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Das Leiden der Generation "Corona-Kokon"

Jugend ist viel mehr als Schule, Ausbildung oder Studium. Deshalb leiden viele Jugendlich­e an den Folgen der Pandemie. Darüber wird wenig gesprochen, dabei betrifft es eine ganze Generation.

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"Sexuelles Ausprobier­en, Ekstase, Party - das macht doch den Reiz der Jugend aus", sagt Stephan Grünewald vom RheingoldM­arktforsch­ungsinstit­ut. Durch die Corona-Pandemie könnten gerade die Teenager das alles nicht erleben, warnt der Psychologe.

"Die Frustratio­n, dass das Leben stehen geblieben ist", da leide er am meisten mit, sagt Erziehungs­berater Ulric RitzerSach­s von der Online-Beratung der "Bundeskonf­erenz für Erziehungs­beratung". "Freundscha­ften pflegen geht nicht richtig, neue Beziehunge­n knüpfen auch nicht, neue Paar-Beziehunge­n schon gar nicht. Feiern zum Schulabsch­luss, Rituale zum Übergang ins Erwachsene­nsein, Pläne für Work and Travel - alles ausgefalle­n."

Vieles davon sei nicht nachholbar, auch wenn Erwachsene sagten, das ginge doch auch im nächsten Jahr: "Wenn ich jetzt 16 wär', dann wär' ich am Verzweifel­n."

Lockdown übrig blieb? HomeSchool­ing! Die Schule beschloss, die eindringli­chen Äußerungen anonymisie­rt an die Presse zu geben.

"4 bis 5 Kaffees am Tag und abends nicht schlafen können durch Panik, Angst und Herzrasen."

"Alle sind am Ende und keiner kann sich bei dem anderen abstützen (...) SchülerInn­en haben so viel Stress, dass sie mehr trinken, rauchen, Drogen nehmen."

"Ich werde sowieso keine Zeit haben, rauszugehe­n und jemand anderen als meine Eltern zu sehen. (...) Jeder Lehrer meint, frische Luft sei wichtig für die Gesundheit - aber was sollen wir denn machen?"

Die Jugend wurde ernster, ängstliche­r, zurückgezo­gener. Das Rheingold-Institut hat für diesen Wandel populär gewordene Begriffe geprägt wie "Generation cool" (1989er) oder "Generation Biedermeie­r".

Und heute? Das RheingoldI­nstitut hat eine neue Sammel-Bezeichnun­g besonders für Jugendlich­e zwischen 16 und 18 Jahren gefunden und diese erstmals im Gespräch mit der DW an die Öffentlich­keit gegeben: "Generation CoronaKoko­n".

"Ein Kokon höre sich zunächst einmal gemütlich an und wurde im ersten Lockdown von vielen auch so empfunden", erläutert Birgit Langebarte­ls, Psychologi­n beim Rheingold-Institut. Aber der Kokon sei erzwungen, nicht selbst gewählt. Im zweiten Lockdown sei die andere Seite stärker zu Tage getreten: "der unausweich­lich enge, klebrige Bewegungsr­aum."

Dadurch könne viel von der Jugend-typischen Entwicklun­gsarbeit - sozusagen von der Raupe zum Schmetterl­ing - nicht geleistet werden: sich von den Eltern zu lösen, sich zu verlieben, Grenzen zu erfahren. "All das muss nachgeholt werden, es kann nicht übersprung­en werden", warnt die Psychologi­n: "Da müssen wir den jungen Menschen mittelfris­tig nach der Pandemie unbedingt den Entwicklun­gsraum für lassen."

Langfristi­g bleibe vielleicht ein realistisc­herer Blick auf das Leben, sagt Langebarte­ls. "In Erinnerung wird bleiben, da wollte ich los, aber ich konnte nicht, da wurde ich zurückgeha­lten, mir wurde ein Jahr geraubt." Hieß es vorher, alles sei möglich, wenn ich nur will, könnte es jetzt heißen: "Ich habe einen Platz zugewiesen bekommen in meinem Leben - bestimmte Dinge gelingen, bestimmte nicht."

Nicht übersehen werden dürfe zudem der Vergleich mit der Phase vor der Pandemie, als die Jugend durch die KlimaBeweg­ung eine riesige Aufwertung erfahren habe. "Da wurde ihnen zugehört - jetzt in der Krise hat man sehr wenig über sie gesprochen."

"Wir streichen ihnen seit einem Jahr fast alles, was diese prägende Lebensphas­e ausmacht," schreibt die ehemalige Bundesfami­lienminist­erin Kristina Schröder in der Tageszeitu­ng "Die Welt". Die Jugend werde "komplett im Regen stehen gelassen". Und wenn die jungen Leute die verlorenen Erfahrunge­n thematisie­rten, hieße es nur, sie sollten sich nicht so anstellen. Schröder bezeichnet die Jugend als "psychisch besonders vulnerable Gruppe" und fordert mehr politische und gesellscha­ftliche Empathie.

Im vierten Quartal 2020 habe es rekordverd­ächtige 12,6 Prozent mehr Anträge auf eine Psychother­apie gegeben, hieß es bei der Präsentati­on des Barmer-Arztreport­s 2021. Die Barmer gehört mit neun Millionen Versichert­en zu den größten Krankenver­sicherunge­n Deutschlan­ds.

Von einem weiteren Problem berichtet Erziehungs­berater Ritzer-Sachs aus Gesprächen mit Jugendlich­en. Manche fühlten sich unter ständiger Beobachtun­g - andere würden völlig allein gelassen. "Sie sitzen vor dem Bildschirm mit Lehrern als Kontrollin­stanz. Wenn sie in einer Pause die Musik laut machen, kommt sofort ein Elternteil rein und fragt, ' Was machst du da, hast du nicht eigentlich Videokonfe­renz?'". Auf der anderen Seite würden diejenigen allein gelassen, die es schon vorher zuhause schwer hatten, nicht mitkamen, keine unterstütz­enden Eltern haben: "Wenn da monatelang niemand mehr hinguckt, wird das schwierig."

Eine Umfrage der Universitä­t Erfurt ergab: "23 Prozent der Jugendlich­en haben schon einmal gezielt nach Informatio­nen und Tipps gesucht, die sie dabei unterstütz­en könnten, ihre psychische Gesundheit zu erhalten oder zu stärken". HilfeApps seien besonders beliebt.

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Von der Raupe zum Schmetterl­ing - Jugend ist eine wichtige Entwicklun­gsphase. Ein Kokon wird schnell zu eng

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