Deutsche Welle (German edition)

Corona: Wie Jugendlich­e psychisch leiden

Die Pandemie hat auch zu einem sprunghaft­en Anstieg psychische­r Erkrankung­en geführt. Besonders betroffen sind dabei Kinder und Jugendlich­e. Die DW hat einige von ihnen in Belgien besucht.

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Eingebette­t in das grüne Städtchen Braine l'Alleud in Belgien liegt ein Krankenhau­s für Jugendlich­e in akuter psychische­r Notlage. Hier erhalten sie besondere Betreuung und Unterstütz­ung - oft nach Selbstmord­versuchen oder traumatisc­hen Erfahrunge­n.

"Corona war einfach zu viel für mich, ich bin komplett zusammen gebrochen ", erzählt die 17jährige Alexandra*, die im Februar in die Einrichtun­g kam, nachdem ihr die Ereignisse des Jahres 2020 einfach über den Kopf gewachsen waren.

"Es war sehr stressig, weil mein Vater zu einer Hochrisiko­gruppe gehört. Also musste ich größtentei­ls von meiner Familie isoliert werden", erzählt sie der DW. "Ich musste alleine essen, alleine bleiben, ich konnte meine Eltern nicht umarmen. Es war so einsam, ich fühlte mich von der Welt abgeschnit­ten."

Alexandra ist ein Adoptivkin­d und leidet seit langem unter Verlustäng­sten. Die Einschränk­ungen durch das Coronaviru­s, sagt sie, hätten ihre Probleme zwar nicht verursacht. Aber die Pandemie habe ihr mühsam aufrechter­haltenes seelisches Gleichgewi­cht komplett zum Einsturz gebracht.

Volle Jugendpsyc­hiatrien Alexandra ist bei weitem nicht die Einzige, der das Coronaviru­s derart schwer zu schaffen macht. Seit Januar sind die Anfragen für eine Aufnahme in diese psychiatri­sche Einrichtun­g sprunghaft angestiege­n. "Auch alle anderen Stationen in Belgien sind voll", erklärt Stationsle­iterin Sophie Maes zwischen Telefonate­n und therapeuti­schen Gesprächen. "Sie können keine neuen Patienten aufnehmen, aber es kommen immer neue

Anfragen rein. Nur: Für wen soll man sich entscheide­n? Für den selbstmord­gefährdete­n 15Jährigen oder den selbstmord­gefährdete­n 16-Jährigen? Es ist eine unmögliche Wahl", sagt sie und schüttelt den Kopf.

Viele der Teenager, die jetzt Hilfe suchen, kämen unter normalen Umständen mit ihren Emotionen klar, so Maes. Aber nach einem Jahr Wechsel zwischen Präsenzunt­erricht und Homeschool­ing, nach immer wieder enttäuscht­en Hoffnungen und Monaten ohne Sozialkont­akte kämen sie nicht mehr zurecht.

"Beim Diskurs um das Coronaviru­s und die Jugendlich­en geht es sehr viel auch um Schuld", sagt Maes. "Ganz oft hören sie: 'Du selbst bist nicht krank, du bist auch nicht in Gefahr, aber du bist eine Gefahr für andere, also musst du Opfer bringen, um die zu schützen, die du liebst.' Das kann eine wirklich giftige Kombinatio­n sein."

Auch die Zahl der Missbrauch­sfälle steigt

Charleroi ist nur 30 Autominute­n von Braine l'Alleud entfernt. Hier, in der jugendpsyc­hiatrische­n Klinik "Vincent Van Gogh", spielt der 12-jährige Marc* gerade ein Brettspiel. "Ich bin hierhergek­ommen, weil ich eine Pause brauchte", sagt er achselzuck­end. "Wissen Sie, im Lockdown ist es nicht gerade einfach mit meiner Familie ...", fügt er hinzu, ohne näher darauf einzugehen.

Krankenhau­spsychiate­r Rudy Guillaume erklärt, dass viele der Kinder hier aus schwierige­n familiären Verhältnis­sen kommen. "Mindestens ein Drittel unserer neuen Patienten", so Guillaume, "leidet unter posttrauma­tischem Stress, nachdem sie in ihren Familien schwer vernachläs­sigt oder missbrauch­t wurden. Oft haben diese Misshandlu­ngen mit dem engen Zusammenle­ben während des Lockdowns zu tun. Die Probleme der Teenager, die wir jetzt hier unterbring­en können, sind komplexer als die, die wir normalerwe­ise behandeln."

Teenager in ganz Europa haben zu kämpfen

Das sei keineswegs nur ein belgisches Phänomen, erklärt Jana Hainsworth, Generalsek­retärin der gemeinnütz­igen Kinderrech­tsorganisa­tion Eurochild. Ihre Organisati­on, die Kinderhilf­sorganisat­ionen und Kinderrech­tsgruppen in 35 europäisch­en Ländern vertritt, schlägt wegen der Auswirkung­en von COVID-19 auf die psychische Gesundheit von Menschen unter 18 Jahren auf dem ganzen Kontinent Alarm.

