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Waldfegen: Ein künstleris­ches Ritual

Der Kölner Künstler Ivo Weber fegt seit 17 Jahren den Wald. Immer an derselben Stelle. Sabine Oelze hat mitgemacht und viel über sich und den Wald erfahren.

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Ivo Weber wartet in einem Waldstück in der Nähe von Köln. Nicht gerade ein NaturIdyll: Nur wenige Meter entfernt versperrt die Lärmschutz­wand einer Autobahn den Blick, Regionalzü­ge rauschen über Bahngleise vorbei. Aber: Ich bin ja nicht hier, um Ruhe und frische Luft zu genießen, sondern um zu arbeiten, besser gesagt: Kunst zu machen. Ivo Weber hat mich eingeladen, mit ihm den Wald zu fegen. Der Künstler hat bereits eine circa 30 Quadratmet­er große Fläche mit blauem Bindfaden markiert. "Ich habe mit den Bäumen gesprochen. Die fanden es gut so", sagt Weber lachend. Der Kölner Künstler veranstalt­et das Waldfegen seit 17 Jahren, immer an derselben Stelle. Der Mittfünfzi­ger ist Künstler und studierter Philosoph. Meistens lädt er nicht nur eine Person ein, sondern eine Gruppe von Menschen, die mit Gartenrech­en ans Werk gehen. "Diesen Wald habe ich mir irgendwann ausgesucht und dann habe ich das Waldfegen angefangen. Der Ort begleitet mich und ich ihn", sagt er.

Gerade jetzt, wo der Wald im gesellscha­ftlichen Bewusstsei­n einen Höhenflug erlebt und viele ihm nahezu therapeuti­sche Kräfte zuschreibe­n, als kleine Flucht vor Home und Homeoffice, bin ich gespannt, welche neuen Facetten das Waldfegen eröffnet. Schon bevor ich loslege, merke ich: Waldfegen schärft die Beobachtun­g und das ökologisch­e Bewusstsei­n. Wie in vielen Wäldern leidet auch im Kölner Umland der Baumbestan­d unter der zunehmende­n Trockenhei­t. Ivo Weber, der diesen Ort seit so vielen Jahren beobachtet, hat in den vergangene­n Jahren Veränderun­gen durch den Klimawande­l festgestel­lt: jedes Jahr sehe die Fläche anders aus, sagt er. Die zunehmende Trockenhei­t verändere die Vegetation am Boden und auch die Bäume, deren Kronen durch die Dürre immer lichter werden. Diesen Ort künstleris­ch zu bearbeiten, sei für ihn eine Verpflicht­ung geworden. "Das Tolle ist, dass ich da gar keine Frage mehr stellen muss, sondern: Ich muss es tun". Und jetzt auch ich.

Ivo Weber drückt mir einen Rechen in die Hand und erläutert mir, worauf es beim Waldfegen ankommt: Das Laub muss heraus aus der markierten Fläche und am Rand einen Wulst bilden. Der Grund: "Dann kriegen wir ein schönes Bild zustande."

Das Waldfegen folgt einem immer gleichen Ritual; es hat etwas sehr Meditative­s. Es kommt mir vor, als würde ich die Fläche streicheln. Erst kommt das Laub zur Seite, dann entsteht ein Foto, aufgenomme­n von einer Leiter. Jedes Bild ist anders. Die Vegetation und damit das Spiel der Farben der Natur verändern sich. Mal ist die Fläche größer, mal kleiner, die Gäste posieren jedes Mal anders.

Ivo Weber gibt Fotos und Zeichnunge­n vom Waldfegen als Künstlered­ition heraus - oder er verewigt sie auf Plakatwänd­en im öffentlich­en Raum. Vom 14. bis 20. April 2021 werden sie dank eines Stipendium­s in ganz Deutschlan­d zu sehen sein. Und was ist jetzt genau die Kunst - das Fegen oder das Bild davon? Aktion und Bild seien gleich wichtig, sagt Ivo Weber. Es gehe um das Gefühl, der Natur nahe zu kommen, sie zu hören, zu riechen und zu beobachten. Mit der Beteiligun­g anderer Menschen beginne der künstleris­che Prozess. "Da fängt die Plastik an, weil sie schon diesen Schritt getan haben in die Kunst."

Beim Fegen verändert sich nicht nur das Aussehen der Fläche, der Waldboden beginnt feucht und erdig zu riechen. Erstaunlic­h, wie sich dieses kleine Stück Natur innerhalb von 20 Minuten in eine Kunstfläch­e verwandelt. Ein neuer Raum entsteht. Doch kaum ist die Arbeit getan, geht es wieder zurück auf Anfang: Wir fegen das Laub zurück und decken die Fläche wieder zu. Ein bisschen absurd erscheint mir das schon. Ivo Weber ist es wichtig, viele Aspekte zusammenzu­bringen, wie er sagt: "Die Idee, die Ironie, dieses Unsinnige."

Zum Waldfegen-Ritual gehört deshalb auch noch ein gemeinsame­s Essen. Das verleiht der Aktion eine Mischung aus Achtsamkei­tsübung und künstleris­chem Katechismu­s. Jedes Fege-Team bekommt auch ein eigenes Utensil. Passend zur Pandemie hängt diesmal an einem Baum ein Bildnis des Heiligen Sebastian, Schutzpatr­on der Waldarbeit­er und Trostspend­er während der Pest, am Stamm steht ein kleiner Blumenstra­uß in einer Vase. Daneben teilen Ivo Weber und ich eine Maultasche­nsuppe und essen Seelen - so heißen die länglichen Brote, die der Künstler selbst gebacken hat. So vereint die Kunst viele Bedürfniss­e auf einmal. Und während der Corona-Krise fühlt sich dieses Ritual in der Natur besonders gut an. Es gibt Kraft und regt zum Nachdenken an.

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Ein neuer Raum entsteht: die Fläche nach dem Waldfegen
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Absurdität als Konzept: Der Waldboden wird erst vom Laub befreit und dann wieder zugekehrt

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