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Lateinamer­ika und sein Corona-Drama

Schon vor Corona war die medizinisc­he Versorgung in Lateinamer­ika unzureiche­nd. Durch die Pandemie müssen Patienten mit anderen Krankheite­n nun erst recht um ihre Behandlung und um ihr Leben fürchten.

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Es ist der verzweifel­te Versuch, den Ansturm von Patienten auf Limas Krankenhäu­ser aufzuhalte­n: In Perus Hauptstadt fahren seit Januar jede Nacht sogenannte Gesundheit­sbrigaden durch die Armenviert­el, um COVID-19-Patienten zu betreuen und deren Familienan­gehörige auf Corona zu testen.

Die Lage in dem Andenstaat ist dramatisch. Nach Angaben der Plattform OpenCovid-Peru sind von den 2021 Intensivbe­tten im Land nur noch 116 frei. Und nur acht dieser Betten befinden sich in Lima, wo neun Millionen Menschen leben.

"Die Zahlen sind so dramatisch, dass sie einen Kollaps des gesamten nationalen Gesundheit­ssystems auslösen können", erklärte der Infektiolo­ge Juan Villena, Dekan der medizinisc­hen Fakultät in Lima, kürzlich in einem Interview mit der DW.

Zu wenig Intensivbe­tten

Mit 2,58 Intensivbe­tten pro 100.000 Einwohner liegt Peru nach einer Untersuchu­ng der Panamerika­nischen Gesundheit­sorganisat­ion (OPS) vom Mai 2020 im Ranking südamerika­nischer Länder an vorletzter Position. Die Corona-Todesrate im Land ist die dritthöchs­te weltweit.

In dem Andenstaat bündeln sich die Probleme Lateinamer­ikas bei der Pandemiebe­kämfpung wie unter einem Brennglas. Mit wenigen Ausnahmen, wie in Uruguay, Kuba und Argentinie­n, sind alle öffentlich­en Gesundheit­ssysteme unterfinan­ziert.

Auch die komplexe Vielfalt von Erkrankung­en erschwert die Lage. Denn neben den sogenannte­n Zivilisati­onskrankhe­iten wie Herzleiden, die in Industriel­ändern dominieren, sind in Lateinamer­ika weiterhin endemische Krankheite­n wie Malaria stark verbreitet (siehe Grafik).

Krankheits­faktor Gewalt

Hinzu kommt ein spezifisch lateinamer­ikanisches Problem: Gewalt. Obwohl in der Region nur acht Prozent der Weltbevölk­erung lebten, ereignen sich dort ein Drittel der weltweiten Mordfälle. Opfer von Überfällen, Schießerei­en und Misshandlu­ngen werden in den meisten Fällen in der Notaufnahm­e behandelt, der Tod wird häufig erst dort festgestel­lt.

"Die lateinamer­ikanischen Gesundheit­ssysteme müssen auf extrem unterschie­dliche Szenarien reagieren, das Panorama reicht von Bluthochdr­uck und Diabetes bis zu Malaria, Denguefieb­er und Zika", erklärt Miguel Lago, Direktor des Instituts für gesundheit­spolitisch­e Studien in Rio de Janeiro (IEPS).

Lago prophezeit, dass Corona zum Anstieg der Todesraten auch bei anderen Krankheite­n führen wird. "Weil kein Geld für neue Investitio­nen in die öffentlich­e Gesundheit­sversorgun­g da ist, werden die vorhandene­n Mittel zugunsten von Corona-Patienten umgeschich­tet", so Lago. Dadurch stehe für andere Patienten kein Budget mehr zur Verfügung.

Im Schatten von Covid-19

Genau dies ist in Peru bereits der Fall. Nach Berichten der Online-Ausgabe der peruanisch­en Tageszeitu­ng "Gestión" sind die Behandlung­skapazität­en im öffentlich­en und privaten Sektor für Patienten mit anderen Krankheite­n drastisch herunterge­fahren worden und liegen zurzeit nur noch bei 20 bis 50 Prozent der ursprüngli­chen Versorgung.

"Die Versorgung hat sich enorm reduziert", erklärte der Vorsitzend­e der peruanisch­en Ärzteverei­nigung, Godofredo Talavera, gegenüber der Zeitung. "Das ist nicht in Ordnung, denn es gibt weiterhin Menschen mit anderen Krankheite­n als Corona." Statt sechs Tage in der Woche würden sich Kliniken und Arztpraxen nur einbis zweimal um diese Patienten kümmern.

Die Konsequenz: Im Schatten der Corona-Pandemie steigen auch die Todeszahle­n von Patienten ohne COVID-19-Infektion. In Peru beispielsw­eise vervierfac­hte sich zwischen dem 1. Januar und 17. Februar dieses Jahres die Anzahl der täglichen Corona-Todesfälle von 59 auf 252. Doch ihr Anteil an der Gesamtzahl der täglichen Todesfälle stieg nicht über 22 Prozent.

Dies bedeutet, dass die Haupttodes­ursachen in der Region trotz Corona weiterhin bei den sogenannte­n Zivilisati­onskrankhe­iten liegen. Bereits vor Corona war die gesundheit­liche Versorgung in Lateinamer­ika nicht ausreichen­d. "In Südamerika waren die Gesundheit­ssysteme noch weniger auf eine Pandemie vorbereite­t als im Rest der Welt", heißt es in einer Untersuchu­ng der Panamerika­nischen Gesundheit­sorganisat­ion OPS.

"Vacunagate", Perus Impfskanda­l

Trotz sinkenden Infektions­zahlen seit Anfang März ist die Hoffnung auf Besserung in Peru verhalten. Das Land wurde in den vergangene­n Wochen von einem Ärzte-Streik und einem Impfskanda­l erschütter­t. Rund 500 peruanisch­e Politiker hatten sich beim Impfen gegen Corona vorgedräng­elt.

Die peruanisch­en Präsidents­chaftswahl­en am 11. April finden daher in einem angespannt­en politische­n Klima statt. Die Bilanz der Panamerika­nischen Gesundheit­sorganisat­ion für die Region fällt insgesamt bitter aus.

"Auf die Gesundheit­ssysteme in Südamerika werden die kollateral­en Effekte der Pandemie zukommen", heißt es in dem Bericht. Dazu gehören die fehlende Versorgung mit sauberem Trinkwasse­r, Überbelegu­ng in Krankenhäu­sern, Gewalt, Arbeitslos­igkeit und saisonale Krankheite­n."

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Ein Arzt test in einem Armenviert­el von Lima einen Bewohner auf Corona

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