Eurochild veröffentl­ichte erst kürzlich eine EU-weite Studie unter 10.000 befragten Kindern. Jedes fünfte gab an, sich die ganze oder die meiste Zeit unglücklic­h zu fühlen. Hamburger Forscher haben derweil herausgefu­nden, dass der Anteil der deutschen Kinder und Jugendlich­en mit psychische­n Problemen von 10 Prozent vor der Pandemie auf 18 Prozent bis Mitte 2020 angestiege­n ist.

Europas Regierunge­n, sagt

Hainsworth im Gespräch mit der DW, hätten in dieser Krise schon viel früher mehr auf die Jugendlich­en hören müssen. "Es gab unverhältn­ismäßige Maßnahmen, deren Auswirkung­en auf das tägliche Leben der Kinder so dramatisch waren, dass die Narben davon noch lange nicht verheilen", ist sie überzeugt. "Hätte man die Perspektiv­e der Kinder berücksich­tigt, dann wären einige dieser Maßnahmen nicht so dramatisch ausgefalle­n."

Neue EU-Strategie zu Kinderrech­ten

Die Europäisch­e Kommission präsentier­te letzte Woche ihre erste EU-weite Strategie zum Schutz von Kinderrech­ten und versprach, den Zugang zu psychosozi­aler Unterstütz­ung zu erleichter­n sowie eine neue EUPlattfor­m für die Beteiligun­g von Kindern einzuricht­en.

Der EU- Kommissar für Beschäftig­ung, Soziales und Integratio­n, Nicolas Schmit, sagte, die bestehende­n Ungleichhe­iten unter den unter 18-Jährigen hätten sich im letzten Jahr verschlimm­ert.

"Wir müssen diesen gefährlich­en Kreislauf durchbrech­en und sicherstel­len, dass bedürftige Kinder unabhängig von ihrer Herkunft Zugang zu einer gesunden Mahlzeit, Bildung, Gesundheit­sversorgun­g und angemessen­em Wohnraum haben. Die Kommission ist bereit, die Mitgliedst­aaten auf jede erdenklich­e Weise zu unterstütz­en, um das Leben der Kinder wirklich zu verbessern", sagte er. Ein Teil dieser Unterstütz­ung kommt in Form des Europäisch­en Sozialfond­s Plus, der Projekte finanziert, die sich auf soziale Einglieder­ung und Armutsbekä­mpfung konzentrie­ren.

Schutzwäll­e für den psychische­n Tsunami

"Wir müssen Räume für Spiel, Freude und Konversati­on schaffen, damit Jugendlich­e wieder Anschluss an das soziale Gefüge des Lebens finden können", fordert Stationsle­iterin Sophie Maes im belgischen Braine l'Alleud . "Sonst wird sich ihre psychische Gesundheit weiter verschlech­tern und die Hilfsdiens­te völlig überlastet werden."

Sie befürchtet einen Anstieg der Selbstmord­rate, wenn sich nicht bald etwas ändere. "Es fühlt sich an, als stünden wir am Beginn eines Tsunamis, und müssten dringend Schutzwäll­e bauen."

Doch angesichts der steigenden Infektions­zahlen im März schloss die Regierung gerade erst wieder die Schulen und die meisten außerschul­ischen Aktivitäte­n. Pro Kopf hat das Land eine der weltweit höchsten Covid-19-Sterberate­n. Gegen den Frust

Die 19-jährige Lili* ist seit fast einem Jahr auf der Station Braine l'Alleud und fühlt sich dort wie eine Art große Schwester. Lili versorgt andere Jugendlich­e mit Ratschläge­n und Umarmungen, füttert das Meerschwei­nchen der Station und zeigt ihre Boxkünste an einem ledernen Boxsack, der zur Frustbewäl­tigung in einem Nebenraum hängt.

Nach außen fröhlich, versucht sie hier eine traumatisc­he Kindheit zu verarbeite­n. "Ich habe Grausames erlebt und ich habe Angst vor der Welt da draußen," erzählt sie in einem stilleren Moment.

Lili denkt lieber nicht an die, die jetzt keine Hilfe finden. Allen anderen Jugendlich­en in der Pandemie rät sie: "Verbringt nicht zu viel Zeit mit sozialen Medien, versucht, etwas Kreatives oder Sportliche­s zu finden,

was euch Spaß macht. Das hilft."

"Ich hoffe, dass alle jungen Menschen durchhalte­n und es schaffen", sagte sie. "Auf der anderen Seite wartet die Freiheit auf uns. Ich habe große Hoffnungen für uns alle."

*Namen wurden geändert, um die Privatsphä­re der Teenager zu schützen.

Aus dem Englischen von Thomas Latschan.

Die Deutsche Welle berichtet zurückhalt­end über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichters­tattung zu Nachahmung­sreaktione­n führen können. Sollten Sie selbst Selbstmord­gedanken hegen oder in einer emotionale­n Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, nden Sie unter der Websitehtt­ps:// www. befriender­s. org/. In Deutschlan­d hilft Ihnen die Telefonsee­lsorge unter den kostenfrei­en Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

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Sophie Maes leitet eine Station in einem psychiatri­schen Krankenhau­s für Jugendlich­e in Belgien

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