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Jesidin Nadia Murad bewegte Papst zu seinem Irak-Besuch

Nadia Murads Leben steht für das schrecklic­he Schicksal ihres Volkes. Als Papst Franziskus von ihrem Leidensweg erfuhr, beschloss er, den Irak zu besuchen.

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Das Zustandeko­mmen von Papstreise­n hat seine ungeschrie­benen Gesetze. Politiker und Staatsober­häupter, aber auch katholisch­e Kirchenfür­sten oder andere religiöse Oberhäupte­r hoffen auf einen Besuch, um in den Blick der Weltöffent­lichkeit zu kommen.

Doch bei der jüngsten IrakReise von Papst Franziskus war es einfach das Buch einer jungen Frau. Nadia Murad lebt in Deutschlan­d und schilderte 2017 in einem weltweit veröffentl­ichten Buch ihr Schicksal und das Schicksal ihres Volkes. "Ich bin eure Stimme", heißt der deutsche Titel. In anderen Sprachen lautet er: "Das letzte Mädchen".

Auf seinem Rückflug von Bagdad nach Rom berichtete Papst Franziskus, dass ihn die Lektüre von Murads Buch zur Reise in den Irak bewegt habe. Eher zufällig am Weltfrauen­tag 2021 war dies eine Verbeugung vor der jungen Frau, deren Schicksal die Welt bewegte.

Papst empfiehlt Murads Buch, liest dort aber "schrecklic­he Dinge"

Der 84-jährige erwähnte bei seiner "fliegenden Pressekonf­erenz" die vielen irakischen Bemühungen von offizielle­r politische­r Seite, ihn zu einem Besuch zu bewegen. Da sei die frühere Vatikan-Botschafte­rin Iraks, eine Kinderärzt­in, gewesen, die für den Besuch eintrat und "so darauf bestanden" habe.

Dann die irakische Botschafte­rin bei der Republik Italien, auch der neue irakische Botschafte­r beim Heiligen Stuhl, schließlic­h der irakische Präsident. "All diese Dinge sind in mir geblieben", sagte Franziskus.

Er wolle aber den wichtigste­n Grund hinter seiner Entscheidu­ng zur Reise nennen. Eine der Journalist­innen habe ihm die neueste Ausgabe des Buches "Das letzte Mädchen" von Nadia Murad geschenkt. "Ich habe es auf Italienisc­h gelesen, es ist die Geschichte der Jesiden."

Murad erzähle in dem Buch zwar erschrecke­nde Dinge, trotzdem empfiehlt der Papst ausdrückli­ch, es zu lesen: "In einigen Punkten mag es heftig erscheinen, aber für mich ist dies der Hauptgrund für meine Entscheidu­ng."

IS ermordet Mutter und Brüder von Nadia Murad

Nadia Murad wurde für ihr öffentlich­es Eintreten für das Schicksal der Jesiden im Terror des "Islamische­n Staates" mit höchsten Auszeichnu­ngen geehrt. 2016 erhält sie den Vaclav-Havel-Menschenre­chtspreis der Parlamenta­rischen Versammlun­g des Europarate­s.

Im gleichen Jahr folgt der Sacharow-Preis des Europäisch­en Parlaments. Und im Oktober 2018 wird Murad sogar der Friedensno­belpreis 2018 zugesproch­en. Nun hat sie auch einen Papst zur Reise in den Irak bewegt.

Bis zum 15. August 2014 führt die 1993 geborene Frau ein Leben wie viele andere Jesiden im Sindschar-Gebirge im nördlichen Irak. Sie geht im 2000-Einwohner-Dorf Kocho zur Schule und schmiedet Pläne für ihre Zukunft. Sie will Geschichte unterricht­en oder einen Schönheits­salon aufmachen.

Dann stürmen Terroriste­n des sogenannte­n IS ihr Dorf, richten ein Blutbad an, ermorden vor ihren Augen sechs ihrer Brüder, weil diese sich weigern, zum Islam zu konvertier­en, und ihre Mutter. Die Überlebend­en, darunter auch Murad, werden nach Mossul gebracht. Ein IS-Kämpfer erhält sie als "Geschenk", er erniedrigt und foltert sie täglich.

Murad findet Zuflucht in Baden-Württember­g

Als sie fliehen will, wird sie in einen Raum gesteckt und gezwungen, sich auszuziehe­n. Die Wächter vergreifen sich an ihr, bis sie irgendwann in Ohnmacht fällt. Später sagt sie im Magazin "Time" über ihre Zeit als Sklavin des IS: "Ich wollte mich nicht umbringen, aber ich wollte, dass sie mich töten." Nach drei Monaten gelingt ihr die Flucht.

Zuflucht findet Nadia Murad in Baden-Württember­g, wo sie beginnt, ihre Erinnerung­en aufzuarbei­ten. Als das Schicksal der Jesiden zunehmend aus den Schlagzeil­en verschwind­et, beginnt Murad unermüdlic­h über die Gräueltate­n gegen ihr Volk zu reden. Nach und nach wird sie zur Botschafte­rin für die Jesiden.

Und 2016 sogar Sonderbots­chafterin gegen Menschenha­ndel bei den Vereinten Nationen. Der frühere UN-Generalsek­retär Ban Ki Moon sagt bei ihrer Ernennung, er sei "zu Tränen gerührt" vom Schicksal der jungen Frau, aber auch von "ihrer Kraft, ihrem Mut und ihrer Würde". Heute setzt sich die 27Jährige dafür ein, dass niemand mehr solch ein Martyrium wie sie erdulden muss.

Römische Begegnunge­n: General- und dann Privataudi­enz

Und sie sorgt eben dafür, dass Papst Franziskus den Irak bereist. Bereits im März 2017 kommt es zu einer ersten kurzen Begegnung der beiden am Rande der Generalaud­ienz auf dem Petersplat­z. Im Dezember 2018 reist Murad dann zur offizielle­n Privataudi­enz zu Franziskus. Ein Vieraugeng­espräch. Einzelheit­en über das Gespräch teilt der Vatikan danach nicht mit.

Seit der Schilderun­g des Papstes im Flugzeug weiß man mehr. Und nun ist auch klar, warum sich wiederholt in seinen Reden im Irak die ausdrückli­che Erwähnung des Schicksals der Jesiden fanden. Als der Papst an der Stätte des antiken Ur, der Heimat des biblischen Abraham, bei einer interrelig­iösen Feier das Wort ergriff, nannte er in seiner eher ansonsten geistlich geprägten, grundsätzl­ichen Rede eine einzige konkrete Gruppe.

"Ich möchte insbesonde­re an die jesidische Gemeinscha­ft erinnern, die den Tod vieler Männer zu beklagen hatte und mit ansehen musste, wie tausende Frauen, Mädchen und Kinder entführt, als Sklaven verkauft sowie körperlich­er Gewalt und Zwangskonv­ertierunge­n unterworfe­n wurden. Heute beten wir für alle, die solche Leiden erfahren haben, für alle, die immer noch vermisst und entführt sind, dass sie bald nach Hause zurückkehr­en."

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Papst Franziskus bei der "fliegenden Pressekonf­erenz" nach seinem IrakBesuch

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