Deutsche Welle (German edition)
Klarheit für illegale Pflegekräfte dank Corona?
Über 600.000 Pflegekräfte arbeiten illegal in Deutschland. Fast alle stammen aus Osteuropa. Fast alle sind Frauen. Eine vom Bundesgesundheitsminister angekündigte Reform würde ihre Arbeitsbedingungen massiv verbessern.
Kein deutscher Arbeitsvertrag, keine deutsche Krankenversicherung, Bezahlung in Bar und nicht besonders viel. Fast eine dreiviertel Million Frauen, meist aus Polen, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien, pflegen ältere Deutsche, in deren Häusern sie wohnen. Ohne diese Frauen gäbe es einen Versorgungsnotstand. Trotzdem existieren die meisten von ihnen offiziell nicht.
Schätzungsweise 90 Prozent der häuslichen Betreuung in Deutschland wird illegal geleistet. Drei Viertel der ca. 4,1 Millionen Pflegebedürftigen wollen lieber zu Hause gepflegt werden, als ins Heim zu gehen. Die Nachfrage nach häuslicher Pflege boomt also - aber bisher hat sich keine deutsche Regierung zugetraut, diese Branche zu regeln. Illegale Vermittlungsagenturen sind daher weiterhin billiger als ihre legale Konkurrenz, da sie alle Sozialabgaben umgehen und keinen Mindestlohn zahlen.
"Das Beschäftigungsmodell, für jemanden zu arbeiten, in dessen Haus man auch wohnt, ist von dem Rechtsstaat noch nicht anerkannt worden, daher kann es auch keine Rechtssicherheit für die osteuropäischen Betreuungspersonen geben", erklärt Rechtsanwalt Frederic Seebohm, Geschäftsführer des Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege e.V. (VHBP).
Die nicht angemeldete Beschäftigung einer Person und die damit verbundene Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen ist eine Straftat, betont Seebohm. Die ungefähr - offizielle Zahlen gibt es nicht - 300.000 Familien, die in dieser "Grauzone" Betreuungspersonal beschäftigen, seien sich überwiegend darüber im Klaren, dass sie gegen das Gesetz verstoßen.
Die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn angekündigte P f l e g e re f o r m "könnte ein Game- Changer sein", so der VHBPGeschäftsführer weiter. Ihre Eckpunkte präsentierte Spahn im Oktober 2020 mit der Anmerkung: "Pflege ist die soziale Frage der 20er Jahre". Bisher liegt noch kein Gesetzentwurf vor, der im Bundestag vorgestellt werden könnte, aber der Arbeitsentwurf, der am 16.03.2021 freigegeben wurde, sieht eine Anerkennung der häuslichen Betreuung als reguläres Beschäftigungsmodell vor. Das wäre ein Schritt in Richtung einer Regulierung des Sektors, auch wenn die Rechtsgrundlage noch weiter ausgearbeitet werden muss.
Österreich ist Deutschland bei der Regulierung der häuslichen Betreuung weit voraus. Das "Hausbetreuungsgesetz" sieht vor, dass sich häusliche Betreuungskräfte als Selbstständige anmelden dürfen. So macht es Anna Tadrzak, eine 50-jährige Betreuerin aus Polen, die ihren Job über die Wiener Agentur "Caritas rundum betreut" gefunden hat. Sie arbeitet in Schichten von zwei bis vier Wochen; dann macht sie eine ebenso lange Pause.
Das funktioniere gut, sagt Anna Tadrzak, denn die häusliche Betreuung in der Praxis bedeute 24 Stunden am Tag Dienst. "Wenn der Klient fünfmal in der Nacht nach dir ruft, dann kümmerst du dich fünfmal in der Nacht um ihn. Jeder Tag ist anders", sagt sie. Auch die Art und der Umfang der Arbeit variiere mit den Bedürfnissen und Erwartungen der Familien: "Die Kunden wollen nicht nur Betreuungskräfte, sondern auch Köche, Reinigungskräfte und Einkäufer. Manchmal gibt man den kleinen Finger und sie nehmen den ganzen Arm - und du stehst am Ende ohne jegliche Privatsphäre da."
Die Schwierigkeit, der nicht regulierten Pflegearbeit zeitliche und aufgabenbezogene Grenzen zu setzen, führt dazu, dass viele Betreuende Opfer von Ausbeutung werden. Das Geschäftsmodell der Agenturen, die illegale Pflegekräfte vermitteln, lebt von Deutschlands Nähe zu EULändern mit deutlich niedrigeren Durchschnittseinkommen, deren Bürger Freizügigkeit genießen. In Deutschland ansässige Agenturen gehen Partnerschaften mit Organisationen in Osteuropa ein, die die Anwerbung übernehmen - und vermitteln die Betreuungskräfte dann an deutsche Familien, ohne sie bei der örtlichen Gemeinde anzumelden, eine Krankenversicherung abzuschließen oder ihre Qualifikationen zu prüfen.
"Die Corona-Pandemie hat die Reform der Pflege ausgelöst", spitzt Frederic Seebohm zu. Tatsächlich hatten die abrupten Grenzschließungen während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 dazu geführt, dass Pflegekräfte, die sich im Ausland aufhielten, nur schwer wieder zu ihren Patient*innen in Deutschland kommen konnten. Die Folge: Auch illegal arbeitende Betreuende mussten als systemrelevant anerkannt werden. Paradox - schließlich war es der Staat, der gegenüber der nicht angemeldet arbeitenden Mehrheit der Pflegenden lange ein Auge zugedrückt hatte.
Ebenso wurde es im ersten Lockdown erforderlich, Betreuungskräften Zugang zum deutschen Gesundheitssystem zu ermöglichen. Nicht nur, weil manche nun selbst medizinische Behandlung wegen COVID-19 benötigten; sondern auch, weil man ohne Test- und Impfberechtigung riskiert hätte, dass Pflegende diejenigen besonders durch Corona gefährdeten Menschen anstecken könnten, die sie betreuen.
Die Dringlichkeit, mit der die Reform des Betreuungssektors aufgrund der Corona-Krise nun angegangen werden muss, ist jedoch nur ein Teil des Problems. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich übersteigt die Nachfrage nach Betreuungskräften das Angebot bei weitem: "In Österreich werden bis 2030 zwischen 80.000 und 100.000 Betreuungskräfte fehlen", sagt Stefanie ZollnerRieder, Fachreferentin bei "Caritas rundum betreut". "Das österreichische Modell funktionierte bisher ganz gut - aber Corona hat uns gezeigt, dass es widerstandsfähiger gemacht werden muss."
Deutschland hat einen der höchsten Anteile an über 65Jährigen in der EU, und die relativ niedrige Geburtenrate (1,4 Kinder pro Frau) sowie eine hohe Lebenserwartung (ca.