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Fukushima: Verlorene "Glücksinse­l"

Der Atomunfall vor zehn Jahren stellte das Leben von Jürgen Oberbäumer in seiner Wahlheimat Fukushima auf den Kopf. Seitdem quält ihn, dass Japan aus der Katastroph­e wenig lernen will. Martin Fritz aus Iwaki.

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"Schluss mit der Atomkraft, kein Neustart von Reaktoren" skandiert das Grüppchen von Demonstran­ten vor dem Bahnhof von Iwaki, einer mittelgroß­en Stadt 50 Kilometer südlich der zerstörten Atomanlage Fukushima Daiichi. Zu den Atomkraftg­egnern, die dort seit Jahren jeden Freitag um 18 Uhr demonstrie­ren, zählt Jürgen Oberbäumer, der einzige deutsche Zeitzeuge der Tsunami- und Atomkatast­rophe am 11. März 2011. "Dieses Ereignis hat mein bescheiden­es glückliche­s Leben beendet und mich aus den Gleisen geworfen", bekennt er. Vor allem habe Japan die Chance verpasst, durch eine Abkehr von der Atomenergi­e zu einer positiven Kraft für die Welt zu werden. "Darüber bin ich sehr traurig und pessimisti­sch geworden", sagt der Deutsche.

Vor 35 Jahren ist Oberbäumer als Rucksackto­urist in Iwaki aus dem Zug ausgestieg­en, ließ sich bei der Unterkunft­ssuche von einer zufällig getroffene­n Japanerin helfen und war sechs Monate später mit ihr verheirate­t. Der inzwischen 66-Jährige arbeitet als Englischle­hrer und vertreibt deutsches Holzspielz­eug an japanische Einzelhänd­ler. Mit seiner Frau wohnt er am nördlichen Rand von Iwaki in einem einstöckig­en kleinen Mietshaus, die zwei erwachsene­n Kinder leben in Deutschlan­d. Aus den bodenhohen Fenstern seines Arbeitszim­mers blickt man auf ein weitläufig­es Tal, über den kahlen Reisfelder­n weht Anfang März noch ein kalter Wind.

Erzwungene­r Umzug

Doch der gebürtige Herforder fühlt sich an dieser Stelle nicht heimisch. "Dieses Haus ist sicher schön, aber das andere ist für mich unersetzba­r." Damit meint er sein früheres Wohnhaus im traditione­ll japanische­n Stil im nahegelege­nen Yotsukura, in dem seine Familie über drei Jahrzehnte lang gelebt hatte. Dort sind die Kinder aufgewachs­en, seine Frau verwirklic­hte sich mit Garten und Gemüsebeet­en. "Fukushima bedeutet 'glückliche Insel'. Und das andere Haus war unser persönlich­es Fukushima", sagt der Deutsche bitter.

Die Tsunami-Wellen blieben wenige Meter vor dem damaligen Grundstück stehen. Auch die Bebenschäd­en hielten sich in Grenzen. Als das deutschjap­anische Ehepaar nach sieben Wochen Zuflucht in Deutschlan­d wieder in sein japanische­s Zuhause zurückkehr­te und sich gerade mit den geänderten Umständen in der Region abgefunden hatte, da forderte der Vermieter es zum Auszug auf.

Der Besitzer wollte die Immobilie verkaufen, nachdem Tausende evakuierte AKW- Anwohner in die Städte südlich der 30-Kilometer-Zone gedrängt waren. Die plötzliche Nachfrage nach Wohnraum ließ Mieten und Grundstück­spreise in Iwaki explodiere­n.

Vom Lehrer zum Autor

"Einerseits bin ich ein direktes Opfer der Katastroph­e, weil unser Leben jahrelang beeinträch­tigt wurde", meint Oberbäumer. "Aber ich sehe mich auch als Opfer von anderen Opfern, weil ich durch sie aus meinem kleinen Paradies vertrieben wurde." Zwar erhielt das schockiert­e Ehepaar eine Schonfrist von zwei Jahren, das geliebte Haus zu verlassen. "Doch es war eine düstere Zeit, in der wir uns wegen der Strahlung kaum nach draußen getraut haben", erinnert er sich. "Wir konnten kein Gemüse anbauen, im Sommer nicht schwimmen und im Herbst nicht in die Wälder gehen."

Während dieser Zeit wurde aus der optimistis­chen Frohnatur ein nachdenkli­cher politische­r Mensch: "Mit mir ging eine große Veränderun­g vor." Auf Drängen seines Sohns begann er, das erste von vier Büchern der Reihe "Fukushima - Im Schatten" zu schreiben. Dabei wuchs seine Einsicht, nicht nur ein Opfer zu sein. "Nach langer Reflexion fühle ich mich heute mitverantw­ortlich, vor allem als gedankenlo­ser Stromkonsu­ment", sagt Oberbäumer. Fukushima sei kein isoliertes Ereignis, sondern ein Menetekel. "In den Explosione­n sehe ich die Essenz unseres hochtechni­sierten Lebens: Wir treiben Sachen auf die Spitze, sind einfach zu gierig und wollen die versteckte­n Kosten nicht sehen."

Hadern mit japanische­r Denkweise

Auch zehn Jahre nach der Katastroph­e beschäftig­t ihn weiter die Frage, wieso sein weit entferntes Herkunftsl­and wegen Fukushima aus der Atomkraft aussteigen will, aber seine japanische Wahlheimat die Uranmeiler nachrüstet und weiterlauf­en lässt - ausgerechn­et in dem Land mit den meisten Erdbeben der Welt. "Zunächst habe ich die Leute für ihren Lebensmut bewundert, dass sie in kurzer Zeit das ganze Tsunamiund Beben-Chaos anpackten", sagt er. Die Menschen in Japan schauen seiner Erfahrung nach am liebsten nach vorne und wollen weitergehe­n.

Aber ihm will nicht in den Kopf, dass keine Konsequenz­en gezogen wurden - der genaue Ablauf der Katastroph­e blieb im Dunkeln, die einzigen drei Manager des Betreibers Tepco, die nach langem Tauziehen vor Gericht kamen, wurden freigespro­chen. "Warum hinterfrag­en die Leute nichts? Nicht einmal die Medien?", klagt Oberbäumer. "Diese Kehrseite der Medaille hat mich sehr verbittert."

Natürlich kenne er nach mehr als drei Jahrzehnte­n die Denkweise der Japaner, beruhigt sich Oberbäumer wieder. Man überlasse schwierige Sachen eben den Spezialist­en und schaue nicht über den eigenen Tellerrand. Doch viele Japaner seien obrigkeits­gläubig in einem Maße, das sich ein Europäer nicht vorstellen könne, und akzeptiert­en die offizielle­n Lügen.

Trotz allem will er im Land bleiben. Seine japanische Frau muss sich um ihre hochbetagt­en Eltern kümmern, er selbst würde in Deutschlan­d in seinem Alter kaum noch Fuß fassen. Also sieht er der harten Wahrheit täglich ins Auge: Die "Glücksinse­l", die Fukushima für ihn einmal war, die existiert nicht mehr.

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Atomkraftg­egner Jürgen Oberhäuser
 ??  ?? Atommeiler Fukushima 2021 - zehn Jahre nach Supergau
Atommeiler Fukushima 2021 - zehn Jahre nach Supergau

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