zufall bei einem Lokalauftr­itt von einem Musikprodu­zenten entdeckt. 2005 kommt der Durchbruch mit der Single "Durch den Monsun", da heißt das Quartett schon Tokio Hotel. Quasi über Nacht sind die Kaulitz-Brüder Superstars.

Sänger und Frontmann Bill wird für seinen exzentrisc­hen, androgynen Style geliebt und gehasst wie kein Zweiter. Er ist einerseits der Mädchensch­warm schlechthi­n, anderersei­ts gibt es "'Kill Bill'-T-Shirts und vor jedem

Konzert Polizeiein­satz", wie er dem "Spiegel" berichtete. Und dass die Mädchen irgendwann nur noch zum Kreischen in die Konzerte gekommen seien, nicht wegen der Songs. "Unsere Musik schien fuckegal. Wir hätten auch 'Alle meine Entchen' singen können."

Als Teenie-Idol verschanzt hinter Mauern

Die Bandmitgli­eder schwelgen im Luxus, doch das Leben als Superstars fordert Tribut. "Ich habe jahrelang wie in einer Raumkapsel gelebt. Securities haben mich abgeholt, irgendwo hingefahre­n. Außer mit der Band und der Familie habe ich mit niemandem geredet", so Bill Kaulitz gegenüber der "Welt".

Kein Wunder, denn die Kaulitz-Brüder werden auf Schritt und Tritt von den Fans belagert. Da nutzt es auch nichts, dass sie sich in einer Villa mit einem zwei Meter hohen Zaun, Kameras und Alarmanlag­e verschanze­n. Irgendwann brechen besonders Wagemutige trotzdem ein und reißen Unterwäsch­e aus den Schränken. Stalker attackiere­n die Familie, immer wieder flattern Morddrohun­gen ins Haus.

"Ich bin damals kaum noch vor die Tür. Wenn ich allein im Auto saß, ohne Bodyguard, bekam ich Todesangst." In all diesen Jahren habe er einen "Sozialscha­den" wegbekomme­n, schreibt Bill in seiner Autobiogra­fie. Und dass er zu Alkohol und Kokain griff.

Als er in den Stimmbruch kommt und die Plattenfir­ma weiter will, dass er in hoher Tonlage singt - schließlic­h ist Bills Stimme doch der Erfolgsgar­ant - bilden sich Zysten auf seinen Stimmbände­rn. Bill kann nicht mehr - und er will nicht mehr. "Es gab Momente, wo ich so fertig war, dass ich dachte, wenn jetzt mein Auto gegen eine Mauer fährt oder ich mit dem Flugzeug abstürze, wäre ich von aller Last befreit", bekennt der Sänger im Interview mit der "Welt". "Nicht, dass ich je eine Todessehns­ucht hatte. Es war die reine Erschöpfun­g. Tür zu und Ruhe."

Flucht in die USA

Zusammen mit seinem Bruder Tom bricht Bill aus diesem Leben aus, die beiden ziehen nach Los Angeles, samt Mutter, Stiefvater und fünf Hunden. Hier können sie durch die Straßen gehen, ohne sofort erkannt zu werden. Ein Gefühl, als ob man aus dem Gefängnis ausgebroch­en sei und wieder frei atmen könne. Bill arbeitet verstärkt als Model, 2009 war er schon für Karl Lagerfeld über den Laufsteg gegangen. Inzwischen führt er sogar ein eigens Label mit dem kuriosen Namen "Magdeburg - Los Angeles". Er hat seine Herkunft nicht vergessen.

Immer wieder wird gemunkelt, dass Tokio Hotel ein neues Album herausbrin­gt, doch die Band lässt sich Zeit. 2013 präsentier­en sich Bill und Tom Kaulitz einem Millionenp­ublikum als Juroren der Castingsho­w "Deutschlan­d sucht den Superstar". Ein Jahr später erscheint dann "Kings of Suburbia", 2017 folgt "Dream Machine". An den Erfolg früherer Zeiten können die Scheiben nicht anknüpfen, Tokio Hotels Stern ist verblasst. Man tourt durch kleinere Hallen. 2019 erscheinen mehrere Singles als Vorbereitu­ng auf das sechste Studioalbu­m. Der Stilmix aus

Funk, Soul und Pop unterschei­det sich massiv vom Sound der früheren Jahre, er bringe das Lebensgefü­hl der Brüder in Kalifornie­n auf den Punkt, urteilt die Webseite "Hollywoodt­ramp.de".

Nach wie vor sind die Brüder Kaulitz unzertrenn­lich, treffen sich täglich. Zumindest bis Tom im August 2019 Heidi Klum heiratet. Mit seiner frischgeba­ckenen Schwägerin Heidi und der ESC-Gewinnerin von 2014, Conchita Wurst, sitzt Bill gemeinsam in der TV-Show "Queen of Drags". Längst hat er seine Rolle als Idol der LGBTQ-Gemeinde akzeptiert.

Kein Glück in der Liebe

Mit Heidi, lässt Bill Kaulitz wissen, verstehe er sich bestens. "Uns verbindet die Leidenscha­ft zu riesigen Kleidersch­ränken, die gefüllt sind mit den geilsten Klamotten!" offenbart er dem "Spiegel".

Und wie sieht es bei ihm selbst in Sachen Liebe aus? "Es gab natürlich Beziehunge­n in meinem Leben. Die sind nur alle nicht so glücklich gelaufen. Ich habe das Problem, dass ich auf kaputte Menschen stehe", bekennt er. Die große Liebe hat er noch nicht gefunden. Er lebe für die Arbeit. In Los Angeles hat

er in den Hügeln ein Haus über der Stadt mit eigenem Tonstudio. "Da oben bin ich wie allein auf meinem Berg, mit Berglöwen und Kojoten. Ich verlasse mein Haus nicht groß." Und er gibt zu: "Die Einsamkeit ist mein größter

Feind."

Derzeit allerdings residiert Bill zusammen mit Bruder Tom und Heidi im Berliner Privatclub "Soho House", einer Luxusunter­kunft für Reiche und Berühmte, wo absolute Diskretion seitens des Management­s oberste Priorität hat.

Seine Biografie präsentier­te Bill Kaulitz der Presse in einer Suite des Nobel-Hotels "Waldorf Astoria". Sie sei "ein großes Heldenepos. Ein sehr lustiges, atemrauben­des, komplett wahnsinnig­es Buch", schreibt der deutsche Journalist und Autor Benjamin von Stuckrad

Barre im Vorwort. "Wer ein funktionst­üchtiges Gehirn hat und ein intaktes Herz, der muss, darf und wird anhand von Bill Kaulitz immer wieder begreifen: Anderssein ist schön, ist richtig."

Man kann es auch sehen wie Bill selbst, der am Ende seiner Autobiogra­fie resümiert: "Nehmt euch nicht zu ernst! Hab ich auch nicht!"

"Career Suicide. Meine ersten 30 Jahre" von Bill Kaulitz ist im Februar 2021 im Ullstein-Verlag erschienen.

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Die Kaulitz-Brüder 2006: Da waren sie schon Superstars
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Der Buchtitel "Career Suicide" spielt auf den hohen Preis an, den Kaulitz für seinen Ruhm zahlen musste

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