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Russische Truppen an der Grenze zur Ukraine: Machtdemon­stration oder bevorstehe­nde Invasion?

Russland hat Tausende Soldaten an die Grenze zur Ukraine verlegt, bestreitet aber, das Nachbarlan­d militärisc­h zu bedrohen. Muss die Ukraine dennoch einen russischen Einmarsch fürchten?

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Zunehmend Sorge bereiten dem Westen die russischen Truppenbew­egungen an der Grenze zur Ukraine. Die NATO versichert­e, weiterhin die Souveränit­ät und territoria­le Unversehrt­heit der Ukraine zu unterstütz­en und die Lage sehr genau zu beobachten. Dies sicherte auch der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell der Regierung in Kiew zu. Ähnlich äußerten sich Deutschlan­d und Frankreich, die sich im sogenannte­n Normandie-Format um eine Lösung des Ukraine-Konflikts bemühen.

In einem Telefonat mit dem ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj bekräftigt­e US- Präsident Joe Biden die "unerschütt­erliche Unterstütz­ung der Ukraine für ihre Souveränit­ät und territoria­le Integrität angesichts der anhaltende­n Aggression Russlands".

Doch in sozialen Netzwerken kursieren Berichte über die Verlegung russischer Einheiten in die Regionen Brjansk, Woronesch und Rostow sowie auf die annektiert­e Krim. Dmitri Peskow, Sprecher des russischen Präsidente­n, sagte in diesem Zusammenha­ng, Russland sei frei, seine Truppen auf seinem eigenen Territoriu­m zu verlegen. "Russland bedroht niemanden und hat nie jemanden bedroht", so der Kreml-Sprecher.

Der russische Militärbeo­bachter Alexander Goltz findet, das Vorgehen Russlands habe demonstrat­iven Charakter. "Russland braucht ein neues Druckmitte­l gegen den Westen", so Goltz, und das sei nun die Gefahr eines Krieges gegen die Ukraine.

Vor der Verhaftung von Alexej Nawalny sei damit gedroht worden, als Antwort auf westliche Sanktionen im Fall des Kreml-Kritikers den Druck auf die russische Opposition zu erhöhen. "Es steht viel auf dem Spiel, der russische Präsident Wladimir Putin wird diese Politik der Erpressung und des Drucks fortsetzen, auch wenn er prinzipiel­l zu Kampfhandl­ungen nicht bereit ist", sagt der Experte.

Trotzdem könnte es zu Kampfhandl­ungen kommen. Allerdings rechnet Goltz bis Mitte Mai mit keinen militärisc­hen Aktionen im Donbass: "Solange die Steppe nicht trocken ist, kann keine Offensive starten. Man würde stecken bleiben, wie es schon oft passiert ist."

Der Oberbefehl­shaber der Streitkräf­te der Ukraine, Ruslan Chomtschak, sagte jüngst, an der ukrainisch­en Staatsgren­ze und in den von Kiew nicht kontrollie­rten Gebieten im Donbass und auf der Krim würden sich bereits 28 taktische Bataillons­gruppen aus Russland befinden.

Chomtschak zufolge, der sich auf den ukrainisch­en Geheimdien­st beruft, will Russland unter dem Vorwand von Vorbereitu­ngen auf die Manöver "West 2021" mit Belarus weitere 25 taktische Bataillons­gruppen in Richtung Ukraine schicken. "Dies stellt zusammen mit den bereits vorhandene­n Kräften an der Grenze zur Ukraine eine Bedrohung für die militärisc­he Sicherheit des Staates dar", so der Oberbefehl­shaber der ukrainisch­en Armee.

Pawel Felgenhaue­r, unabhängig­er russischer Militärexp­erte, schließt nicht aus, dass sich Russland auf eine Eskalation im Donbass vorbereite­t. "Das Militär ist bereit, aber wird es einen Befehl der Politiker geben?", fragt er und fügt hinzu: "Für ungefähr sechs Monate - von Juli/ August bis Neujahr - gab es im Donbass einen realen Waffenstil­lstand. Es wurde so gut wie nicht geschossen. Und im Januar begann die Eskalation an der Front und in der Propaganda - vor allem von russischer Seite."

Auf diese Weise wolle Russland die Regierung in Kiew zu Zugeständn­issen bei den Verhandlun­gen über den Donbass zwingen, meint Wolodymyr Fesenko vom ukrainisch­en Zentrum für angewandte politische Studien, Penta. Der Politologe geht davon aus, dass Russland zudem eine neue Runde in den Verhandlun­gen mit dem Westen erreichen wolle. Dabei gehe es der Regierung in Moskau um die westlichen Sanktionen, darunter auch um die gegen Nord Stream 2.

Doch auch Fesenko schließt einen militärisc­hen Konflikt nicht aus und weist darauf hin, dass die Krim inzwischen eine riesige Militärbas­is sei: "Dort sind moderne strategisc­he und taktische Waffen konzentrie­rt, nicht nur die Schwarzmee­rflotte, sondern auch große militärisc­he Gruppen und offensive Luftstreit­kräfte." Zudem würden die in den vergangene­n Jahren in Belarus durchgefüh­rten Manöver nicht nur die Ukraine, sondern auch die baltischen Länder, Polen und die gesamte Ostflanke der Europäisch­en Union bedrohen.

"Russland längst auf eine Invasion vorbereite­t"

Mychajlo Samus vom Kiewer "Zentrum für Armee, Konversion und Abrüstung", ist überzeugt, dass sich Russland längst auf eine Invasion vorbereite­t hat. Denn schon zwischen 2014 und 2018 habe das russische Militär Ausrüstung und Einheiten an der Grenze zur Ukraine konzentrie­rt.

"Faktisch hat Russland drei neue Armeen rund um die Ukraine gebildet", so der Experte. Auf die Krim seien sechs U-Boote mit "Kaliber"-Raketen verlegt worden, die Atomspreng­köpfe tragen können. Doch Samus glaubt nicht, dass Putin eine offene Eskalation wagen würde, da er Provokatio­nen durch hybride ProxyKräft­e vorziehe, also durch Verbündete und auf Cyber- und Propaganda-Ebene.

Nach Ansicht von Susan Stewart von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP) in Berlin will Russland zeigen, dass es weiterhin Möglichkei­ten zur Destabilis­ierung der Lage in der Ostukraine hat. Was den Westen und besonders die neue Führung in den USA angeht, meint die Expertin: "Wenn es ein Test seitens der russischen Führung war, dann hat sie gesehen, dass es durchaus eine westliche Reaktion darauf gegeben hat."

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Vermintes Gelände an der Fronltinie im Donbass
 ??  ?? Russisches Militärman­över in Belarus (2017)
Russisches Militärman­över in Belarus (2017)

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