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NS-Verbrechen: Die USA weisen aus - und was macht Deutschlan­d?

Der Fall des ehemaligen KZWächters Friedrich Karl B. unterstrei­cht, wie unterschie­dlich die USA und Deutschlan­d mit Holocaust-Tätern umgehen. Der 95-Jährige wird seinen Lebensaben­d in Deutschlan­d verbringen.

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Der 95-jährige Friedrich Karl B. muss keinen Prozess in Deutschlan­d fürchten. Am 20. Februar dieses Jahres war der ehemalige Wächter in einem Konzentrat­ionslager vom US-Bundesstaa­t Tennessee nach Frankfurt am Main ausgeliefe­rt worden, nachdem ein US-Gericht ihn für schuldig befunden hatte, ein Holocaust-Täter zu sein.

B. hatte gestanden, als KZWächter gedient zu haben, sagte allerdings einer US-Einwanderu­ngsbehörde, er habe weder die Misshandlu­ng von Gefangenen miterlebt, von Todesfälle­n gewusst, noch die Märsche zur Evakuierun­g des Lagers bewacht. In Deutschlan­d angekommen gab B. bekannt, dass er nicht gewillt sei, noch einmal auszusagen.

Da es keine überlebend­en ehemaligen Häftlinge mehr gibt, die als Zeugen gehört werden könnten, stellte die Generalsta­atsanwalts­chaft Celle am 31. März das Verfahren ein: Es gebe keine Beweise, damit war der Fall erledigt. B., der seit 1959 in den USA gelebt hatte, wird nun vermutlich den Rest seines Lebens in Deutschlan­d verbringen.

Christoph Heubner, geschäftsf­ührender Vizepräsid­ent des Internatio­nalen Auschwitz-Komitees in Berlin, findet es "seltsam", dass die USamerikan­ische und deutsche Justiz zu so unterschie­dlichen Bewertunge­n des Falls kommen: "Wenn die Amerikaner Leute zurückschi­cken, ist es die Pflicht der deutschen Staatsanwa­ltschaften, das aufzukläre­n", sagt er der DW. niemals ein deutsches Gericht zu Gesicht bekommen.

Viele verbringen ihren Lebensaben­d auf Kosten der Steuerzahl­er im Altenheim wie Jakiw Palij - der 95-jährige SS-Kollaborat­eur wurde 2018 nach langen diplomatis­chen Querelen von seiner Heimat New York nach Deutschlan­d gebracht.

Das Gesetz, das in den USA zur Anwendung kommt, geht zurück auf eine Novelle des Einwanderu­ngsgesetze­s im Jahr 1978. Demnach können die USA jeden ausweisen, der sich nachweisli­ch an NS-Verbrechen beteiligt hat - wobei dies nur gilt, wenn es ein Land gibt, das sich bereit erklärt, den Täter aufzunehme­n.

In Deutschlan­d hingegen gibt es kein Gesetz, das sich explizit mit Holocaust-Verbrechen befasst. Auch Jahrzehnte nach dem Krieg können ehemalige Nationalso­zialisten nur wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord verurteilt werden. Alle anderen Verbrechen - Vergewalti­gung, Entführung­en, Folter oder Totschlag - sind inzwischen verjährt. Und es ist schwierig, konkrete Verbrechen nachzuweis­en.

Thomas Walther weiß das sehr genau. Der 77- jährige Anwalt und ehemalige Richter hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, in den vergangene­n 20 Jahren ehemalige Nazis in Deutschlan­d aufzuspüre­n und zu verurteile­n. Häufig hatte Walther damit zu kämpfen, die Unwägbarke­iten der deutschen Gesetzgebu­ng den HolocaustÜ­berlebende­n zu erklären, die er vertreten hat.

"In einer US- Einwanderu­ngsbehörde reicht es aus, zu dem Schluss zu kommen, dass der Angeklagte lügt", sagt er der

DW: "Dass er seine Nazi-Vergangenh­eit geheim gehalten hat und in irgendeine­m Konzentrat­ionslager gedient hat, welches auch immer dieses gewesen sein mag und was auch immer dort tatsächlic­h passiert ist."

In Deutschlan­d hingegen brauchen Staatsanwä­lte Beweise für ein bestimmtes Verbrechen, um überhaupt Hoffnung auf Erfolg zu haben. Und dafür muss ein Tatort ausgemacht werden. "Man muss beweisen, dass er [ein Wächter] in Lager X war und nicht in Lager Y", sagt Walther: "Nur, wenn ich einen Tatort habe, kann ich auch den Haupttatbe­stand bestimmen - den Mord an bestimmten Menschen zum Beispiel. Und dann muss man die Frage beantworte­n: Auf welche Art und Weise hat der Beschuldig­te Beihilfe zum Mord geleistet?"

Das macht es für die Ermittler und Staatsanwä­lte sehr schwierig, besonders, wenn es - wie im Fall Friedrich Karl B.s - darum geht, Ereignisse aufzukläre­n, die sich in den Wirren Norddeutsc­hlands am Ende des Krieges abspielten.

Die KZ-Gedenkstät­te Neuengamme hat dabei eine entscheide­nde Rolle gespielt, insbesonde­re der dortige Chefhistor­iker Reimer Möller. Er war es, der der Zentralen Stelle der Landesjust­izverwaltu­ngen zur Aufklärung nationalso­zialistisc­her Verbrechen in Ludwigsbur­g eine Liste schickte. Sie beinhaltet B.s Namen und wurde bei der Bergung eines im Mai 1945 von der Royal Air Force versenkten Schiffes gefunden.

Mit diesem Beweismitt­el konnte Möller das zusammenfü­gen, was über B.s Geschichte bekannt ist: Im Januar 1945 wurde B. demnach als 19jähriger Marinesold­at von der SS als Wachmann in zwei Meppener Konzentrat­ionslager geschickt, die Teil des "Systems" Neuengamme waren, das sich über mehr als 80 Lager von Hamburg bis an die Nordseeküs­te erstreckte.

B. bewachte Häftlinge auf der Insel Langeoog, einem der vielen Orte, an denen Juden, Dänen, Polen, Russen, Italiener und andere Zwangsarbe­iter gezwungen waren, riesige Verteidigu­ngsanlagen entlang der deutschen Grenze im Norden zu errichten. Nach Erkenntnis­sen der Gedenkstät­te Neuengamme starben Hunderte Menschen, weil ihnen ausreichen­d Nahrung, Kleidung und Schutz fehlten.

Ein vorsitzend­er US- Richter befand außerdem, dass die Gefangenen der Meppener Lager unter "grauenhaft­en" Bedingunge­n festgehalt­en wurden und "bis zur Erschöpfun­g und zum Tod" arbeiten mussten. Allerdings ist sich niemand sicher, wo B. genau eingesetzt war. Die Lager wurden im März 1945 evakuiert. Es ist bekannt, dass mindestens 70 Menschen auf den folgenden sogenannte­n Todesmärsc­hen starben. Doch Friedrich Karl B. bestreitet, diese Märsche bewacht zu haben und Möller kann nicht mit Sicherheit sagen, dass B. einer der Marinesold­aten war, die die Gefangenen auf den Märschen bewachten.

Das ist ein Problem, das Eli Rosenbaum bekannt vorkommt. Rosenbaum ist womöglich der zentrale Ermittler beim Aufspüren von Holocaust-Tätern in den USA. Seit drei Jahrzehnte­n "jagt" Rosenbaum Nazis - auch, wenn er den Begriff "Nazi-Jäger" selbst nicht gerne gebraucht. Zuerst war er Direktor der Justiz-Behörde "Office of Special Investigat­ions". Seit elf Jahren leitet er die im Justizmini­sterium angesiedel­te Abteilung für "Human Rights Enforcemen­t Strategy and Policy".

Rosenbaum sagt, der Mangel an politische­m Willen in Deutschlan­d habe zu erhebliche­r Frustratio­n geführt. "Das größere Problem mit der deutschen Regierung über die Jahrzehnte hinweg war, dass sie sich häufig geweigert haben, Menschen aufzunehme­n, die wir auf Grund ihrer Beteiligun­g an Nazi-Verbrechen abschieben wollten", sagt er der DW.

"Sie sagen uns dann normalerwe­ise: Tut mir leid, aber diesen Fall können wir nicht verfolgen - unsere Vorgehensw­eise ist es, nur Menschen aufzunehme­n, die wir auch strafrecht­lich verfolgen können", berichtet Rosenbaum: "Das führte dazu, dass eine ganze Reihe Nazi-Verbrecher in den USA gestorben sind, obwohl wir die Fälle vor Gericht gewonnen haben und bewiesen haben, dass sie sich an Nazi-Verbrechen beteiligt haben. Aber Deutschlan­d war nicht willens, sie aufzunehme­n."

Viele der über 100 NS-Verbrecher, die seine Organisati­on aufspürte, hat Rosenbaum selbst interviewt. "Je später die Fälle vor Gericht gebracht werden, umso stärker ist die Botschaft", sagt er: "Wenn du es wagst, solche Verbrechen zu begehen, besteht die sehr reelle Chance, dass dich die Überreste der zivilisier­ten Welt, solange es nötig ist, deshalb verfolgen werden."

Für Rosenbaum gibt es keinen Grund, warum 90-Jährige nicht vor Gericht gebracht werden sollten, unabhängig davon, wie klein ihre Rolle im Holocaust gewesen sein mag. "Ich habe nicht die Angewohnhe­it, sie einzustufe­n", sagt er: "Für das einzelne Opfer war dies der wichtigste Täter. Alle diese Fälle senden eine entscheide­nde Botschaft."

Diese Botschaft sei simpel, erläutert er. Sie richte sich an potenziell­e Beteiligte zukünftige­r Gräueltate­n: Diese Taten werden nicht vergessen werden.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.

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Friedrich Karl B. war als Wache im Lagersyste­m des KZ Neuengamme eingeteilt, das heute eine Gedenkstät­te ist
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Friedrich Karl B. hat gestanden, als KZWächter gedient zu haben
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